Ciao, Wunschdenken

18.03.25 08:18 Uhr

Europa befindet sich in der China-Politik an einem entscheidenden Wendepunkt. Bis vor wenigen Jahren ging man in westlichen Hauptstädten vielfach davon aus, dass intensive Handelsbeziehungen indirekt auch zu einer politischen Liberalisierung in China führen würden. Die jüngere Entwicklung hat jedoch gezeigt, dass diese Erwartung vor allem politisches Wunschdenken war und der wachsenden Komplexität im Verhältnis zu Peking nicht gerecht wird.Spätestens seit 2019 – als die EU die Volksrepublik zugleich als Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale bezeichnete – ist klar, wie vielschichtig die Beziehungen in den 2010er Jahren geworden sind. Obwohl das Land hinsichtlich Handel, Technologie und bei globalen Herausforderungen wie dem Klimaschutz nach wie vor eine Schlüsselrolle spielt, stellt sich die Frage, wie Europa seine Interessen und Werte im Umgang mit einer immer selbstbewussteren Großmacht wirksam vertreten kann. Die folgenden sechs Thesen zeigen, wie eine strategische Neuausrichtung gelingen könnte.Erstens: Europa muss China mit klarem Realitätssinn begegnen und darf sich nicht länger von Hoffnungen und Erwartungen leiten lassen. Die Annahme, man könne China mittels Handel liberalisieren („Wandel durch Handel“), erwies sich als Illusion. Vielmehr tritt China als selbstbewusste geopolitische Großmacht auf, fordert die USA als Hegemon heraus und propagiert alternative Weltordnungskonzepte. Diese unterscheiden sich deutlich von der nach 1945 etablierten regelbasierten Ordnung.Die deutsche China-Strategie 2023 war ein wichtiger Schritt, diese Entwicklung offen zu benennen und als Grundlage für die weitere bilaterale Zusammenarbeit anzuerkennen. Ein strategischer Umgang mit China verlangt deshalb eine ungeschönte Bestandsaufnahme: Wo liegen echte Kooperationschancen, wo lauern Risiken? Nur mit klarem Blick lässt sich eine Politik formulieren, die weder in Naivität noch in blinden Alarmismus verfällt.Eine wirksame China-Politik setzt Geschlossenheit voraus.Zweitens: Eine wirksame China-Politik setzt Geschlossenheit voraus – Europäische Einigkeit statt nationaler Alleingänge lautet der Imperativ. Jahrelang pflegten EU-Staaten bilaterale Sonderbeziehungen zu Peking, oft aufgrund kurzfristiger Wirtschaftsinteressen. Das Ergebnis war und ist ein Flickenteppich unterschiedlicher Ansätze, den China geschickt zu nutzen wusste – etwa durch die 17+1-Initiative, die in einigen Hauptstädten zunächst als lukrative Chance galt.Nur wenn Europa geeint auftritt, kann es seine wirtschaftliche und politische Hebelkraft voll ausschöpfen, etwa um faire Handelsregeln einzufordern oder Verstöße zu ahnden. Die künftige deutsche Bundesregierung sollte ihre China-Politik daher konsequent europäisch denken und Schlüsselfragen in enger Abstimmung mit Brüssel und den Mitgliedstaaten klären. Genau hier liegt Europas Stärke: in einer gemeinsamen Haltung, die den eigenen Interessen Gewicht verleiht.Drittens: Europa muss seine Interessen und Werte sowie die regelbasierte internationale Ordnung entschlossen verteidigen – insbesondere in einer Phase, in der transatlantische Spannungen mit den USA zunehmen und China zugleich seinen Einfluss in internationalen Gremien ausbaut. Die Verteidigung dieser Ordnung ist kein bloßes Nice-to-have, sondern überlebenswichtig für Europa.Gerade mittelgroße und kleinere Staaten sind darauf angewiesen, dass nicht das Recht des Stärkeren dominiert. Deshalb sollte die EU klare Linien ziehen, wo fundamentale Normen verletzt werden. Differenzen und Rechtsbrüche müssen auf Arbeitsebene offen benannt und, wenn nötig, gemeinsam mit den Partnern sanktioniert werden. Es geht nicht um moralische Belehrungen, sondern um den Schutz jener Ordnung, die Europas Sicherheit und Freiheit garantiert.Eine zukunftsfähige China-Politik muss Wirtschaftssicherheit und technologische Souveränität in den Mittelpunkt rücken.Viertens: Eine zukunftsfähige China-Politik muss Wirtschaftssicherheit und technologische Souveränität in den Mittelpunkt rücken – so wie es die Volksrepublik selbst seit Jahren tut, indem sie Industriepolitik und Innovation strategisch fördert. Die jüngsten Krisen – von der Corona-Pandemie bis zum russischen Krieg in der Ukraine – haben gezeigt, wie riskant einseitige Abhängigkeiten sein können. Europa importiert aus China zahlreiche strategische Güter, von seltenen Erden über Pharmawirkstoffe bis hin zu Komponenten für Schlüsseltechnologien wie Batterien oder Halbleiter. Damit hält Peking potenzielle Druckmittel in der Hand, um im Ernstfall politischen Einfluss auszuüben. De-Risking lautet daher das Gebot der Stunde: keine Abkopplung, sondern eine gezielte Diversifizierung von Bezugsquellen und Absatzmärkten.Zugleich ist der Ausbau europäischer Produktionskapazitäten unverzichtbar. Wo nötig, sollten Investitionskontrollen und Exportbeschränkungen greifen, um Sicherheitsrisiken zu minimieren. Ebenso ist es wichtig, Forschung und Entwicklung zu stärken, damit Europa nicht von chinesischem Know-how abhängt. So wird Handel zu einer strategischen Angelegenheit: offen, aber vorausschauend – damit Europa nicht erpressbar wird, sondern auf Augenhöhe agieren kann.Fünftens: Bei aller Rivalität darf die Verbindung zu China nicht abreißen. Ob Klimakrise, Kriege, Pandemiebekämpfung oder Stabilisierung der Weltwirtschaft – ohne Pekings Mitwirkung lassen sich globale Herausforderungen kaum lösen. Europa muss daher überlegen, in welchen Feldern eine konstruktive Zusammenarbeit trotz Spannungen sinnvoll und realistisch ist. Die Klimapolitik ist hier ein Paradebeispiel: Als weltweit größter Emittent von Treibhausgasen kann China beim Klimaschutz nicht außen vor bleiben. Auch regionale Krisen von Afrika bis Südostasien, bei denen China als Geldgeber oder Vermittler auftritt, bedürfen genauerer Betrachtung.Allerdings darf Dialog nicht mit Unterordnung verwechselt werden. Europa sollte eine selbstbewusste, aber verhandlungsbereite Haltung einnehmen: gemeinsame Lösungen dort suchen, wo sie beiden Seiten nützen, ohne dabei die eigenen Interessen und Werte zu verleugnen. Ein reger hochrangiger Austausch kann helfen, Missverständnisse abzubauen und Risiken besser zu managen. Zugleich gilt es, gemeinsame Interessen – etwa bei WTO-Reformen oder Entwicklungsprojekten – gezielt zu sondieren. Eine durchdachte Balance zwischen Austausch, Kooperation und diplomatischer Härte wahrt Europas Handlungsspielräume in einer zunehmend fragmentierten Welt.Eine durchdachte Balance zwischen Austausch, Kooperation und diplomatischer Härte wahrt Europas Handlungsspielräume.Sechstens: Eine erfolgreiche China-Politik setzt fundierte Expertise voraus. Politische Entscheidungen müssen stärker als bislang auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Einschätzungen gestützt werden. Obwohl es in Europa – und speziell in Deutschland – erstklassige China-Kennerinnen und -Kenner an Universitäten, in Stiftungen, Thinktanks und Unternehmen gibt, ist die Einbindung in die Politik noch ausbaufähig. Wer Chinas innenpolitische Dynamiken, kulturelle Eigenheiten und geopolitische Leitmotive nicht versteht, kann schnell falsche Schlüsse ziehen – etwa wenn es um Pekings strategische Prioritäten im Indo-Pazifik geht.Die deutsche Ampel-Koalition hat bereits große Schritte unternommen, verstärkt externe Expertise einzubinden – etwa bei der Erarbeitung der deutschen China-Strategie. Die künftige Bundesregierung sollte diese Ansätze weiterverfolgen, etwa durch dauerhafte Expertenbeiräte oder gezielte Förderprogramme für den sinologischen Nachwuchs im öffentlichen Dienst. Eine institutionalisierte Wissens- und Kompetenzbasis sorgt für durchdachte Entscheidungen und reduziert das Risiko politischer Fehleinschätzungen.Europa steht an einem Wendepunkt im Verhältnis zur aufstrebenden Großmacht China. Die hier skizzierte Strategie verfolgt einen illusionslosen und geschlossenen Ansatz, verteidigt entschlossen Interessen und Werte, stärkt wirtschaftliche Resilienz, pflegt den Dialog und basiert auf fundierter Expertise. Noch ist offen, welchen Kurs die EU und insbesondere die künftige deutsche Bundesregierung einschlagen werden. Doch die Weichen müssen jetzt gestellt werden: Wird Europa seine Freiheit, seinen Wohlstand und die regelbasierte Ordnung in einer von China geprägten Welt bewahren – oder seine Handlungsspielräume verlieren? Eine vorausschauende, entschlossene und zugleich flexible China-Politik ist unabdingbar. Gelingt sie, kann Europa gestärkt aus diesem globalen Umbruch hervorgehen. Bleibt der strategische Kurswechsel jedoch aus, droht ein substanzieller Verlust an Einfluss – gefangen im geopolitischen Spannungsfeld zwischen Peking und Washington.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal