Wirtschaft wächst weniger

Wirtschaftsweise senken Wachstumsprognose 2021 auf 2,7 Prozent

10.11.21 13:33 Uhr

Wirtschaftsweise senken Wachstumsprognose 2021 auf 2,7 Prozent | finanzen.net

Die deutsche Wirtschaft wächst in diesem Jahr nach Einschätzung der sogenannten Wirtschaftsweisen weniger stark als noch im Frühjahr erwartet.

In seinem Jahresgutachten senkte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) die Prognose für das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahr 2021 auf 2,7 (März: 3,1) Prozent. Für nächstes Jahr erwarten die Ökonomen eine Zunahme des BIP um 4,6 Prozent.

"Die Erholung der deutschen Wirtschaft im Sommer dieses Jahres hat sich fortgesetzt. Allerdings wird sie durch vielfältige angebotsseitige Engpässe gedämpft", erklärten die Wirtschaftsweisen. Wenn sich im nächsten Jahr die private Nachfrage nach Dienstleistungen und die Industrieproduktion normalisierten, dürfte das Wirtschaftswachstum weiter anziehen. Das Vorkrisenniveau aus dem vierten Quartal 2019 werde vermutlich im ersten Quartal 2022 wieder erreicht.

"Die Unsicherheit über die kommende wirtschaftliche Entwicklung ist hoch", betonte der SVR. Erneute gesundheitspolitische Einschränkungen oder länger anhaltende Lieferengpässe könnten die Erholung stärker belasten.

Mit ihrer neuen Prognose für 2021 zeigen sich die Wirtschaftsweisen etwas optimistischer als die Bundesregierung, die für dieses Jahr 2,6 Prozent und für nächstes 4,1 Prozent Wachstum erwartet. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute hatten ihrerseits für 2021 lediglich einen BIP-Zuwachs um 2,4 Prozent, für 2022 dann aber eine deutlichere Steigerung um 4,8 Prozent vorhergesagt.

Risiken bei der Inflationsentwicklung

Die deutlich gestiegene weltweite Nachfrage habe zu hohen Rohstoff- und Energiepreisen sowie angebotsseitigen Engpässen geführt, erklärte der SVR in dem 471 Seiten starken Gutachten mit dem Titel "Transformation gestalten: Bildung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit". Dies dürfte die ohnehin schon erhöhte Verbraucherpreisinflation in Deutschland in diesem Jahr auf 3,1 Prozent steigen lassen. Im nächsten Jahr dürfte sie dann auf 2,6 Prozent zurückgehen. Länger anhaltende angebotsseitige Engpässe, höhere Lohnabschlüsse und steigende Energiepreise stellten Risiken dar, durch die "eigentlich temporäre Preistreiber zu persistent höheren Inflationsraten führen könnten".

"Die Fiskalpolitik sollte nach der Krise normalisiert, die Tragfähigkeit und Krisenresilienz der Staatsfinanzen sollten wieder gestärkt werden", sagte SVR-Mitglied Volker Wieland. "Die Geldpolitik trägt zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum am besten durch Sicherstellung der Preisstabilität bei. Daher sollte das Ende der pandemiebedingten geldpolitischen Maßnahmen ins Auge gefasst und eine Normalisierungsstrategie kommuniziert werden", forderte er. Zunehmende Inflationsrisiken sowie steigende Abhängigkeiten der öffentlichen Haushalte vom niedrigen Zinsniveau in einigen Euro-Ländern könnten sich zu einem Dilemma für die Geldpolitik entwickeln. "Wenn die Geldpolitik zu spät oder zu inkonsequent reagiert, kann dies die wirtschaftliche Entwicklung gefährden", warnte Wieland.

Für das Gelingen der Transformation würden in Deutschland umfangreiche private Investitionen gebraucht. Dafür müssen wachstumsfreundliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben sollten nach dem Petitum der Wirtschaftsweisen priorisiert und die vielfältigen nicht-monetären Hemmnisse abgebaut werden. Dazu könne etwa eine Vereinfachung von Planungs-, Genehmigungs- und Gerichtsverfahren und eine Bündelung von Kapazitäten und Expertise in operativ unabhängigen Institutionen beitragen.

Kein größerer Nachholeffekt zu befürchten

In der Corona-Krise dürfte nach vorläufigen Befunden aufgrund sozialstaatlicher Maßnahmen wie der Zahlung von Kurzarbeitergeld die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen nicht zugenommen haben, heißt es in dem Gutachten weiter. Im Unterschied zu vergangenen Rezessionen sei in der Corona-Krise die Anzahl der Unternehmensschließungen gesunken, und es seien weniger Arbeitsverhältnisse beendet worden. Insgesamt sei also "die Reallokationsdynamik zurückgegangen", erklärte der SVR. "Ein Nachholeffekt in größerem Umfang ist aktuell nicht zu erwarten." Um die Transformation zu unterstützen, sollten die Rahmenbedingungen für Gründungen, geordnete Marktaustritte und die Mobilität von Beschäftigten verbessert werden.

Weiterbildung solle fester Bestandteil im Erwerbsleben werden. Die Erwerbsanreize für Zweitverdienende sollten laut SVR erhöht werden. Dazu könnten eine Reform des Ehegattensplittings und der Ausbau der Kinderbetreuung beitragen. Um die Verfügbarkeit von Daten als Produktionsfaktor zu erhöhen, sollten zudem die Bedingungen für das souveräne Teilen und gemeinschaftliche Nutzen von Daten verbessert werden. "Deutschland braucht eine kohärente und übergreifende Digitalstrategie auf Bundesebene, die Maßnahmen priorisiert, die verschiedenen Initiativen stärker verzahnt und Doppelstrukturen vermeidet", sagte die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer.

Der Sachverständigenrat forderte auch, die internationale Klimakooperation dringend zu verstärken, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreichen zu können. Dazu könne ein gemeinsamer Klimaklub mit wichtigen Handelspartnern wie den USA und China beitragen. Eine Stärkung des Lastenausgleichs durch Transfers von fortgeschrittenen Volkswirtschaften an Entwicklungs- und Schwellenländer, der Aufbau klimafreundlicher Wertschöpfungsketten sowie Technologiekooperationen seien wichtige Hebel der internationalen Klimakooperation. "Beim Klimaschutz wird es darauf ankommen, neue Technologien zur Marktreife zu bringen und weltweit verfügbar zu machen", sagte SVR-Mitglied Veronika Grimm.

Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com

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November 10, 2021 04:30 ET (09:30 GMT)

Von Andreas Kißler

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