Shanghai

China: Vom Liebling zum Risikofaktor

03.06.10 17:15 Uhr

Der Aktienmarkt in China gehört zu den weltweit schlechtesten in diesem Jahr. Anleger haben Angst vor weiteren Verlusten und dass sie DAX und Dow mit nach unten ziehen.

von Martin Blümel, Euro am Sonntag

Mitte Mai hat der US-Künstler Arturo Di Modica eine überlebensgroße Replik des berühmten „Charging Bull“ der Wall Street an Shanghais Ufermeile Bund aufgestellt. Das Symbol florierender Börsen – laut Di Modica wegen der Bronzeausführung „röter und stärker“ als das US-Pendant – zeigt dem historischen Finanzviertel sein Hinterteil und blickt über den Fluss auf das neue Finanzzentrum auf der Pudong-Seite. Fehlen eigentlich nur noch Anzeigetafeln für die aktuellen Börsenkurse. Die kommen in Kürze, versichert die Stadtverwaltung. Überlebensgroß und von allen Seiten lesbar.

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Der Zeitpunkt für derlei Pomp scheint allerdings schlecht gewählt: Chinas wichtigstes Börsenbarometer, der Aktienindex Shanghai Composite, ist seit Jahresbeginn um 20 Prozent gefallen – auf das niedrigste Niveau seit über einem Jahr. Ein böses Omen für die ihrerseits seit Anfang Mai ins Schlingern gerate­nen Börsen in Europa und Nordame­rika? Schon 2008 hat Shanghai vorzeitig einen Trendwechsel an den globalen Märkten signalisiert. Damals zum Guten: Während der Shanghai-Index schon im November 2008 wieder nach oben drehte, dauerte die Konsolidierung an der Wall Street und Europas Börsen bis März 2009. Jetzt das umgekehrte Vorzeichen: Chinas Börse drehte schon im November 2009 nach unten, während Dow, DAX, Nikkei und Co bis Ende April von Rekord zu Rekord eilten.

Anleger skeptisch

Aber warum fallen die Kurse in China? Die Wachstumsstory scheint auf den ersten Blick doch intakt. Mehr als zwölf Prozent legte die Konjunktur im ersten Quartal des Jahres zu. „Chinas Börse zeigt aber, dass ­etwas nicht stimmt“, findet der bekannte Investor Marc Faber. „Chinas Anleger schauen offensichtlich skeptisch in die Zukunft. Die Wirtschaft steht vor einem Abschwung. Wenn es dumm läuft, könnte daraus in den kommenden zwölf Monaten gar ein Absturz werden“, so Faber weiter. Er erwartet, dass das Wachstum ab der zweiten Jahreshälfte schwächer ausfallen wird als bisher, ebenso die Unternehmensgewinne.

Chinas aktuelles Problem, so scheint es, ist seine bisherige Stärke: Ausgehend von der staatlich dirigierten und kontrollierten Notenbank, gab es über die meist staatlich dirigierten und kontrollierten Geschäftsbanken bislang Unmengen an Liquidität in Form billigster Kredite. Zusätzlich zu einem Konjunkturpaket in Höhe von 400 Milliarden Euro hat Beijing im vergangenen Jahr eine erhöhte Kreditvergabe verfügt – insgesamt 9,6 Billionen Yuan, das sind 1,1 Billionen Euro, so viel wie nie zuvor. So hält man eine Wirtschaft am Laufen, auch wenn die Welt wie in den vergangenen zwei Jahren durch eine schwerwiegende Rezession steuert.

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Doch was ist der Preis einer solchen Politik? Akute Inflationsgefahr ist das eine, und dass große Mengen des billigen Geldes fehlgeleitet werden das andere. 60 Prozent des gesamten Wachstums Chinas wandert in Investitionen, so manche davon zweifelhaft, etwa im total überhitzten Immobiliensektor. Nur konsequent, dass in einigen Bereichen massive Überkapazitäten aufgebaut werden. Hedgefondsmanager Jim Chanos drückt es drastisch aus: China sei deswegen „in einer Tretmühle auf dem Weg zur Hölle“.

Inflationssorgen

Die „normale“ Lösung wäre, angesichts des hohen Wachstums die Liquidität zurückzufahren. Beijings Sichtweise scheint aber umgekehrt: „Wir haben durch die hohe Liquidität Wachstum geschaffen“, sagt Premier Wen Jiabao, um passenderweise im selben Atemzug trotz guter Wirtschaftsdaten vor einem Rückfall zu warnen. Bedeutet dies also, dass Beijing nun auf ewig den Antreiber spielen muss? Das Beispiel Japan lässt grüßen: Nippon kam dank der staatlichen Stimuli im Fantastilliar­denbereich ohne größere Rezessio­nen durch das ansonsten wachtums­schwache „verlorene Jahrzehnt“ der 90er-Jahre.

Aber Japan war und ist vom Problem der fallenden Preise, von Deflation, geplagt, während das China von heute von Inflationssorgen gedrückt wird. Die Lebenshaltungskosten in China sind jedenfalls im April so stark gestiegen wie seit eineinhalb Jahren nicht mehr. Binnen Jahresfrist legten die Verbraucherpreise um 2,8 Prozent zu, die Erzeugerpreise gar um 6,5 Prozent – Letzteres drückt überdies auf die Margen der Unternehmen und deren Gewinne. Bei Wohnimmobilien wiederum war der Preisanstieg so stark wie seit 2005 nicht. Man kann also davon ausgehen, dass Chinas Führung ihre Geldpolitik straffen wird. Erstes Indiz: Die Notenbank hat die Mindestreserven für Banken bereits dreimal in diesem Jahr erhöht.

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Und so schließt sich der Kreis: Weil Beijing offensichtlich bremst, fehlt es an Liquidität und Vertrauen, um die Kurse weiter anzutreiben. Dabei gibt sich die Regierung alle Mü­-he, die Maßnahmen nicht allzu drastisch erscheinen zu lassen, um die Bürger nicht zu verschrecken. Zu einer Zinserhöhung will sich die Regierung partout nicht durchringen – der Ausstieg aus der Politik des billigen Geldes soll butterweich vonstattengehen. Doch auch ohne Paukenschlag: Geldmenge und Neukredite sind rückläufig, die Restriktionen für Banken bei der Kreditvergabe nehmen zu (Grafik links). Den Anlegern in Shanghai und Hongkong ist das klar. Deshalb reagieren sie verschnupft auf die Versuche der Regierung, die Dinge unter Kontrolle zu bringen. Zudem fehlt es an anderen positiven Meldungen, etwa vom Außenhandel, die die po­litischen Aktivitäten in den Hintergrund drängen würden.

Exportwirtschaft schwächelt

Der Export hilft nicht, ganz im Gegenteil: Chinas Exporte erholen sich weit langsamer als Produktion und Investitionen. Gerade die Sorgen in Europa werden plötzlich auch zu Sorgen Chinas. Die Krise der süd­europäischen Staaten und des Euro werde die Nachfrage nach Produkten aus China dämpfen, warnt Chinas Nationale Entwicklungs- und Reform­kommission. Grundübel ist der schwache Euro. Durch die Anbindung des chinesischen Yuan an den Dollar hat der Euro gegenüber dem Yuan 22 Prozent verloren. Dies verteuert chinesische Waren.

Ein Problem, da Europa noch vor den USA Chinas wichtigster Handels­partner ist. Angesichts des schwächeren chinesischen Exports stimmten Beijing und Washington daher zuletzt versöhnliche Töne an. China werde in der Währungspolitik un­abhängig agieren, so Hu Jintao zum Auftakt des Strategie- und Wirtschaftsdialogs zwischen den USA und China. Eine Aufwertung des Yuan wird wohl bis zum dritten Quartal auf sich warten lassen.

Beijings Bremsmanöver hat auch massive direkte Auswirkungen auf die Börsen. Wegen der gestiegenen Eigenkapitalanforderungen müssen die fünf größten Banken Chinas zusammen 40 Milliarden Euro am Aktienmarkt aufnehmen. Dazu kommt eine der größte Neuemissionen aller Zeiten: Mehr als 20 Milliarden Euro will die Agricultural Bank beim geplanten Börsengang im Juli aufnehmen. „Ein großer Überhang, der es schwer macht, für die Kurse optimistisch zu bleiben“, sagt Arthur Kroeber von der Investmentfirma Dragon Capital in Beijing.

Das Absurde an der Situation in China: Trotz anziehender Inflation, Konjunkturüberhitzung, allfälliger Zinserhöhungen, Spekulationsblasen am Immobilienmarkt, Brems­manövern zur Drosselung des Wachstumstempos, milliardenschwerer Kapitalerhöhungen im Bankensektor, Aktienüberhang durch Neuemissionen sowie versteckter Problemkredite bei staatlichen Investmentgesellschaften sind China-Aktien so günstig wie lange nicht. Hongkong-Aktien werden im Schnitt mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 14 gehandelt, Shanghai-Werte mit 20. Der Prämienabstand der A-Aktien zu den in Hongkong notierenden und für Ausländer frei zugänglichen H-Aktien ist damit so gering wie selten zuvor. In der Vergangenheit war das oft ein Kaufsignal. Allerdings deutet kaum etwas darauf hin, dass sich das Stimmungstief über den Festlandbörsen rasch verzieht. Denn so schnell wird sich keines von Chinas Problemen auflösen. Auch die überlebensgroßen Kurstafeln vor dem überlebensgroßen Bullen an Shanghais Prachtpromenade Bund werden daran nichts ändern.

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Währungsgewinne helfen
Shanghais Börse verliert, Hongkongs Börse verliert, und trotz­dem stehen viele China-Fonds im Zwölfmonatsvergleich noch gut da. Am besten schnitten zuletzt Fonds ab, die breit gestreut in die Großregion investieren, also auch in Taiwan und Singapur. Dazu profitierten Anleger zuletzt vor allem von der Aufwertung des US-Dollar, an den unter anderem der Hongkong-Dollar gekoppelt ist. Beispiele: Skandia Greater China, Schroder Hong Kong, Comgest Greater China.

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Short-Zertifikate und Short-ETFs
Wer auf weiter fallende Kurse in China setzen will, für den bieten sich Short-Zertifikate an. (Vorsicht, höchst spekulativ! Das Zeritfikat beinhaltet einen Knock-out und damit mit dem Risiko des Totalverlusts.) Interessant ist etwa das Short-Zertifikat auf den China-Shenzhen-B-Aktienindex, emittiert von der Royal Bank of Scotland (ISIN: NL?000?078?871?9). Vom selben Anbieter kommt das Short-Zertifikat auf den Index Hang Seng China Enterpri­ses (NL?000?615?799?2). Ohne Hebel kommt der X-Tracker-Short-ETF auf den Hang Seng aus (LU?042?979?031?3).