„Eine neue Phase der Repression hat begonnen“

21.03.25 11:05 Uhr

Die Fragen stellte Philipp Kauppert.Was ist bisher über die Festnahme des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, bekannt? Wer wurde noch verhaftet und warum?Tina Blohm: Im Rahmen von drei separaten Ermittlungsverfahren wurden am Mittwoch über 100 Personen zur Festnahme ausgeschrieben, darunter auch der Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu. Die Ermittlungen konzentrieren sich auf Vorwürfe der Korruption, mutmaßliche Verbindungen zur PKK sowie die Gezi-Proteste von 2013. Während die Regierung die Maßnahmen als rechtlich begründet darstellt, wertet die Opposition sie als politisch motivierten Angriff auf die Demokratie.Die größte Untersuchung bezieht sich auf mutmaßliche Korruptions- und Bestechungsverfahren innerhalb der Stadtverwaltung von Istanbul. İmamoğlu wird vorgeworfen, öffentliche Ausschreibungen manipuliert, illegale Finanztransaktionen über städtische Unternehmen durchgeführt und persönliche Daten unrechtmäßig genutzt zu haben. Zu den Verhafteten gehören enge Mitarbeiterinnen von İmamoğlu, wie sein Berater und Leiter eines staatlichen Medienunternehmens, sein Wahlkampfmanager sowie der Generalsekretär der Stadt Istanbul. Zudem wurden der Geschäftsführer von Kültür İstanbul sowie weitere Unternehmer inhaftiert.Ein weiteres Verfahren untersucht mutmaßliche Verbindungen von İmamoğlu zur PKK. Hierbei geht es um die sogenannte „Stadt-Konsens“-Strategie, die bei den Kommunalwahlen von der pro-kurdischen DEM-Partei und der CHP verfolgt wurde. Die DEM-Partei verzichtete in westlichen Großstädten auf eigene Kandidaten und unterstützte stattdessen die CHP, um eine größere Opposition gegen die Regierungspartei AKP zu formieren. Laut Staatsanwaltschaft habe diese Zusammenarbeit zur Stärkung der PKK in urbanen Zentren beigetragen. Außerdem soll die Stadtverwaltung Personen mit mutmaßlichen PKK-Verbindungen in städtischen Unternehmen angestellt haben. Das dritte Ermittlungsverfahren betrifft die Gezi-Proteste von 2013 und richtet sich insbesondere gegen einen bekannten Journalisten. Ihm wird vorgeworfen, eine aktive Rolle bei der Organisation und Ausweitung der Proteste gespielt zu haben.War die Verhaftung von İmamoğlu vorhersehbar? Was sagen sie aus über die Unabhängigkeit der türkischen Justiz?Stefan Hibbeler: Im Grunde war die Verhaftung vorhersehbar. Seit Istanbul im Oktober vergangenen Jahres einen neuen leitenden Staatsanwalt erhalten hat, wurden bereits drei CHP-Bezirksbürgermeister verhaftet. In den vergangenen drei Wochen kam es zu Verhaftungswellen gegen Kommunalpolitiker von CHP und DEM. Beinahe täglich gibt es Verhaftungen, die meist medienwirksam durchgeführt werden. Besonderes Aufsehen erregte die polizeiliche Vorführung der beiden Spitzenrepräsentanten des Unternehmerverbands TÜSIAD, nachdem sie die Instrumentalisierung der Justiz als politische Waffe kritisiert hatten.Es ist absurd, Personen zu verhaften und dies zuvor den Medien mitzuteilen, damit diese Fotos machen können.Man muss jedoch festhalten, dass das Vorgehen rechtlich äußerst fragwürdig ist. Grundsätzlich werden staatsanwaltliche und polizeiliche Ermittlungen geheim geführt. Eine Festnahme oder polizeiliche Vorführung ist nur gerechtfertigt, wenn Fluchtgefahr oder das Risiko der Vernichtung von Beweisen besteht. Es ist absurd, Personen zu verhaften und dies zuvor den Medien mitzuteilen, damit diese Fotos machen können. Die herangezogenen Straftatbestände wirken häufig wie Rechtsbeugung. Im Falle des Bezirksbürgermeisters von Beykoz wurde die Obergrenze der Festnahmezeit überschritten, er wird also rechtswidrig festgehalten.Dass dies dennoch stattfindet, hat mit den Justizreformen nach dem Übergang zum Präsidialsystem 2018 zu tun. Seither wird der Rat der Richter und Staatsanwälte teils mit einfacher Parlamentsmehrheit gewählt, teils durch den Präsidenten bestimmt. Der Justizminister und seine Stellvertreter sind ebenfalls obligatorische Mitglieder. Das Gremium, das für die Personalangelegenheiten der Justiz zuständig ist, wurde auf diese Weise politisiert. Ein seit langem versprochener Schutz der Richter vor Strafversetzungen wurde bislang nicht umgesetzt.Was ist die Strategie der Regierung, auch mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2028? Gibt es einen Zusammenhang mit dem Angebot der Waffenruhe seitens der PKK?Stefan Hibbeler: Zunächst ist der Zeitpunkt interessant. Am 21. März 2025 wird das Newroz-Fest begangen. Es wird erwartet, dass es Entwicklungen in der Kurden-Politik gibt. Staatspräsident Erdoğan hat angekündigt, an einer Newroz-Veranstaltung teilzunehmen. Am 23. März wiederum plant die CHP eine Vorabstimmung über ihren Präsidentschaftskandidaten. Ekrem İmamoğlu ist der einzige Kandidat und die CHP setzt auf eine hohe Wahlbeteiligung, um maximale Unterstützung für ihn zu erreichen. Die Aberkennung von İmamoğlus Diplom und seine Festnahme kurz vor der Vorwahl lassen den Verdacht aufkommen, dass die Regierung die Abstimmung gezielt stören wolle. Auch die massive Polizeipräsenz in Istanbul kann als Einschüchterungsversuch bewertet werden. Zur Einschüchterung trägt außerdem bei, dass İsmail Saymaz, ein bekannter Journalist, ebenfalls verhaftet wurde. Ihm wird vorgeworfen, die Gezi-Proteste gezielt landesweit über soziale Netzwerke verbreitet zu haben.Bisher hat die Regierung keine konkreten Reformzusagen im Kurden-Konflikt gemacht. Nach dem Aufruf des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan und dem einseitigen Waffenstillstand durch die PKK fehlt nur noch der letzte Schritt: die Einberufung einer Versammlung, bei der die Auflösung offiziell beschlossen wird. Dafür möchte die PKK eine Garantie, dass die Versammlung nicht angegriffen wird. Es wäre widersinnig, wenn die Regierung diese Garantie nicht gewähren würde. Doch mit der Selbstauflösung der PKK sind Erwartungen an eine Demokratisierung verbunden. Die Regierung zeigt allerdings, dass sie dazu nicht bereit ist. Vielmehr verschärft sie den Druck auf die Öffentlichkeit weiter.Wie haben die Oppositionsparteien - allen voran die CHP - und die Bevölkerung bisher darauf reagiert?Tina Blohm: Die CHP ist entrüstet. Ihr Vorsitzender, Özgür Özel, reiste direkt nach den Festnahmen nach Istanbul. In seinen ersten Statements schrieb er, dass die Nation daran gehindert werde, ihren nächsten Präsidenten zu benennen. Ein solcher Eingriff sei ein Putsch-Versuch gegen den nächsten Präsidenten der Türkei. Die geplante Wahl des Spitzenkandidaten für die nächsten Präsidentschaftswahlen soll weiterhin am 23. März stattfinden.Ein solcher Eingriff sei ein Putsch-Versuch gegen den nächsten Präsidenten der Türkei.Die Verhaftungen haben in der Bevölkerung massive Proteste ausgelöst. Da sämtliche Protestaktivitäten in Istanbul untersagt sind, kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Besonders an der Universität Istanbul eskalierten die Demonstrationen, als Sicherheitskräfte hart gegen die Protestierenden vorgingen. Am Mittwochabend gab es größere Demonstrationen in Istanbul, bei denen Özgür Özel und Dilek İmamoğlu, die Eheefrau von Ekrem İmamoğlu sprachen, und in Ankara, sowie in mehereren Städten. Die Lage bleibt sehr dynamisch.Was bedeuten die Verhaftungen für die innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Türkei? Wie werden diese sich auf die Demokratie und das Ansehen der Türkei auswirken?Tina Blohm: Noch sind die Ereignisse ganz frisch – und die Dinge können sich sehr rasch wieder ändern. Aber es herrscht das Gefühl vor, dass die Verhaftungen eine neue Stufe der Unterdrückung der Opposition darstellen. Viele Menschen haben nicht damit gerechnet, dass Ekrem İmamoğlu – populär im In- und Ausland – tatsächlich festgenommen wird. In den kommenden Tagen und Wochen wird sich zeigen, wie stark und geeint die CHP auftritt und wie sie ihre Auftritte in der Öffentlichkeit und im Parlament bestmöglich nutzt. Eine entscheidende Frage wird sein, ob ihre Anhänger und die oppositionelle Zivilgesellschaft im Protest auf die Straße gehen werden. Selbst wenn es sichtbare Proteste geben wird, besteht eine große Gefahr darin, dass diese nach einigen Wochen abflauen. Und es könnte zum ‚new normal‘ gehören, dass die festgenommenen Politiker inhaftiert bleiben.Für die Demokratie in der Türkei bedeutet dies nichts Gutes: Die Medienberichterstattung ist bereits zum großen Teil regierungsnah – viele Menschen im Land schenken den Vorwürfen gegen die Opposition daher Glauben. Das Justizsystem wird weiter politisch missbraucht und verliert seine Unabhängigkeit. Der Instrumentenkasten zum Vorgehen gegen Regierungskritiker ist gut bestückt und kann auch für Aussagen und Handlungen genutzt werden, die lange zurückliegen. Ob dies dem Ansehen der Türkei schadet, bleibt abzuwarten. In einem geopolitischen Klima, in dem autoritäre Tendenzen zunehmen und außenpolitische Allianzen immanent wichtig sind, können die Themen Demokratie und Menschenrechte leichter aus dem Blick geraten. Gerade deswegen darf man sich nicht an die heutigen Festnahmen ‚gewöhnen‘ – und es gibt sowohl in der Türkei als auch international genug Menschen, die nicht bereit sind, diese Entwicklungen einfach hinzunehmen.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal