Rückgang der Lieferungen

Bundesregierung ruft Alarmstufe des Notfallplans Gas aus - Habeck: "Gas nun knappes Gut in Deutschland"

23.06.22 13:38 Uhr

Bundesregierung ruft Alarmstufe des Notfallplans Gas aus - Habeck: "Gas nun knappes Gut in Deutschland" | finanzen.net

Das Bundeswirtschaftsministerium hat am Donnerstag nach Abstimmung innerhalb der Bundesregierung die zweite Stufe des Notfallplans Gas, die sogenannte Alarmstufe, ausgerufen.

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Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte in Berlin: "Aktuell ist die Versorgungssicherheit gewährleistet, aber die Lage ist angespannt." Die aktuelle Lage dürfe "uns nicht in einer falschen Sicherheit wiegen", warnte er. Der Notfallplan Gas hat laut dem Ministerium drei Stufen, die dritte ist die Notfallstufe.

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Grund für die Ausrufung der Alarmstufe sei die seit dem 14. Juni bestehende Kürzung der Gaslieferungen aus Russland und das weiterhin hohe Preisniveau am Gasmarkt. Zwar seien die Gasspeicher mit 58 Prozent stärker gefüllt als im Vorjahr. Doch sollten die russischen Gaslieferungen über die Nord Stream 1-Leitung weiterhin auf dem niedrigen Niveau von 40 Prozent verharren, sei ein Speicherstand von 90 Prozent bis Dezember kaum mehr ohne zusätzliche Maßnahmen erreichbar. Dies zeigten Berechnungen der Bundesnetzagentur. Damit liege "aktuell eine Störung der Gasversorgung vor, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt".

"Auch wenn aktuell noch Gasmengen am Markt beschafft werden können und noch eingespeichert wird: Die Lage ist ernst, und der Winter wird kommen", sagte Habeck. "Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Drosselung der Gaslieferungen ist ein ökonomischer Angriff Putins auf uns." Es sei offenkundig Putins Strategie, Unsicherheit zu schüren, die Preise zu treiben "und uns als Gesellschaft zu spalten". Dagegen wehre Deutschland sich. "Es wird aber ein steiniger Weg, den wir jetzt als Land gehen müssen", sagte er. "Auch wenn man es noch nicht so spürt: Wir sind in einer Gaskrise."

Befüllung der Gasspeicher hat oberste Priorität

Gas sei von nun an ein knappes Gut. Die Preise seien jetzt schon hoch, und man müsse sich auf weitere Anstiege gefasst machen. Das werde sich auf die industrielle Produktion auswirken und für viele Verbraucherinnen und Verbraucher eine große Last werden. "Es ist ein externer Schock", stellte der Wirtschaftsminister fest. Die Regierung setze alles daran, die Folgen zu mildern und die Versorgungssicherheit aufrecht zu erhalten. Die Befüllung der Gasspeicher habe jetzt oberste Priorität. Industrie, öffentliche Einrichtungen und Privathaushalte sollten "den Gasverbrauch möglichst weiter reduzieren, damit wir über den Winter kommen".

Um den Gasverbrauch in der Stromerzeugung zu senken, werde die Bundesregierung, wie am 19. Juni angekündigt, zusätzliche Kohlekraftwerke aus der Bereitschaft abrufen. Dazu hat das Ministerium nach eigenen Angaben bereits die Kraftwerksbetreiber angeschrieben und gebeten, die nötigen Schritte zu veranlassen. Das entsprechende Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz, das den Abruf der Gasersatz-Reserve ermögliche, sei derzeit im parlamentarischen Verfahren. Zugleich habe die Regierung eine Kreditlinie von zunächst 15 Milliarden Euro zur Speicherbefüllung zur Verfügung gestellt, abgesichert durch eine Garantie des Bundes.

Start für Gasauktionsmodell

Noch im Sommer solle zudem ein Gasauktionsmodell an den Start gehen, das industrielle Gasverbraucher anreizt, Gas einzusparen. "Wenn darüber hinaus weitere Maßnahmen nötig sind, werden wir sie ergreifen", sagte Habeck. Um die Gaskrise gemeinsam zu bewältigen, werde er in den nächsten Tagen den Austausch mit der Wirtschaft, seinen Amtskolleginnen und Kollegen in den Ländern und der Europäischen Union, aber auch mit Verbraucherschützern, Gewerkschaften und Umweltverbänden noch einmal intensivieren.

Habeck: 'Gas ist von nun an ein knappes Gut in Deutschland'

Gas ist nach Worten von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck "von nun an ein knappes Gut in Deutschland". "Dies sage ich, obwohl die Versorgungssicherheit aktuell gewährleistet ist", sagte Habeck am Donnerstag in Berlin. "Auch wenn aktuell noch Gasmengen am Markt beschafft werden können und noch eingespeichert wird: Die Lage ist ernst, und der Winter wird kommen."

"Es sind die Versäumnisse der letzten Dekade, die uns jetzt in diese Bedrängnisse geführt haben", sagte der Minister. Man stünde anders da, wenn man in den vergangenen Jahren bei der Energieeffizienz und beim Ausbau der erneuerbaren Energien wirklich vorangekommen wäre.

Habeck: Hoffentlich nie Gas-Rationierung für Industrie

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will in der aktuellen Gaskrise Rationierungen für die Industrie nach Möglichkeit vermeiden. "Das soll nicht passieren, in keinem Monat im besten Fall", sagte der Grünen-Politiker am Donnerstag in Berlin, fügte aber hinzu: "Ich kann es natürlich nicht ausschließen, weil es so voraussetzungsreich ist, was wir tun. Aber es ist kein Szenario, auf das wir hinarbeiten - im Gegenteil."

Alle Maßnahmen seien darauf ausgerichtet, die Marktkräfte so weit wie möglich wirksam zu halten und andere Alternativen zu schaffen, sagte Habeck. Es gehe darum, Einsparungen vorzunehmen, auf andere Energieträger auszuweichen und die Infrastruktur auszubauen, "um dieses Szenario abzuwenden".

Bayerns Wirtschaftsminister erwartet Ausrufung der Notfallstufe Gas

Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger erwartet wegen der deutlich verringerten Gaslieferungen aus Russland die zeitnahe Ausrufung der Notfallstufe Gas. "Die Ausrufung der Alarmstufe Gas ist längst überfällig. Wir brauchen aber zeitnah die Notfallstufe und gezielte Maßnahmen zum Einsparen von Gas gegen Entschädigung, unbürokratisches Umsteuern auf andere Energiequellen und weniger Vorschriften für Erneuerbare Energien", sagte der Freie-Wähler-Chef am Donnerstag in München.

Das gelte auch für Verfahren zum Artenschutz, beispielsweise bei Wasserkraft und Wind. "Wir brauchen auch eine begrenzte Verlängerung der AKW-Laufzeiten und schließlich: ein schnellstmögliches Hochfahren der Wasserstoffwirtschaft", betonte Aiwanger

Der Notfallplan hat drei Stufen: Die jetzt ausgerufene Alarmstufe ist die zweite. Die dritte wäre die Notfallstufe. Die Folge des Notfalls ist, dass der Staat einschreiten muss - um insbesondere die Versorgung der "geschützten Kunden" sicherzustellen: das sind private Haushalte, aber zum Beispiel auch Krankenhäuser.

Energiewirtschaft hält Ausrufung der Gas-Alarmstufe für "richtig"

Die Energiewirtschaft hat die Ausrufung der Alarmstufe im Notfallplan Gas durch die Bundesregierung als "richtig" bezeichnet. "Es geht darum, alles für möglichst hohe Speicherfüllstände zu tun und die Einspeicherziele zu erreichen", sagte die Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), Kerstin Andreae, am Donnerstag in Berlin. Derzeit sei die Versorgung gewährleistet. "Aber wir müssen unseren Blick auf den kommenden Winter richten."

Nötig sei jetzt eine "gemeinsame Kraftanstrengung". Die Bundesregierung habe eine Reihe von Instrumenten zur Stärkung der Versorgungssicherheit eingeführt. "Besonders wichtig ist eine enge europäische Abstimmung", erklärte Andreae.

Wie sich die Ausrufung der Alarmstufe auf die Endkundenpreise auswirken werde, lasse sich derzeit noch nicht genau abschätzen. "Klar ist, dass aufgrund des ohnehin sehr hohen Börsenpreisniveaus der Druck auf die Gaspreise weiter steigen wird."

Top-Ökonomen zur Alarmstufe - "Die Lage ist bedrohlich"

Ökonomen befürchten wegen ausbleibender Gaslieferungen eine schwere Rezession im Winter und fordern daher Anreize zum Sparen sowie Entlastungen von Geringverdienern.

"Mit der Ausrufung der Alarmstufe ist nun klar: Die Lage auf dem Gasmarkt ist bedrohlich", sagte der Regierungsberater und Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Jens Südekum, am Donnerstag der Nachrichtenagentur Reuters. Ein unmittelbarer Zusammenbruch der Gasversorgung drohe zwar nicht. "Aber wir können nicht mehr hinreichend Gas einspeichern - und das werden wir im Winter zu spüren bekommen", warnte Südekum. "Es drohen dann eine Rationierung des Gasbezugs und damit Produktionsstopps in der Industrie. Eine schwere Rezession könnte die Folge sein."

Das sieht auch Sebastian Dullien so, der Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). "Natürlich steht die Konjunktur bereits auf Messers Schneide", sagte der Ökonom. Sein Haus rechne zwar mit einem Wirtschaftswachstum von 1,9 Prozent in diesem Jahr - "aber unter der Annahme, dass der Gasfluss nicht unterbrochen wird", wie er betonte. "Wenn doch, dann sind wir relativ schnell in einer Rezession." Bei einem Gaslieferstopp drohe eine Verdoppelung oder gar Verdreifachung der Gasrechnung. Das würde den Konsum treffen. "Zweistellige Inflationsraten wären dann schnell da", sagte Dullien.

Südekum fordert deshalb, Energie wo immer es geht einzusparen. "Deshalb müssen jetzt handfeste Anreize für die Haushalte auf den Tisch", sagte er und brachte einen Energiesparbonus ins Spiel. "Moralische Sparappelle alleine reichen nicht mehr." Nebenbei würde ein solcher Bonus auch etwas Druck von den Preisen nehmen. Daneben müsse die Bundesregierung die nächsten Entlastungspakete vorbereiten. "Wenn die Gaspreise so in die Höhe schießen, werden viele Familien mit kleinen Einkommen in eine finanzielle Schieflage kommen", sagte der Ökonom. "Hier sind gezielte Entlastungen notwendig, aber ohne die Anreize zum Energiesparen zu verwässern."

Ganz ähnlich schätzt das IMK-Direktor Dullien ein. "Wir werden eine Reihe von sozialen Problemen bekommen", warnte er. "Die Regierung sollte den Grundverbrauch von Gas subventionieren und den Preis für diesen Grundverbrauch deckeln, um übermäßige soziale Härten zu vermeiden."

Uniper: Gas-Alarmstufe reicht womöglich nicht

Die Ausrufung der Alarmstufe bei der Gasversorgung in Deutschland reicht nach Einschätzung des Energiekonzern Uniper womöglich nicht aus.

"Es ist wichtig, dass mit der so genannten Alarmstufe sehr zügig Klarheit geschaffen wird, welche Kosten durch die derzeit angespannte Versorgungslage entstehen", sagte Vorstandschef Klaus-Dieter Maubach am Donnerstag. Klar sei auch, dass dies für diesen Winter keine Lösung sei, wenn die Versorgungslage so bleibe oder sich über die kommenden Wochen weiter verschärfe. "Die Gasspeicherfüllstände sind eine 'Fieberkurve' für die Versorgungssicherheit Deutschlands. Wenn diese 'Fiebermessung' zeigt, dass eine Auffüllung der Gasspeicher bis Oktober nicht wie gesetzlich vorgesehen möglich ist, sind weitere Schritte unmittelbar und dringend geboten."

BERLIN (Dow Jones/dpa-AFX/Reuters)

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