Euro am Sonntag

Die EU und das Rattenrennen

22.06.16 17:30 Uhr

Die EU und das Rattenrennen | finanzen.net

Unabhängig vom Ausgang der Volksabstimmung in Großbritannien über einen EU-Austritt mehren sich die Tendenzen in anderen EU-Staaten, dem Euro und der Gemeinschaft den Rücken zu kehren. Zeit, sich darauf einzustellen.

von Daniel Stelter, Gastautor von Euro am Sonntag

Gebannt schaut die Welt nach Großbritannien. Am 23. Juni stimmen die Briten darüber ab, ob sie weiterhin Mitglied im Club der EU bleiben wollen oder sich lieber verabschieden. Sah es noch vor einigen Monaten so aus, als wäre ein Votum pro Verbleib sicher, so zeichnet sich jetzt ein knappes Rennen ab.

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Dabei wäre ein Austritt Großbritanniens gerade aus deutscher Sicht ein herber Schlag. Der EU ginge eine Stimme der marktwirtschaftlichen Vernunft verloren und - wie schon jetzt im Euroraum - das Gewicht der südlichen Länder würde dann in der ganzen Gemeinschaft zunehmen. Was das bedeutet, ist leicht zu prognostizieren: mehr Staatseinfluss und Umverteilung.

Doch auch ein Verbleib Großbritanniens bedeutet keine Entwarnung für das Gesamtprojekt EU. Umfragen zeigen schon jetzt, dass fast die Hälfte der EU-Bürger ebenfalls eine Abstimmung wünscht. Mit Unterschieden von Land zu Land: in Deutschland nur rund 40 Prozent, in Frankreich schon 55 Prozent, in Italien fast 60 Prozent. Könnten sie abstimmen, würde immerhin ein Drittel der Deutschen für einen Austritt votieren, mehr als 40 Prozent der Franzosen und fast 50 Prozent der Italiener. Egal also, wie die Abstimmung in England ausgeht: Es gärt in Europa.

Italien und Frankreich als
nächste Austrittskandidaten

Schuld daran ist das offensichtliche Versagen der Politik. Die Einführung des Euro war überstürzt und hat Länder in ein starres Wechselkursregime gezwungen, die weniger zueinanderpassen als eine fiktive Währungsunion aller Länder mit dem Anfangsbuchstaben "M", wie JP Morgan schon 2012 vorrechnete. Statt diesen Fehler in einem geordneten Prozess zu korrigieren, wird mit Konkursverschleppung (Griechenland) und Geldschwemme reagiert.
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Derweil wachsen die Probleme, vor allem die untragbare Verschuldung von Staaten und Privaten, weiter an. Auch bei der Suche nach einer Antwort auf den rein demografisch bedingten Migrationsdruck zeigt die EU sich zerstritten und ist bereit, für einen temporären Zeitgewinn die eigenen Prinzipien über Bord zu werfen. Je länger die Politiker dieses Spiel auf Zeit in den beiden zentralen Themen für die Zukunft Europas und der EU fortsetzen, desto stärker werden die als "populistisch" gebrandmarkten Kräfte werden. Noch sieht es nicht danach aus, als würden die etablierten Parteien ihre Strategie ändern.

Italien und Frankreich bleiben die Hauptkandidaten für einen Austritt. Beide Länder haben seit Einführung des Euro massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren, leiden unter hoher Arbeitslosigkeit, schwachem Wachstum und aus dem Ruder gelaufener Staatsverschuldung. Beide haben mit Blick auf die Schuldenlast den Point of no Return schon lange hinter sich gelassen. Es ist schlichtweg nicht mehr möglich, so viel zu sparen oder das Wirtschaftswachstum so zu steigern, dass die Schuldenquote relativ zum BIP stabil bleibt, rechnet McKinsey vor.
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In Frankreich tritt bisher nur der Front National offen für einen Austritt aus dem Euro und der EU ein. Die anderen politischen Parteien halten - noch - an dem europäischen Projekt fest, und es ist unwahrscheinlich, dass Marine LePen die nächste Präsidentin wird. Anders stellt sich die Lage in Italien dar. Nicht nur, dass die eurokritische Bewegung Cinque Stelle breiter in der Bevölkerung verankert ist; auch die etablierten Parteien rücken immer deutlicher von EU und Euro ab. Mit Blick auf die fehlenden Fortschritte mit der gemeinsamen Haftung in der Bankenunion fragte der italienische Finanzminister Pier Carlo Padoan kürzlich: "Warum verschwenden wir unsere Zeit mit dem Euro?" Immer breiter wird der Konsens, der im Euro und in Deutschland die Ursache für Italiens Misere sieht.

Und die Misere ist groß: Die Wirtschaftsleistung liegt immer noch neun Prozent unter dem Stand vor der Krise. Dies ist eine noch schlechtere Entwicklung als in Japan seit dem Jahre 1990. Ein solcher Einbruch ist ohne Vorbild für eine große Wirtschaft, und die Hauptursache liegt in einem nicht wieder korrigierbaren Verlust an Wettbewerbsfähigkeit in den Anfangsjahren des Euro. Seit 1999 sind die Lohnstückkosten relativ zu Deutschland um 30 Prozent gestiegen, die Produktivität stagniert.

Trotz der im internationalen Vergleich moderaten Verschuldung des ­Privatsektors ist es angesichts dieser wirtschaftlichen Entwicklung nicht ­verwunderlich, dass dem italienischen Bankensektor das Wasser bis zum Hals steht. Die faulen Kredite werden auf 360 Milliarden Euro geschätzt, 18 Prozent aller ausstehenden Kredite. Ein insolventer Staat mit einem insolventen Bankensystem kann selbst mit der Nullzinspolitik der EZB nicht gerettet werden. Eine Erholung der Wirtschaft ist jedenfalls undenkbar. Italien braucht einen Schuldenschnitt und eine Rekapitalisierung des Bankensystems. Letzteres erhoffte sich die Politik über die Bankenunion, in der faktisch deutsche Sparer für den Schaden aufkommen, Ersteres über ein Pooling von Staatsschulden auf euro­päischer Ebene. Beidem hat sich die deutsche Regierung bis jetzt erfolgreich widersetzt.

Fakt ist: Für kein Land würde es sich so sehr lohnen aus dem Euro auszutreten, wie für Italien. Noch verfügt es über eine solide industrielle Basis im Norden, und durch eine Abwertung einer eigenen Währung könnte es sofort auf den Weltmärkten wieder Fuß fassen. Da der Staat einen Primärüberschuss vor Zinszahlungen im Haushalt aufweist, ist er nicht von ausländischen Geldgebern abhängig; die italienischen Privathaushalte haben geringe Schulden und ein höheres Pro-Kopf-Vermögen als die Deutschen. Italien könnte also sehr gut und schnell auf eigenen Beinen stehen.

Beim nächsten Abschwung
droht dann der "Uscitalia"

Wenn der nächste Abschwung kommt, wird es - so meine Prognose - eine politische Mehrheit für einen "Uscitalia" geben. Entweder hat der Brexit bis dahin gezeigt, dass ein Leben ohne EU möglich ist. Oder Italien versucht, im Rennen der Ratten, die das sinkende Schiff verlassen wollen, der Erste zu sein. Noch hat die deutsche Politik Zeit, ein solches Szenario zu verhindern. Leider spricht viel dafür, dass sie durch ihr Handeln die Wahrscheinlichkeit für einen Austritt eher noch erhöht.

Mit einem Zerfall der EU aber stehen dem Euro und den hiesigen Kapitalmärkten erhebliche Turbulenzen bevor, die vergangene Krisen als laues Lüftchen erscheinen lassen. Auf diese müssen sich Anleger einstellen, unter anderem mit einer Diversifikation aus dem Währungsraum heraus. Großbritannien mit eigener Währung - und nach einem Brexit ohne kostenmäßige Beteiligung an den Folgekosten eines EU-Zerfalls - ist da durchaus attraktiv.

zur Person:

Daniel Stelter, Gründer des
Thinktanks Beyond the Obvious

Von 1990 bis 2013 war Stelter Unternehmens- berater bei der Boston Consulting Group (BCG). Von 2003 bis 2011 verantwortete er weltweit das Geschäft der BCG-Praxisgruppe Corporate Development. Seit 2007 berät Stelter internationale Unternehmen und ist zudem Autor sehr erfolgreicher Bücher zu volkswirtschaftlichen Themen und den Herausforderungen des Kapitalmarktes.

Bildquellen: Beyond the Obvious, Carlos Caetano / Shutterstock.com