Europa-Politik: Alte Männer groß in Fahrt
Merkel und Steinbrück haben die Schuldenkrise im Wahlkampf geschickt umschifft. Und so findet die Debatte um die Zukunft Europas eben auf der MS Deutschland statt und wird von alten Expolitikern und Entscheidern a. D. geführt. Schade. Eine Reportage vom Traumschiff.
von Michael Braun, Euro am Sonntag
Dem langweiligsten Bundestagswahlkampf der Nachwendezeit soll in Hamburg Dampf gemacht werden: am Großen Grasbrook, Hafencity West, wo die großen Pötte festmachen. Hier hat die MS „Deutschland“, das „Traumschiff“ der ZDF-Fernsehnation, ihre Gangway angedockt und den roten Teppich ausgerollt — für einen Bordkongress mit der Polit- und Wirtschaftselite des Landes, die lustschippernd auf der Deutschen Bucht außerparlamentarisch Opposition machen soll.
Das ist keine schlechte Idee. Die Vorwochen der Bundestagswahl am 22. September zeichneten sich vor allem durch ein Fehlen politischer Kontroversen aus. Ein Armutszeugnis gegen Ende einer Legislaturperiode, die reichlich Stoff für kernige Debatten bot — von der chronisch schwelenden Eurokrise mit ihren im Kern ungelösten Problemen über die Bankenunion bis zur gut gemeinten, schlecht gemachten Energiewende. Eigentlich. Die wichtigsten Aufreger waren stattdessen Stefan Raabs Schöpfung des Berufsbilds King of Kotelett, Merkels „Schlandkette“ und Steinbrücks Stinkefinger. Um es mit Gewerkschaftsurgestein Ursula Engelen-Kefer, ebenfalls in die Hafencity gereist, zu sagen: „Dieser Wahlkampf hat nicht so viel Profil gezeigt, wie er hätte zeigen sollen.“
Es geht auch anders, sagte sich die Deilmann-Reederei und holte wenige Tage vor dem Wahltag 15 illustre Herrschaften an Bord des 175 Meter langen Schiffes, die Rang und Namen haben — oder wenigstens mal hatten und nun mit „Ex“ oder „a. D.“ auf der Visitenkarte auftreten. Die Leitmotive der „Traumschiff“-Reihe — triviale Herzschmerzgeschichten an exotischen Orten mit Wohlfühldudeldu und Happy End — treten für vier Tage in den Hintergrund. Stattdessen sollen prominente Schwergewichte auf der Reise „Spätsommerlicher Inselglanz“ die rau-herbstliche Nordsee und die Fadheit der politischen Diskussion durchkreuzen.
Die alten Männer und das Meer
„Weise große alte Männer“ verheißt Moderator Guido Knopp folgerichtig, „die nichts mehr werden müssen und deshalb frei reden können.“ Und tatsächlich: Altherren, bei denen man auf Vornamen verzichten kann, treten unter Deck in Rudeln auf. Blüm und Eichel, Beckstein und Biedenkopf, Seiters und Solms, ein halbes Dutzend weitere. Das ist, versteht sich, kein ganz schwaches Teilnehmerfeld und sorgt für charmante Überraschungseffekte — etwa wenn Normalobürger bei der obligatorischen Seenotrettungsübung mit Ex-Ministerpräsident Bernhard Vogel in Schwimmweste auf Deck 7 fachsimpeln oder gleich nach Günther Beckstein und Hans-Olaf Henkel ans Urinal auf dem Admiralsdeck dürfen.
Allerdings ist die Debatte unausgewogen. CDU/CSU, SPD und FDP sind vertreten, Grün, Links-rot, Orange, Blau dagegen nicht. Das Durchschnittsalter liegt bei 75. Nur Engelen-Kefer ist kein Mann. Die Homogenität sorgt im ersten Talk —„Bringt die Wahl den Wechsel?“ — für große Einigkeit im plüschroten, mit Marmor, Messing und Lüsterglanz hübsch gemachten Kaisersaal.
Klaus Bresser, 77, Ex-ZDF-Chefredakteur und Initiator der Veranstaltung, moniert zwar in seinem Eröffnungsvortrag, dass „es an Mut und Tatkraft in Berlin fehlt“. Dass „Schwurbel-Angela“ weiterregieren wird, ist aber allen klar, ob nun mit schwarz-gelbem Ticket oder in großer Koalition. „Man ist sich schrecklich einig“, sagt ein Unternehmer aus Westfalen belustigt-irritiert, der sich an Deck die Füße vertritt.
Wäre da nicht das dominierende Politikthema der vergangenen vier Jahre, an dem die Fronten auf hoher See schließlich aufbrechen, die Höflichkeiten enden: die europäische Schuldenkrise.
Die größte Angriffsfläche liefert bei diesem Stichwort Henkel, Sympathisant der Alternative für Deutschland (AfD) und Kritiker der Rettungsmaßnahmen der Regierung. Viele der gut 400 Gäste auf dem ausgebuchten Schiff sind vor allem seinetwegen gekommen. „Der sagt wenigstens, was Sache ist“, meint eine 52-jährige Verlegerin aus dem Bergischen Land.
Die Alternative Henkel
Die Lust des Publikums auf Meinungsverschiedenheiten wird nicht enttäuscht. Henkel ist zufrieden, eine „Diskussion auf der MS ‚Deutschland‘ zu führen, die wir im Bundestag nicht haben“. Er habe „überhaupt kein Vertrauen in die Politik“, sagt er mürrisch, spricht von einem „System der organisierten Verantwortungslosigkeit“. „Es ist Zeit, den Euro nicht als Goldenes Kalb zu betrachten, sondern über Alternativen nachzudenken.“
Henkel geht keineswegs als Einziger mit der europäischen Gemeinschaftswährung ins Gericht. Die Euphorie sei in der Gründungszeit des Euro „so groß gewesen, dass das Denken aussetzte“, erinnert sich Kurt Biedenkopf, Ex-Ministerpräsident von Sachsen. Die Eurokrise habe Deutschland noch nichts gekostet, aber „wenn die Bürgschaften fällig würden, hätten wir alle gemeinsam ein Riesenproblem“ — schließlich „steigen die Kosten eines ungelösten Problems mit dem Quadrat der verlorenen Zeit“. Was nicht heißt, dass der CDU-Mann das politische Lager wechseln würde. Die AfD verbreite schlicht „Unfug“.
Die entscheidende Frage stellt Engelen-Kefer, langjähriges Mitglied im SPD-Vorstand. „Uns wird von der Politik laufend Sand in die Augen gestreut“, moniert sie. „Es wird uns nicht klar gesagt, wo wir in den Finanzen stehen. Wir werden ständig in die Schulden reingetrieben — in Griechenland, in der EU —, aber es wird nicht gesagt, wer die Schulden überhaupt gemacht hat. Wann werden wir in welchem Ausmaß in Haftung genommen?“
Michael Stürmer, Historiker und Journalist, fügt an, dass die aktuelle Politik „Muddling-through“ sei, ein Sich-Durchwursteln. So sieht es auch ein Großteil des applaudierenden Publikums, das für die Reise mit der Nummer 444 und solche Sätze ab 890 Euro pro Kopf überwies.
„Die Idee, wir haben nur Garantien und nichts wird fällig, ist ein Märchen“, wirft ein Zuschauer ein — um von den Eurobefürwortern auf dem Podium sogleich eines Besseren belehrt zu werden. Es sei „eine kluge Investition für die Deutschen, in Europa zu investieren“, findet Vogel. „Wir sind zurückgekommen in ein Geldzähler-Europa“, nörgelt Norbert Blüm, Bundesarbeitsminister von 1982 bis 1998. „Jetzt sind wir bei Blüms Märchen“, kontert Ex-Bertelsmann-Chef Mark Wössner. Henkel lacht über „euromantische Politiker“, für die „Herr Blüm ein Paradebeispiel ist“.
Applaus der Habenden
Das Traumschiff-Publikum wiederum — in der großen Mehrheit gut situiert und ähnlich betagt wie die Referenten — verfolgt den Zwist mit verschmitztem Vergnügen und einigem Kopfschütteln, macht aber klatschend deutlich, an welcher Stelle der Schuh wirklich drückt: bei
den Niedrigzinsen infolge der Eurorettungsmaßnahmen.
Wann immer die Rede auf die maue Rendite der Ersparnisse kommt, brandet Spontanapplaus auf. EU-Wirrwarr schön und gut, so die Befindlichkeit, richtig schmerzt es aber erst, wenn es an die Verzinsung des eigenen Geldes geht. En passant erwähnt Biedenkopf, dass „Ihre Ersparnisse mit oder ohne Euro nicht sicher sind“, von einem Politiker — ob mit oder ohne „Ex“ im Titel — eine erfrischend offene Aussage, die manch einer im Wahlkampf gern gehört hätte. Dass zum Ende der Diskussion der „Gefangenenchor“ aus Verdis Oper „Nabucco“ gebratscht und pianiert wird, ist angemessen.
Wichtige Themen drinnen, wütender Sturm draußen — auch das Wetter lässt keine entspannte Kreuzfahrtstimmung aufkommen. Während unter Deck hitzig debattiert wird, peitscht oben Wind und Regen. Anstatt im Dreieck nach Amrum und Texel zu fahren wie geplant, steuert die „Deutschland“ den hässlichen holländischen Industriehafen Ijmuiden an, der nach dem Anlegen sogleich geschlossen wird. Der Blitz schlägt neben dem Schiff ein, Windböen nehmen die halbe Golfanlage mit. Eine raue Fahrt, auf die Deutschland nach der Wahl da geht.