Aufkauf von Staatsanleihen durch EZB teilweise verfassungswidrig - Bundesbank-Teilnahme befristet
Der billionenschwere Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) ist teilweise verfassungswidrig.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe urteilte am Dienstag, dass die Käufe der Notenbank in mehreren Punkten gegen das Grundgesetz verstoßen. Der zweite Senat unter Vorsitz von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle erklärte, die Bundesregierung hätte dagegen vorgehen müssen, dass die EZB ihre Beschlüsse nicht auf deren Verhältnismäßigkeit überprüft habe. Die Notenbank hätte die wirtschaftlichen Folgen für Sparer und Immobilienpreise in den Blick nehmen müssen. Der EZB-Rat müsse nun in einem neuen Beschluss zeigen, dass das Programm verhältnismäßig sei. Ansonsten sei es der Bundesbank untersagt, nach einer Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an den Käufen teilzunehmen.
"Bundesregierung und Deutscher Bundestag sind aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, der bisherigen Handhabung der PSPP (das EZB-Aufkaufprogramm) entgegenzutreten", heißt es in dem Urteil. Voßkuhle räumte ein, die Entscheidung möge angesichts der Corona-Krise "auf den ersten Blick irritierend wirken". Deshalb stellte er klar: Der EZB würden "keine Handlungsmöglichkeiten von vornherein aus der Hand geschlagen". Die Notenbank sei aber verpflichtet, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen und entsprechend zu dokumentieren. Das Bundesverfassungsgericht sehe im Aufkaufprogramm der EZB zudem keine unzulässige Staatsfinanzierung. Auch betreffe das Urteil nicht die aktuellen EZB-Beschlüsse anlässlich der Corona-Krise.
Bei dem Verfahren ging es um das laufende und bereits mehrfach verlängerte EZB-Programm zum Kauf von Staatspapieren der Euro-Länder, das in der Fachwelt "Public Sector Purchase Programme" (PSPP) genannt wird. Die Käufe waren in den vergangenen Jahren die wichtigste Waffe der Euro-Wächter gegen eine schwache Konjunktur und eine aus ihrer Sicht zu niedrige Inflation. Die Währungshüter begannen mit den Käufen im März 2015, um ein Abrutschen der Wirtschaft im Euro-Raum in eine gefährliche Deflation zu verhindern. Bis Ende 2018 wurden Titel im Volumen von rund 2,1 Billionen Euro erworben. Nach einer zeitweiligen Unterbrechung nahmen die Währungshüter das Kaufprogramm im November 2019 wieder auf. Inzwischen haben die EZB und die nationalen Notenbanken der Euro-Länder Staatsanleihen im Volumen von rund 2,2 Billionen Euro gekauft.
EUGH-URTEIL FÜR NICHT BINDEND ERKLÄRT
Experten sehen die Anleihenkäufe durch den Richterspruch nicht gefährdet. "Im Kern hat das Verfassungsgericht der EZB grünes Licht gegeben", kommentierte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer die Entscheidung. Die Bundesbank dürfe sich zwar nur dann weiter an Anleihenkäufe beteiligen, wenn die EZB diese Verhältnismäßigkeitsprüfung nachhole. "Aber mit ihrer Armada an Spezialisten wird es ihr ein Leichtes sein, eine solche Prüfung vorzunehmen. Die Anleihenkäufe der EZB werden weitergehen." Dagegen sieht Uwe Burkert, Chefvolkswirt der LBBW durchaus Sprengstoff in dem Urteil. "Der Ausweg für die EZB könnte darin bestehen, dass sie ihre Beschlüsse gegenüber der Marktöffentlichkeit und den Richtern nochmals darlegt." Im Moment sei es nur schwer vorstellbar, dass der Bundesbank und womöglich sogar der EZB aus Karlsruhe tatsächlich derart gravierend ins Steuerrad gegriffen werde.
Mit der Entscheidung hatten mehrere Verfassungsbeschwerden teilweise Erfolg. Beschwerdeführer waren unter anderen der frühere CSU-Politiker Peter Gauweiler und AfD-Gründer Bernd Lucke. Das Urteil erging mit sieben zu eins Stimmen. Bereits im Sommer 2017 hatte das Bundesverfassungsgericht Bedenken geäußert, ob die Käufe noch in den Kompetenzbereich der Euro-Notenbank fallen. Die Karlsruher Richter sahen "gewichtige Gründe", dass diese gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstoßen, und hatten sich mit mehreren Fragen an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gewandt. Dieser hatte in einem viel beachteten Urteil im Dezember 2018 die Käufe für rechtens erklärt und damit der EZB einen weitgehenden Freifahrtschein ausgestellt. Das EuGH-Urteil wurde vom Verfassungsgericht jetzt für nicht mehr nachvollziehbar und deshalb für nicht bindend erklärt.
Ökonomen-Stimmen zum BVG-Urteil zu EZB-Anleihenkäufen
Uwe Burkert, Chefvolkswirt der LBBW:
"Das Urteil beinhaltet Sprengstoff. Zwar ist das Ankaufprogramm der EZB keine monetäre Staatsfinanzierung, was aus der Sicht der EZB ein Teilerfolg ist. Aber die EZB überschreitet nach Ansicht des BVerfG gleichwohl ihre Kompetenzen. Das kann zwar der EZB egal sein, denn eine Zentralbank richtet sich nach dem, was voraussichtlich funktioniert, nicht unbedingt nach dem, was das "mildeste Mittel" ist. Und hier muss man sagen: Am Finanzmarkt gibt es keine wiederholbaren Situationen, in denen sich dies gleichsam wie im Laborversuch feststellen ließe. Aber der Bundesbank wäre es nach dem Urteil und nach Ablauf einer dreimonatigen Übergangsfrist untersagt, künftig an dem PSPP teilzunehmen."
Carsten Brzeski, Chefökonom der ING:
"Eine optimistische Interpretation könnte sein, dass es sich um viel Bellen ohne Beißen handelt und das alles gut werden wird, solange die EZB darlegt, dass sie die wirtschaftlichen Folgen ihrer Entscheidungen gut durchdacht hat. Eine pessimistische Interpretation hingegen wäre, dass keine zusätzlich EZB-Analyse die deutschen Richter überzeugen können wird, was das Ende für die Anleihenkäufe in Form des sogenannten Quantitative Easing bedeuten könnte."
Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank:
"Das Bundesverfassungsgericht hat heute wie erwartet die PSPP-Staatsanleihenkäufe der EZB nicht gestoppt. Die Richter sehen darin keinen Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung. Sie bemängeln jedoch, dass die EZB die Verhältnismäßigkeit der Käufe nicht überprüft habe, wobei die EZB das recht einfach nachholen kann. Am Ende dürfte das Bundesverfassungsgericht auch das neue PEPP-Anleihekaufprogramm nicht stoppen."
Thomas Altmann, Finanzanalyst bei QC Partners
"Das Bundesverfassungsgericht weist die EZB in die Schranken. Dass sich das Bundesverfassungsgericht der Rechtsprechung des EuGH nicht vollumfänglich anschließt, ist ein deutliches Zeichen. Mit dem Bundesverfassungsgericht stellt sich das Verfassungsgericht des größten Eurostaates der EZB entgegen. Mit dem heutigen Tag wurden die Hürden für zukünftige EZB-Kaufprogramme deutlich nach oben geschraubt. Damit wurde auch das 'whatever it takes' der EZB ein Stück weit ausgehöhlt."
Weidmann will Erfüllung der Karlsruher Vorgabe zu EZB-Anleihekäufen unterstützen
Bundesbankpräsident Jens Weidmann will sich für die Erfüllung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu den EZB-Anleihekäufen einsetzen.
"Der EZB-Rat hat nun eine Frist von drei Monaten, seine Abwägungen der Verhältnismäßigkeit des Programms darzulegen. Die Erfüllung dieser Vorgabe unter Beachtung der Unabhängigkeit des EZB-Rats werde ich unterstützen", erklärte er am Mittwoch wenige Stunden nach der Verkündung des Urteils. Das Bundesverfassungsgericht befand die billionschweren Aufkäufe der Notenbank für teilweise verfassungswidrig.
Die Europäische Zentralbank (EZB) habe ihre Beschlüsse nicht auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft, so die Karlsruher Richter. Der EZB-Rat müsse in einem neuen Beschluss zeigen, dass das Programm verhältnismäßig sei. Andernfalls sei es der Bundesbank untersagt, nach einer Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an den Käufen teilzunehmen.
Weidmann erklärte, das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil wichtige Gestaltungsmerkmale des Anleihenkaufprogramms hervorgehoben, "die in der Gesamtschau einen ausreichenden Abstand zur monetären Staatsfinanzierung" sicherten: "Und auf dessen Bedeutung habe ich in der Vergangenheit hingewiesen", erklärte der Bundesbankchef.
Merkel: Bundesverfassungsgericht weist EZB Grenzen auf
Das Bundesverfassungsgericht weist nach den Worten von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit seinem Urteil zu Staatsanleihekäufen deutlich auf die Grenzen der Europäischen Zentralbank (EZB) hin. Dies sei auch institutionell von Bedeutung, denn das Gericht stelle sich bis zu einem gewissen Grad gegen den Europäischen Gerichtshof (EuGH), sagte Merkel am Dienstag in einer Sitzung der Unionsfraktion, wie die Deutsche Presse-Agentur von Teilnehmern erfuhr.
Zudem würden bestimmte Forderungen an die Begründungspflicht der EZB gestellt, die Bundesregierung und Bundestag einfordern sollten, machte Merkel weiter deutlich. Das Urteil werde die Bundesregierung nun genau auswerten müssen.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sprach ebenfalls davon, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil der EZB klar die Grenzen aufzeige. Außerdem habe das Gericht die Verhältnismäßigkeit des Anleihekaufprogramms deutlich in Frage gestellt, erklärte Dobrindt. "Damit spricht das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Handeln der EZB ein klares Warnsignal aus. Fakt ist: Das Urteil ist die unmissverständliche Aufforderung an die EZB, zurückzukehren zu ihrem eigentlichen Auftrag der Sicherstellung der Stabilität unserer gemeinsamen Währung."
Karlsruhe (Reuters) / (dpa-AFX)
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