Niger Delta Blues

21.03.25 08:26 Uhr

Über 60 Jahre lang haben die Fossil-Giganten im Nigerdelta mit verheerender Gründlichkeit das schwarze Gold aus der Erde geholt. Jetzt ziehen sie sich zurück – so abrupt wie ein Verbrechersyndikat, das den Tatort verlässt, um andernorts von Neuem zu beginnen. Was sie zurücklassen? Eine zerstörte Umwelt, verseucht von Öl und Chemikalien. Millionen Einheimische, besonders die Landbevölkerung, sollen nun alleine mit den Folgen klarkommen.Die Rückzugsbewegung begann unbemerkt schon 2010, erreichte im Oktober 2024 jedoch ihren Höhepunkt: Die vier internationalen Ölkonzerne TotalEnergies, Eni, Equinor und ExxonMobil erhielten die Genehmigung, ihre Ölförderlizenzen an die nigerianischen Unternehmen Chappal Energies, Oando und Seplat zu verkaufen. An den abgestoßenen Onshore-Beteiligungen hängen risikoreiche Ölquellen und Pipelines. Dennoch verlagern die Konzerne ihre Aktivitäten auf Tiefwasserfelder im Golf von Guinea, wo 13 der 37 Milliarden Barrel nachgewiesener Ölreserven Nigerias lagern.Mit diesem Schritt wollen sich die Konzerne der millionenschweren Haftung für die angerichteten Umwelt- und Gesundheitsschäden sowie für die Zerstörung der Lebensgrundlagen entziehen.Dass die Ölgiganten ihre Anlagen jetzt abstoßen, ist in den Augen der ölreichen Gemeinden im Nigerdelta mehr als nur ein Geschäft. Vielmehr verbirgt sich dahinter ein Kalkül: Mit diesem Schritt wollen sich die Konzerne der millionenschweren Haftung für die angerichteten Umwelt- und Gesundheitsschäden sowie für die Zerstörung der Lebensgrundlagen entziehen. Denn wenn die Ölkonzerne jetzt ihre Anlagen verkaufen, erfolgt dies ohne eine gründliche Unbedenklichkeitsprüfung und ohne klare Vorgaben seitens der Aufsichtsbehörden, die sicherstellen würden, dass die hinterlassenen Umweltschäden vollständig beseitigt werden, bevor der Besitzerwechsel genehmigt wird. Auch die Käufer wurden nicht verpflichtet, alle finanziellen Verbindlichkeiten zu übernehmen oder die Schäden zu beheben, die durch die Aktivitäten der Verkäufer in der Region entstanden sind. Es fehlt an einem umfassenden Plan zur Beseitigung der Altverschmutzungen und zur Sanierung, die auch den staatlichen Vorgaben zum Wohl der betroffenen Bevölkerung gerecht würde. In diesem Zusammenhang spielt Artikel 235 des Petroleum Industry Act (PIA) eine entscheidende Rolle: Er schreibt vor, dass Ölgesellschaften einen Treuhandfonds für die Entwicklung der betroffenen Gemeinden einrichten müssen (einen Host Community Development Trust Fund). Bei bestehenden Fördergenehmigungen und bereits in Betrieb befindlichen Produktionsanlagen muss das innerhalb von zwölf Monaten nach Wirksamwerden geschehen, bei Neukonzessionierungen vor Aufnahme des kommerziellen Betriebs. Ohne eine konsequente Umsetzung dieser Regelungen und ohne die nötige Kontrolle durch die Behörden bleiben die betroffenen Gemeinden auf den Schäden sitzen – der Verantwortungslosigkeit der Konzerne ausgesetzt.Sorgen bereitet den Kommunen auch, dass viele der nigerianischen Unternehmen, welche die Produktionsanlagen kaufen, Neugründungen sind und keine einschlägige Erfahrung mitbringen. Entsprechend groß sind die Zweifel, ob sie in der Lage sein werden, mit den hinterlassenen Altlasten und den Verpflichtungen fertigzuwerden. Zudem wurde inzwischen bekannt, dass bei einigen Lizenzen, die von den internationalen Konzernen an einheimische Akteure abgestoßen wurden, hochgradig risikobehaftete Anlagen im Spiel sind, die das Ende ihrer Lebensdauer erreicht haben und dringend stillgelegt werden müssen.Das Nigerdelta war nicht immer ein Magnet für Ölkonzerne. Einst war die Region geprägt von dichten Mangrovenwäldern, sauberen Süßwasserquellen und einer reichen Artenvielfalt. Doch noch als über Nigeria der britische Union Jack wehte, begann der Wandel: Shell d’Arcy – der spätere Shell-Konzern – entdeckte in Otuabagi, im damaligen Distrikt Oloibiri, kommerziell interessante Rohölvorkommen. Mit dieser Entdeckung wurde das westafrikanische Land zu einem Erdölstaat. Wie Bienen auf den Honig stürzten sich Politiker und Armeegeneräle auf die wachsenden Reichtümer der Staatskasse. In der Folge avancierte der Ölriese Shell zu einer festen Größe in der Geschichte der Kaperung des Staates.Noch heute gelangen im Nigerdelta jedes Jahr bei 300 Ölaustritten insgesamt 240 000 Barrel in die Umwelt.Doch der Preis für den Reichtum war hoch: Seit Beginn der kommerziellen Ölförderung im Jahr 1958 sind schätzungsweise 13 Millionen Barrel Rohöl in die Umwelt gelangt. Die Anbauflächen wurden verseucht, das Grundwasser kontaminiert und die Gewässer verschmutzt, wodurch Millionen von Landwirten und Fischern ihre Existenzgrundlage verloren. Heute zählt das Nigerdelta zu den am stärksten verschmutzten Regionen der Erde. Noch heute gelangen im Nigerdelta jedes Jahr bei 300 Ölaustritten insgesamt 240 000 Barrel in die Umwelt. Die Bevölkerung ist permanent hochgiftigen Chemikalien ausgesetzt, sei es durch Öl im Boden oder das Abfackeln von Gas. Dies hat gravierende Folgen: Die Lebenserwartung im Nigerdelta liegt mindestens zehn Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt. Viele Kinder sterben, bevor sie fünf Jahre alt werden, und nur wenige Menschen erreichen ein Alter, das ihnen graue Haare beschert.Diese katastrophale Situation besteht seit Jahrzehnten – und wurde von den Ölkonzernen immer weiter ignoriert oder aktiv verschleiert. Als 1994 neun Aktivisten aus dem Volk der Ogoni, darunter Ken Saro-Wiwa, hingerichtet wurden, weil sie gegen die von Shell verursachte Umweltzerstörung protestiert hatten, wurde weltweit offensichtlich, dass an den Händen des Ölgiganten Blut klebte. Doch auch drei Jahrzehnte nach diesen blutigen Ereignissen setzen große Ölkonzerne weiterhin auf Korruption und Gewalt, um ihre Interessen durchzusetzen.Dies wird auch am geplanten Verkaufsprozess von Royal Dutch Shell deutlich: Wie bereits TotalEnergies, Eni, Equinor und ExxonMobil beabsichtigt der englisch-niederländische Fossilbrennstoff-Gigant, sich schrittweise aus dem Nigerdelta zurückzuziehen. Shell plant, Ölförderlizenzen für geschätzte 6,73 Milliarden Barrel Öl sowie Gasvorkommen im Wert von 2,4 Milliarden Dollar an das Unternehmen Renaissance Africa Energy zu verkaufen. Shell war die Nummer 1 in der nigerianischen Ölindustrie, darf sich aber erst als Letzter vom Tatort davonstehlen. Nachdem das zuständige Ministerium den geplanten Verkauf seiner Anlagen im Dezember 2024 bereits abgenickt hatte, zögerten die Aufsichtsbehörden mit der Umsetzung, nachdem Ölfördergemeinden und Aktivisten protestiert hatten.Der Verkauf würde die beinahe 100-jährige Dominanz von Shell in Nigerias Energiewirtschaft beenden. Dass es dazu bislang nicht kam, hat mehrere Gründe. Erstens ist die Zentralregierung bei dieser Entscheidung in zwei gleich große Lager gespalten. Anfang Februar hat das nigerianische Repräsentantenhaus den Verkauf so lange auf Eis gelegt, bis die internationalen Ölkonzerne ihren ökologischen und sozialen Verpflichtungen nachgekommen sind. Präsident Bola Ahmed Tinubu, selbst aus der Ölbranche stammend, steht jedoch hinter den Deals. Das dürfte kein Zufall sein, gehört doch Tinubus Neffen das nigerianische Öl- und Gasunternehmen Oando. Die dreisten Machenschaften rund um den Shell-Verkaufsprozess, in denen sich Präsident Tinubu als De-facto-Ölminister gegen zahlreiche Oppositionelle stellte, bezeugen die anhaltende Macht der Ölgiganten über den nigerianischen Staat und die Gesellschaft. Weder der Präsident noch Shell wollen Verantwortung für die verursachten Umwelt- und Gesundheitsschäden übernehmen. Die betroffene Landbevölkerung des Nigerdeltas, deren Lebensgrundlage zerstört wurde, hat längst erkannt, dass in Nigeria nichts gegen die prekäre Lage unternommen wird. Deshalb suchen sie Gerechtigkeit immer häufiger vor ausländischen Gerichten, wie derzeit Tausende aus Ogale und Bille, die Shell in Großbritannien wegen jahrzehntelanger Ölverseuchung verklagen. Der Prozess begann am 13. Februar und endete am 10. März.Insgesamt ist die aktuelle Verkaufswelle unter den internationalen Konzernen eine weitere Etappe in der fortschreitenden Dynamik der nigerianischen Ressourcenfalle. Ölgiganten wie TotalEnergies, Eni und Equinor verkaufen ihre Anlagen im Nigerdelta, um sich der Haftung für Umwelt- und Gesundheitsschäden sowie für die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Ansässigen zu entziehen. Von rabiater Profitgier und gnadenlosem Extraktivismus getrieben, sind bei den Konzernen sowohl Einsicht als auch Anstand vollkommen auf der Strecke geblieben. Dass der nigerianische Staat nicht imstande ist, im Sinne des nationalen Eigeninteresses zu handeln, unterstreicht eindrucksvoll die Macht des Neokolonialismus. Auch Jahrzehnte nach der Entdeckung des schwarzen Goldes geht Afrikas größter Rohölproduzent immer wieder vor ihm in die Knie.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal