Euro am Sonntag-Meinung

Geniales Konzept oder Polit-Marketing?

27.08.17 15:00 Uhr

Geniales Konzept oder Polit-Marketing? | finanzen.net
Christoph Lampe

Das deutsche Gesundheitssystem ist ein Patient, den es zu heilen gilt. Diese Meinung vertreten zumindest mehrere Parteien und plädieren im Bundestagswahlkampf für die Einführung einer Bürgerversicherung. Eine kritische Betrachtung.

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von M. Wald und C. Lampe, Gastautoren von Euro am Sonntag

Die Lebenserwartung der Deutschen stieg in den vergangenen Jahrzehnten vor allem aufgrund unseres sehr guten Gesundheitssystems. Eine heute 50-jähri­ge Frau wird hierzulande etwa durchschnittlich 88,2 Jahre alt. Ein gleichaltriger Mann verfügt über eine Lebenserwartung von 83,4 Jahren. 28 Prozent der Mädchen, die derzeit in Deutschland zur Welt kommen, und sieben Prozent der neugeborenen Jungen werden mindestens 100 Jahre alt - prognostiziert das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR).



Nicht nur leben wir länger, sondern auch aktiver als jemals zuvor. Unser Gesundheitssystem trägt zu einem großen Teil dazu bei, dass das längere Leben auch lebenswert ist. Daher überrascht es nicht, dass 86 Prozent der Deutschen mit der medizinischen Versorgung sehr zufrieden oder zufrieden sind.

Negativbeispiel National Health:
Fatale Kostensenkungen

Die privaten Krankenversicherer (PKV) spielen dabei eine bedeutende Rolle im dualen Gesundheitssystem. Arztpraxen und Krankenhäuser arbeiten nur wegen der Einnahmen aus der PKV wirtschaftlich. Etwa 25 Prozent der Praxiseinnahmen resultieren aus Privatleistungen, obwohl nur rund zehn Prozent der Patienten privat versichert sind. Somit sorgt die PKV indirekt für eine gute und flächendeckende medizinische Versorgung der gesamten Bevölkerung. Der Wettbewerb beider Systeme sorgt dafür, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht unbegrenzt gekürzt werden können.



Die bestmögliche medizinische Versorgung für alle ist ein hehres Ziel, das jedoch mit dem heutigen Beitragsaufkommen nicht zu realisieren ist. Genau hier setzen insbesondere die Linke, die SPD und die Grünen an. Die Integration der privat Versicherten in die Bürger­versicherung soll es richten. Die Argumente dieser Parteien erscheinen auf den ersten Blick logisch und kommen bei ihren Wählergruppen gut an. Gut 60 Prozent der Befragten einer Insa-Umfrage sind dafür, eine Krankenversicherung für alle zu schaffen.

Ein Beispiel aus dem Ausland zeigt, dass ein einheitliches System nicht unbedingt die Garantie für eine bestmögliche Gesundheitsversorgung ist. In Großbritannien existiert mit National Health seit jeher eine Bürgerversicherung. Sie wurde auf Kostensenkungen getrimmt, mit teilweise bestürzenden Folgen. Computer berechnen dort, ob sich eine bestimmte Behandlung aufgrund der zu erwartenden Restlebenszeit noch rechnet. Wer es sich irgendwie leisten kann, kauft sich deshalb eine bessere private Versorgung hinzu.


Was würde bei Einführung der Bürgerversicherung passieren? Die Parteien sind sich einig, dass man die Bestandsrechte der heutigen privat Versicherten nicht antasten darf. Somit wäre ein Wechsel aus der PKV in die Bürgerversicherung freiwillig. Die Hälfte der privat Versicherten machen Ruheständler und mitversicherte Familienangehörige aus, die, wenn sie zur Bürgerver­sicherung stoßen, sie sogar zusätzlich ­belasten würden. Den lediglich zwölf Prozent Besserverdienern in der PKV wiederum fehlt das Motiv zum Wechsel.

Ab etwa 2025 werden die sogenannten "Babyboomer" verrentet. Aus den heutigen Höchstbeitragszahlern werden nach und nach Höchstleistungsempfänger. Gleichzeitig fehlen Mil­lionen junger Beitragszahler, die diese Mehrkosten auffangen. Hinzu kommt: Zwei Drittel der Gesundheitsausgaben eines Menschen fallen im letzten Lebensdrittel an. Der medizinische Fortschritt führt dabei zu immer höheren direkten und indirekten Kosten.

Politiker planen die Enteignung
der privat Versicherten

Direkte Kosten entstehen durch die neueren Behandlungsmethoden, indirekte durch die damit einhergehende höhere Lebenserwartung, die weitere Kosten verursacht. Das Umlagesystem steuert leider ohne jede Vorsorge auf den demografischen Wandel zu. Bei der Rentenversicherung hat man das Rentenniveau der künftigen Rentner deutlich abgesenkt und das Renteneintrittsalter erhöht. Diese Stellschrauben bietet die GKV jedoch nicht.

Das Institut für Mikrodatenanalyse in Kiel hat bereits 2013 errechnet, dass die Finanzierungslücke der GKV etwa 1,1 Billionen Euro beträgt. Das erklärte Ziel früherer politischer Pläne war es daher, die rund 230 Milliarden Euro Alterungsrückstellungen der PKV in die Bürgerversicherung zu überführen. Selbst SPD-Gesundheitsexperte Professor Karl Lauterbach sieht momentan kaum Chancen, dass dieses Geld tatsächlich enteignet werden könnte. Die PKV erwirtschaftet derzeit aufgrund der be­stehenden Anlagen noch eine Netto­verzinsung von 3,4 Prozent p. a., also fast acht Milliarden Euro jährlich. Würde man die Alterungsrückstellungen auf die GKV übertragen, könnte das Geld -Stand heute - gar nicht verzinslich angelegt werden. Der Gesundheitsfonds hat für seine Rücklagen im letzten Jahr sogar Strafzinsen zahlen müssen. Hier würden also völlig ohne Not dem System weitere acht Milliarden Euro entzogen.

Um die Beiträge im Umlagesystem einer Bürgerversicherung auch während der Rentenphase der Babyboomer (von etwa 2027 bis 2060) einigermaßen bezahlbar zu machen, wird die Politik über die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze und die Heranziehung der Zins- und Mieteinnahmen sowohl die Einnahmeseite verbreitern als auch die Leistungen nach und nach dramatisch verringern müssen, bis das System nur noch eine rudimentäre Absicherung der existenzbedrohendsten Erkrankungen bietet. In diesem Fall wären wir zwar alle gleich versichert, allerdings auch gleich schlecht.

Reform der gesetzlichen
Krankenversicherung nötig

Unser Fazit lautet deshalb, dass die Politik die Balance zwischen GKV und PKV nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollte - das duale System arbeitet zum Nutzen aller. Es garantiert einen hohen allgemeinen Standard mit Zugang zur bestmöglichen Medizin über Zusatzversicherungen. Existieren keine Alternativen mehr, sind die Bürger - wie in England - in künftigen Jahren der Willkür schutzlos ausgeliefert.

Mit dem Begriff Bürgerversicherung wird derzeit viel Polit-Marketing betrieben. Statt mit einem Konzept, das an der Realität vorbeigeht und das keine der Herausforderungen unseres Gesundheitssystems löst, Neiddebatten zu führen, wäre es sinnvoller, die GKV dort zu reformieren, wo es angebracht ist. Da schon jetzt erkennbar ist, dass das bisherige Leistungsniveau der GKV den demografischen Wandel nicht überstehen wird, sollten möglichst viele nicht existenzbedrohende Bereiche ausgegliedert und privat abgesichert werden können, z. B. Zahnleistungen. Die paritätische Finanzierung der Beiträge sollte ebenfalls wieder eingeführt werden.

Schließlich muss das Thema Solidarität in der GKV kritisch hinterfragt werden. Derzeit zahlen Einkommensmillionäre in der GKV für sich und ihre Familie im besten Fall nur rund 800 Euro monatlich, während eine Arbeiterfamilie mit mehreren Kindern in der Berufsausbildung unter Umständen über 1.000 Euro bezahlen muss. Weshalb werden dieselben Einkommensarten unterschiedlich verbeitragt? Bevor man die demografiefeste PKV auflöst, ohne einen Mehrwert für das System zu schaffen, sollte man alle Anstrengungen darauf konzentrieren, die GKV demografiefester und solidarischer als bisher zu machen.

Über die Autoren

Matthias Wald, Leiter Vertrieb bei Swiss Life Deutschland und
Christoph Lampe, Produktmanager für Kranken- und Pflege­versicherungen

Wald ist bereits seit 2002 für Swiss Life tätig, seit 2014 ist der promovierte Volkswirt Vertriebschef und Mitglied der Geschäftsführung.
Der Bankkaufmann und Betriebswirt Lampe arbeitete 15 Jahre in verschie­denen Banken, machte sich 1995 als Versicherungs­vermittler selbstständig. 2011 wechselte Lampe zur Swiss Life Deutschland.
Das Unternehmen Swiss Life, 1866 gegründet, ist ein führender Anbieter von Finanz- und Vorsorgelösungen für Privat- und Firmenkunden.

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Bildquellen: Swiss Life Deutschland

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