Wegen Ukraine-Krieg

Wirtschaftsweise senken Prognose für deutsches Wirtschaftswachstum deutlich - Risiko einer Rezession

30.03.22 16:02 Uhr

Wirtschaftsweise senken Prognose für deutsches Wirtschaftswachstum deutlich - Risiko einer Rezession | finanzen.net

Die deutsche Wirtschaft wird in diesem Jahr aufgrund des Ukraine-Krieges und der hohen Energiepreise deutlich weniger stark wachsen als noch im Herbst erwartet.

Das erklärten die sogenannten Wirtschaftsweisen in ihrem neuen Gutachten. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) senkte seine Prognose für das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahr 2022 auf 1,8 (November: 4,6) Prozent.

Vor Ausbruch des Krieges hätten sowohl die zunehmende Industrieproduktion als auch der robuste Arbeitsmarkt für eine konjunkturelle Erholung gesprochen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine habe die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nun allerdings "drastisch verschlechtert", wie es in dem 78 Seiten starken Gutachten heißt. Die Unsicherheit über die wirtschaftliche Entwicklung habe sich beträchtlich erhöht. Der Angriffskrieg dämpfe das Wachstum und trage zum Anstieg der Energie- und Verbraucherpreise bei.

"Durch den Krieg werden die wegen der Corona-Pandemie bereits angespannten Lieferketten zusätzlich beeinträchtigt. Gleichzeitig belasten die nochmals kräftig gestiegenen Preise für Erdgas und Erdöl die Unternehmen und den privaten Konsum", erklärte Achim Truger, Mitglied des Sachverständigenrates. Im Sommerhalbjahr 2022 dürfte jedoch der Konsum kontaktintensiver Dienstleistungen zunehmen und positiv zur Entwicklung des BIP beitragen. Die Corona-Pandemie stelle aber weiterhin ein Risiko für das Wachstum dar.

Insgesamt sei die neue Prognose mit sehr großer Unsicherheit behaftet, da die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sich aktuell nur schwer abschätzen ließen. "Insbesondere eine weitere Verschärfung des Konfliktes sowie eine Ausweitung der Sanktionen können die deutsche und europäische Wirtschaft deutlich stärker belasten", warnten die Wirtschaftsweisen. Die große Abhängigkeit von russischen Energielieferungen berge das erhebliche Risiko einer geringeren Wirtschaftsleistung bis hin zu einer Rezession bei gleichzeitig deutlich höheren Inflationsraten.

Mit ihrer neuen Prognose für 2022 zeigen sich die Wirtschaftsweisen pessimistischer als die Bundesregierung, die für dieses Jahr 3,6 Prozent Wachstum erwartet. Allerdings stammt diese Prognose von Ende Januar, als Russland noch nicht den Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet hatte. Auch die Wirtschaftsforschungsinstitute Ifo, IWH-Halle, RWI und IfW Kiel waren in ihren jüngsten Prognosen im Herbst optimistischer als der SVR und prognostizierten Wachstum von über 2 Prozent für dieses Jahr.

Risiko einer Lohn-Preis-Spirale steigt

Wegen der stark gestiegenen Energiepreise dürfte sich die Inflationsrate in Deutschland nach Ansicht der Wirtschaftsweisen in diesem Jahr nahezu auf 6,1 Prozent verdoppeln nach 3,1 Prozent im Vorjahr. Im kommenden Jahr dürfe die Inflationsrate dann auf 3.4 Prozent zurückgehen.

"Die hohe Inflation und die steigenden Inflationserwartungen werden voraussichtlich die Tarifverhandlungen beeinflussen. Die Dynamik für Lohnforderungen dürfte ab dem zweiten Halbjahr 2022 zunehmen. Damit steigt das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale", sagte SVR-Mitglied Veronika Grimm.

Für das Jahr 2022 erwartet der Sachverständigenrat ein Wachstum der von den Unternehmen tatsächlich gezahlten Löhne von 2,5 Prozent. Im kommenden Jahr dürften die Löhne um 4,4 Prozent steigen.

Die Wirtschaftsweisen appellierten an die Bundesregierung, angesichts des Streits um russische Energielieferungen auf alternativen Quellen zu setzten. "Deutschland ist stark von russischen Energielieferungen abhängig. Ein Stopp dieser Lieferungen birgt das Risiko, dass die deutsche Volkswirtschaft in eine tiefere Rezession abrutscht und die Inflation noch stärker zunimmt", erklärte SVR-Mitglied Monika Schnitzer.

Deutschland sollte Abhängigkeit von Russland reduzieren

Ihr Kollege Volker Wieland rief Deutschland daher auf, "umgehend alle Hebel" in Bewegung zu setzen, um sich gegen einen möglichen Stopp russischer Energielieferungen zu wappnen und gleichzeitig die Abhängigkeit von diesen Importen rasch zu beenden. So könne die Energiesicherheit in Deutschland auf Dauer erhöht werden - auch wenn dadurch die Energiepreise für einige Zeit erhöht bleiben würden.

"Eine höhere Energiesicherheit stärkt die Position Deutschlands und der EU gegenüber Russland. Gleichzeitig kann über eine größere Unabhängigkeit die Resilienz der deutschen Volkswirtschaft gesteigert werden", heißt es in dem Gutachten der Wirtschaftsweisen.

Trotz der angespannten Lage erwartet der Sachverständigenrat eine weitere Erholung auf dem Arbeitsmarkt. Die Anzahl der Arbeitslosen dürfte in diesem Jahr auf 2,35 Millionen fallen nach 2,61 Millionen im Jahr 2021. Für das kommende Jahr erwarten die Wirtschaftsweisen einen Rückgang auf 2,24 Millionen.

Das Finanzierungssaldo des Staates dürfte sich laut der neuen Prognose in diesem Jahr auf 2,6 Prozent des BIP nach 3,7 Prozent im Jahr 2021 verringern und im kommenden Jahr auf 2,2 Prozent fallen.

Der Sachverständigenrat prognostiziert für die Eurozone für die Jahre 2022 und 2023 ein Wirtschaftswachstum von jeweils 2,9 Prozent. Die Inflation im Euroraum dürfte in diesem Jahr 6,2 Prozent und 2,9 Prozent im Jahr 2023 erreichen.

Für die Prognose unterstellen die Wirtschaftsweisen, dass die Energiepreise im Prognosezeitraum erhöht bleiben, es jedoch nicht zu einem Stopp russischer Energielieferungen kommt.

SVR/Wieland: Das Risiko einer Rezession ist substantiell

Das Risiko einer Rezession der deutschen Wirtschaft ist nach Ansicht des Wirtschaftsweisen Volker Wieland "substantiell". Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine berge ein hohes Risiko. Denn sollte Russland die Lieferungen von russischen Energieträgern stoppen oder der Westen ein Importembargo verhängen, würde sich die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands noch weiter verschlechtern.

Anders als hierzulande sei die US-Wirtschaft schon weit über den Vorkrisenstand von 2019 gewachsen. "Wir sind noch drunter und würden weiter zurückgeworfen", sagte Wieland bei der Vorstellung des Gutachtens der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR).

Die Wirtschaftsweisen gaben keine gemeinsame Position zur Frage ab, ob gegen Russland ein Energieembargo verhängt werden sollte. Während Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat, dies für verkraftbar hält, zeigte sich Wieland skeptischer.

"Das bringt die Wirtschaft nicht zum Stillstand, sondern es bringt uns vermutlich in eine tiefe Rezession, zumindest eine bedeutende Rezession, die auch von der Tiefe nicht unbedingt deutlich weniger wäre als der anfängliche Corona-Schock", sagte Wieland. Es würde damit zwar keine Schrumpfung des Bruttoinlandprodukts von 10 Prozent wie im zweiten Quartal 2020 erreicht werden, aber doch einen BIP-Rückgang im Jahresdurchschnitt von 2020. Das BIP war 2020 um 4,9 Prozent gesunken. "Das ist natürlich ein bedeutender Einbruch", warnte Wieland.

Es würde auch zu einer hohen Inflation kommen. Dabei müsse der Westen bedenken, dass ein Energieembargo vermutlich den Krieg nicht beenden würde und man den Importstopp länger durchstehen müsse. Eine tiefe Rezession und eine zweistellige Inflationsrate sei keine starke Position für den Westen, so Wieland.

In der Debatte um Lieferengpässe von russischer Energie sprach sich der Sachverständigenrat für eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken aus. Man könne die Abhängigkeit von russischem Gas reduzieren, indem man Gasverstromung durch die Kohleverstromung sowie eine Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken substituiert.

Von Andrea Thomas

BERLIN (Dow Jones)

Bildquellen: Hitdelight / Shutterstock.com, jvinasd / Shutterstock.com