Bert Rürup: "Unser System ist nicht vorbereitet"
Der ehemalige Wirtschaftsweise spricht im Interview mit €uro am Sonntag über die Folgen der Corona-Pandemie für das deutsche Sozialsystem, notwendige Reformen der Altersvorsorge und die Rürup-Rente.
Von Peter Gewalt, Euro am Sonntag
Als einer der profiliertesten deutschen Ökonomen und einer der Vordenker der kapitalgedeckten Altersvorsorge fordert Bert Rürup im Interview, nicht nachzulassen und Deutschlands Rentensystem zukunftssicherer zu gestalten.
€uro am Sonntag: Herr Rürup, wie hart trifft die Corona-Pandemie die deutsche Volkswirtschaft ?
Bert Rürup: Weitgehender Konsens unter den Konjunkturexperten ist, dass der gesamtwirtschaftliche Einbruch dieses Jahres höher sein wird als 2008/09. Damals ist die gesamtwirtschaftliche Leistung um 5,7 Prozent eingebrochen, aber bereits in 2010 war dieser Verlust aufgeholt. Der Tiefpunkt der aktuellen Rezession liegt zwar bereits hinter uns, aber einen einem V ähnelnden Konjunkturverlauf wie 2009 wird es dieses Mal nicht geben. Unsere Volkswirtschaft wird nicht vor 2022 das Produktionsniveau vom Beginn dieses Jahres erreichen. Statt einem V wird das konjunkturelle Verlaufsbild einem breiten U ähneln.
Wie stark wirkt sich denn der konjunkturelle Einbruch auf die Renten- und Krankenkassen aus?
Natürlich schlägt das auf die Sozialversicherung durch, aber zumindest kurzfristig sind die Folgen nicht so dramatisch. Die Rentenversicherung hat noch beachtliche Rücklagen in Höhe von über 40 Milliarden Euro, davon werden in diesem Jahr vielleicht vier bis fünf Milliarden Euro abgeschmolzen. Die Krankenkassen haben einerseits höhere Corona-bedingte Ausgaben, sparen aber gleichzeitig wegen der geringeren Arztkontakte andere Behandlungskosten. Außerdem enthält das jüngste Konjunkturpaket eine Bundesgarantie, die verhindern soll, dass der Gesamtsozialversicherungsbeitrag über 40 Prozent steigt. Zur Kasse gebeten werden also vorrangig die Steuerzahler.
Sollte man angesichts der finanziellen Folgen nicht die Rentenerhöhung am 1. Juli stoppen? Die Renten in Westdeutschland steigen dann um 3,45 Prozent und in Ostdeutschland sogar um 4,20 Prozent.
Nein, und zwar aus zwei Gründen. Dass die Renten den Löhnen folgen, die Lohnbezogenheit, ist seit 1957 das Markenzeichen unserer dynamischen Rente. Hinzu kommt, dass es in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation richtig ist, den privaten Konsum zu stabilisieren.
Dies greift jedoch nicht, wenn die Löhne zurückgehen. Denn die Renten sinken dann nicht.
Das ist richtig. Der damalige Sozialminister Olaf Scholz hat im Frühjahr 2009 in Erwartung sinkender Löhne durch die Einführung einer "Sicherungsklausel" Rentenkürzungen selbst für den Fall sinkender Löhne ausgeschlossen. Diese "Sicherungsklausel" war allerdings von einem "Ausgleichsfaktor" flankiert. Und der sah vor, dass die unterlassenen Rentensenkungen in besseren Zeiten durch unter den Lohnsteigerungen liegende Rentenerhöhungen nachgeholt werden. Damit wäre ein dauerhafter Anstieg des Rentenniveaus als Folge einer Lohnsenkung verhindert und die Lohnbezogenheit der Renten gewährleistet gewesen.
Sozialminister Heil hat den "Ausgleichsfaktor" 2018 ausgesetzt.
Ja, und das Aussetzen dieses Faktors bis 2025 kritisiere ich. Denn durch die diesjährige kräftige Rentenerhöhung bei gleichzeitig sinkendem Durchschnittslohn erhöht sich das Rentenniveau dauerhaft um etwa drei Prozentpunkte. Dieser nicht nachgeholte Verstoß gegen das Prinzip der Lohnbezogenheit geht deshalb mit dauerhaft erhöhten Rentenausgaben einher - und das vor dem Hintergrund des bald einsetzenden massiven Anstiegs der Rentenempfänger im Vergleich zu den Beitragszahlern. Ich prognostiziere, dass wir unmittelbar nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr eine rentenpolitische Diskussion darüber bekommen werden.
Sind andere teure Projekte wie die Mütterrente oder die Rente mit 63 durch Corona gefährdet?
Na ja, ich war kein Freund dieser von der GroKo 2013 bis 2018 beschlossenen klientelspezifischen Leistungsausweitungen - die SPD bekam die "Rente ab 63" und die Union die "Mütterrente". Da damals die Beitragsgelder üppig sprudelten, war es möglich, beide Projekte ohne Anhebungen des Beitragssatzes oder des Steuerzuschusses zu finanzieren. Zumindest die Mütterrente hätte aus Steuermitteln finanziert werden müssen. Da beide Leistungsausweitungen aber nur mit temporären Belastungen für die Rentenversicherung verbunden sind, sollte man sie aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht zurücknehmen.
Ein weiteres von der SPD ersehntes Projekt ist die Grundrente.
Die hinter diesem Projekt stehende Idee ist in meinen Augen richtig. In nur ganz wenigen der aktuell 38 OECD-Staaten werden die Renten von langjährigen Geringverdienern nicht generöser festgesetzt oder angepasst als die von Durchschnitts- oder gar Besserverdienern.
Was ist anders an unserem System?
Unser 1957 eingeführtes Rentensystem basiert auf dem Äquivalenzprinzip. Damit soll gewährleistet werden, dass die Höhe der Rente strikt von der Höhe der beitragspflichtigen Einkommen sowie der Dauer der Beitragszahlungen abhängt. Das war eine Philosophie, die vor 60 Jahren gut, richtig und modern war. Damals hatten wir einen industriell geprägten Arbeitsmarkt. Die Lohnspreizung war relativ gering, die dauerhafte Vollzeitbeschäftigung die Regel, Langzeitarbeitslosigkeit vergessen, und durchbrochene Erwerbsbiografien sowie Teilzeitarbeit waren selten. Und dass ein Rentensystem wegen zu geringer Kinderzahlen in Schwierigkeiten geraten könnte, war undenkbar. Heute stellt sich angesichts der demografischen Entwicklung und vor allem des postindustriellen Arbeitsmarkts die Frage, ob das bei uns herrschende Prinzip der Rentenbemessung noch adäquat ist. In den meisten OECD-Ländern ist klar, dass die Rente in allererster Linie der Armutsvermeidung dienen soll. Somit begrüße ich die Grundrente, auch wenn sie in der jetzigen Form noch einige handwerkliche Schönheitsfehler hat.
Wie beurteilen Sie die Ergebnisse der von der Bundesregierung eingesetzten Rentenkommission?
Politisch hat die Kommission ihre Funktion erfüllt. Sie hat außergewöhnlich lange beraten und somit der Koalition nahezu zwei Jahre Zeit verschafft, unbehelligt von Kommissionsanregungen nicht an der Rentenpolitik zu scheitern. Wirklich innovative Empfehlungen finden sich im Kommissionsbericht nicht. Außer dem seltsamen Vorschlag, einen Alterssicherungsbeirat einzurichten, findet man keine konkrete Idee. Und eine Antwort auf die Fra- ge nach der Zweckmäßigkeit oder Notwendigkeit einer weiteren Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters wurde auf den spätestmöglichen Zeitpunkt 2026 vertagt. Damit lässt sich aber nicht verhindern, dass diese Diskussion unmittelbar nach der nächsten Bundestagswahl aufkommen wird. Denn zu der aktuellen Krise und ihren Nachwirkungen wird in wenigen Jahren ein massiver, gut 20 Jahre anhaltender, das Wirtschaftswachstum bremsender Alterungsschub einsetzen, auf den unser System nicht adäquat vorbereitet ist.
Was ist denn notwendig, um das System zukunftssicher zu machen?
Jede Rentenreform ist ein Verteilungskompromiss und damit eine - zeitlich befristete - Antwort auf eine Gerechtigkeitsfrage. Bei einer Rentenreform kann man an vier Stellschrauben drehen, die jeweils verschiedene Gruppen belasten oder begünstigen. Beim Beitragssatz geht es um die Be- oder Entlastung der Erwerbstätigen, beim Rentenniveau um die heutigen und die künftigen Rentner, bei der Altersgrenze um die künftigen Rentner und beim Bundeszuschuss um die Belastung aller Steuerzahler. Daher ist jede Rentenreform ein Verteilungskompromiss. Politisch ist es auf jeden Fall unklug, eine dieser Schrauben zu einem Tabu zu erklären.
Es wird viel an der Riester-Rente kritisiert. Wie könnte für Sie denn eine Verbesserung aussehen, um die private Vorsorge nachhaltig zu stärken?
Erstens müsste es ein zertifiziertes Standardprodukt geben, zweitens sollte diese Vorsorgeform allen offenstehen und nicht nur denjenigen, die von den Leistungsminderungen der Rentenreform von 2001 betroffen sind. Drittens sollte die Garantie für die eingezahlten Beträge zumindest deutlich zurückgefahren werden, da diese Garantie in Zeiten niedriger Zinsen der größte Renditefresser ist, und viertens sollte der seit 2001 unveränderte staatliche Förderrahmen dieser privaten Vorsorge in Anlehnung an die Förderung der Betriebsrenten dynamisiert werden.
Sollten Aktien nicht grundsätzlich eine viel größere Rolle spielen bei der Altersvorsorge in Deutschland?
Es ist richtig, dass Aktien längerfristig eine höhere Rendite aufweisen, sie sind aber auch weit anfälliger für Schwankungen. Diese höhere Volatilität sollte beim Altersvorsorgesparen über den Einsatz von Life-Cycle-Modellen berücksichtigt werden. Das heißt, junge Menschen sollten stärker in Aktien investieren als Ältere. Dazu ist aber ein professionelles und dennoch kostengünstiges Management der individuellen Altersvorsorgeersparnisse erforderlich. Die Idee der Deutschland-Rente ist daher ganz passend.
Sie stehen mit Ihrem Namen für die Rürup-Rente, die primär für Selbstständige konzipiert ist. Was wäre daran noch zu optimieren?
Hier sehe ich wenig Verbesserungsnotwendigkeiten. Das System hat sich gut etabliert. Aber eines sollte bald zweifelsfrei geklärt werden, nämlich die Frage, ob in der Folge der 2005 eingeführten nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften eine verfassungswidrige Zweifachbesteuerung von Renten besteht. Denn seitdem hat es eine Reihe von Änderungen gegeben, wie zum Beispiel die Anhebung des Rentenalters, die bei der Vorbereitung des Umstiegs von der Ertragsanteilsbesteuerung der Renten zum gegenwärtigen System der nachgelagerten Besteuerung nicht berücksichtigt werden konnten. Und bislang hat es noch kein Kläger bis zum Bundesverfassungsgericht geschafft.
Vita
Renommierter Ökonom und Berater
Als Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik war Hans-Adalbert "Bert" Rürup Vorsitzender der fünf Wirtschaftsweisen und beriet verschiedene deutsche und ausländische Regierungen zur Reform der sozialen Sicherungssysteme. Nach der Emeritierung 2009 wechselte er für neun Monate zum Finanzdienstleister AWD. Seit Januar 2013 leitet der 76-Jährige das Handelsblatt Research Institute, das ein unabhängiges Kompetenz- und Researchcenter der Verlagsgruppe Handelsblatt ist. Er ist SPD-Mitglied, verheiratet und kinderlos.
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Bildquellen: David Maupilé/Handelblatt Research Institute