Nichts kommt von selbst

21.03.25 09:14 Uhr

Die Sicherheitsarchitekturen, auf die sich die EU und Deutschland bisher verlassen haben, stehen unter beispiellosem Druck. Für Donald Trump ist das transatlantische Bündnis seit Langem ein überholtes Modell, das die USA eher behindert, als dass es ihnen nutzt. Die neue US-Administration hat mit ihrem Auftreten die Beistandsverpflichtung des Bündnisses infrage gestellt – und damit faktisch aufgekündigt. Als Reaktion darauf haben die Europäische Union und Großbritannien angekündigt, ihre Sicherheit künftig selbst zu verteidigen und massiv aufzurüsten. Sogar das Ende der erweiterten nuklearen Abschreckung durch die USA sowie der nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO steht zur Debatte.Derzeit ist offen, wohin die europäischen Aufrüstungsbemühungen führen. Ein Prozess hin zur strategischen Autonomie Europas scheint ebenso möglich wie eine erneute Annäherung oder Anpassung an „Trump-Amerika“, für die einige relevante Kräfte in der EU schon heute plädieren. Sollten die Europäer ihren neuen Anspruch der außen- und sicherheitspolitischen Eigenständigkeit ernst nehmen, müssten sie auch ihre Politik als globaler Akteur neu ausrichten. Ein wirksamer Multilateralismus sowie funktionierende internationale Organisationen und Abkommen bleiben zentrale Interessen Europas. Diese Interessen teilt Europa mit vielen Staaten: Eine überwältigende Mehrheit der UN-Mitglieder will sich nicht als Protektorat oder Einflusssphäre von Großmächten verstehen. Gerade die Länder des Globalen Südens sind darauf angewiesen, ihre Interessen mittels multilateraler Instrumente zu verfolgen.Die europäischen Staaten müssen mehr eigenständige Strategien und Positionen in der internationalen Ordnungspolitik entwickeln.Sehr viel stärker als bisher müssen die europäischen Staaten deshalb eigenständige Strategien und Positionen in der internationalen Ordnungspolitik entwickeln. Sie sollten diese nachdrücklich vertreten und aktiv nach Partnern suchen. Die Vereinigten Staaten haben sich durch verschiedene Maßnahmen faktisch aus der internationalen Ordnungspolitik zurückgezogen: durch den Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation und dem Weltklimaabkommen, durch ihr demonstratives Desinteresse an der G20-Kooperation, ihre regelwidrige Strafzollpolitik sowie durch die Androhung von Gewalt zur Durchsetzung territorialer Expansion. Zudem zeigen sie eine grundlegende Verachtung für das Völkerrecht und alles, was dem Prinzip America First entgegensteht.Europas Handlungsfähigkeit wird künftig nicht allein an militärischen Fähigkeiten gemessen, sondern auch daran, ob es funktionierende globale Institutionen gibt. Nur in solchen Strukturen kann Europa seine Ziele gemeinsam mit anderen friedlich und kooperativ verfolgen. Deshalb müssen die Europäer nicht nur in ihre Verteidigungsfähigkeit investieren, sondern auch sicherstellen, dass globale Güter – etwa humanitäre Hilfe, ein regelbasierter Welthandel, Klimaschutz und globale Gesundheitsvorsorge – durch verbindliche völkerrechtliche Abkommen gesichert bleiben. Besonders wichtig ist dies für die multilaterale Rüstungskontrolle, die Nichtverbreitung von Waffen und die Abrüstung.Rüstungskontrolle begrenzt nicht nur militärische Fähigkeiten und Arsenale; sie schafft auch Berechenbarkeit, sie ermöglicht Krisenkommunikation und spart Kosten. Gerade in Zeiten des Wettrüstens bleibt sie ein Wert an sich. Dieses Verständnis teilen die meisten Mitglieder der Vereinten Nationen. Bisher hat sich NATO-Europa oft der Rüstungskontrollpolitik der USA angeschlossen. Das ist nun kein erfolgversprechender Weg mehr. Die europäischen Staaten müssen eigenständiger agieren und stärker die Initiative ergreifen, um die Risiken einer Eskalation mit Russland unter Kontrolle zu halten. Das gilt für Deutschland ebenso wie für die Europäische Union. Dafür sind Partner nötig, die ähnliche Interessen verfolgen – und ein größerer Pragmatismus. Europa sollte die Zusammenarbeit mit allen Staaten suchen, die vergleichbare Ziele unterstützen.Dazu zählt auch die Volksrepublik China, der als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen eine besondere Verantwortung zukommt. Im Gegensatz zu Russland, das die bestehende Rüstungskontrollarchitektur seit Jahren untergräbt, tritt China grundsätzlich für deren Erhaltung und Entwicklung ein. Peking ist ein Spätstarter, hat sich aber seit Mitte der 1980er Jahre sukzessive dem multilateralen Mainstream angenähert. Mittlerweile ist China Mitglied der meisten multilateralen Rüstungskontrollabkommen. Es sucht zudem die Zusammenarbeit mit den Ländern des Globalen Südens, die der wichtigste Adressat seiner Außenpolitik sind und ebenfalls mehrheitlich die multilaterale Rüstungskontrolle unterstützen.Es gibt zahlreiche Anknüpfungspunkte für einen intensiveren sicherheitspolitischen Dialog zwischen der Europäischen Union und China.Es gibt zahlreiche Anknüpfungspunkte für einen intensiveren sicherheitspolitischen Dialog zwischen der Europäischen Union und China. Dieser Dialog sollte jedoch klar von wirtschaftlichen Konfliktthemen wie Exportkontrollen oder Technologiepolitik getrennt werden. Eine solche „Kompartmentalisierung“ – also die getrennte Bearbeitung von Politikbereichen – entspricht der Strategie der EU und Deutschlands, ihre China-Politik am Dreiklang von Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität auszurichten. Zur Rüstungskontrollpolitik mit China haben wir eine aktuelle Analyse mit konkreten Vorschlägen für Dialog- und Kooperationsfelder vorgelegt. Grundlage der Analyse waren zwei einwöchige Besuche deutscher Rüstungskontrollexperten in Peking in den Jahren 2023 und 2024. Der zentrale Befund: Ein fokussierter und längerfristig angelegter Ansatz kann gemeinsame Interessen stärken, Transparenz fördern und eine vorteilhafte Zusammenarbeit ermöglichen. Auf europäischer Seite wäre dafür ein langer Atem notwendig, während China bereit sein müsste, seine bisherige Komfortzone bei Abrüstungs- und Rüstungskontrolle zu verlassen.China betont immer wieder sein Bekenntnis zum Multilateralismus. In der rüstungskontrollpolitischen Praxis sind aber inhaltliche Unterschiede bei diesem Engagement festzustellen und oft agiert die Volksrepublik allzu passiv. Für einen vertieften Dialog bedarf es eines differenzierten Ansatzes. Ein solcher Dialog sollte gezielt an Themen anknüpfen, bei denen bereits ähnliche Interessen und Standpunkte bestehen: China und Europa könnten gemeinsame Initiativen ergreifen, um Nuklearanlagen in Konflikt- oder Kriegsgebieten besser zu schützen. Europa und China sollten Möglichkeiten zur Stärkung des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBT) prüfen, auch durch technische Optionen, um das internationale Vertrauen in CTBT-konforme Aktivitäten auf Atomtestgeländen zu stärken. Es liegt im Interesse Europas, China näher an die humanitäre Rüstungskontrolle heranzuführen, und die jüngsten Rückschritte beim humanitären Völkerrecht könnten ein Anlass für vertiefte Gespräche sein. Brüssel, Berlin und Peking wollen Eskalationen, etwa im Iran und in Nordkorea, vermeiden und könnten diplomatisch enger zusammenarbeiten. Auch eine technische Zusammenarbeit bei Verifikationsmaßnahmen im Kontext der Rüstungskontrolle erscheint erfolgversprechend.Ein langfristig angelegter Dialog sollte zunächst jene Themen vermeiden, bei denen China seine Verteidigungsfähigkeit – insbesondere gegenüber den USA – durch Regelungen zur Rüstungskontrolle beeinträchtigt sieht. So berechtigt europäische Sorgen über Chinas nukleare Aufrüstung auch sind: Peking wird nukleare Rüstungskontrolle allenfalls mit den USA besprechen, sieht aber keine Notwendigkeit, Europa in diese Gespräche einzubeziehen. Gleichzeitig zeigen auch die europäischen Atomwaffenstaaten Frankreich und Großbritannien bisher keine Bereitschaft, an multilateralen Rüstungskontrollgesprächen teilzunehmen. Dennoch eint Europa und China eine zentrale Überzeugung: Ein Nuklearkrieg darf nicht geführt und nicht gewonnen werden. Mit ihrer gemeinsamen Erklärung im November 2022 haben Staats- und Parteichef Xi Jinping und Bundeskanzler Olaf Scholz diese Botschaft international bekräftigt – auch als Signal an Russland. Zukünftige Dialoge sollten auch dazu dienen, mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht in Chinas nuklearer Minimalabschreckung zu schaffen, sowohl in Bezug auf seine Doktrin (unter Einschluss des Nicht-Ersteinsatzes) als auch auf seine nuklearen Kapazitäten. China bleibt zudem gegenüber multilateralen Ansätzen der Technologiekontrolle skeptisch. Peking interpretiert diese weitgehend als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ – selbst wenn Europa etwa über Fragen der Cybersicherheit ins Gespräch kommen möchte.Zunehmender Steuerungsverlust prägt die geopolitische Lage. „Nichts kommt von selbst und wenig ist von Dauer“, stellte Willy Brandt in seiner letzten Rede 1992 fest. Wer Multilateralismus, internationale Governance und insbesondere multilaterale Rüstungskontrolle erhalten will, muss sich aktiv dafür einsetzen – mit Nachdruck und in Zusammenarbeit mit Partnern. Die Alternative ist klar: In einer Welt ohne Regeln würden Deutschland und Europa zu den großen Verlierern zählen – und zum Spielball der Großmächte werden.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal