Deutsche Bank-Volkswirt Jim Reid: Sanktionen gegen Russland mit erstaunlicher Dynamik
Die Distanzierung des Westens von Russland gewinnt nach Aussage von Deutsche-Bank-Volkswirt Jim Reid eine erstaunliche Dynamik.
Reid weist in seinem Morgenkommentar auf die Möglichkeit hin, dass Russland die Energielieferungen nach Europa seinerseits stoppen könnte, wenn ein solcher Ausgang ohnehin unvermeidlich erscheine.
"Als der Westen vor zehn Tagen seine massiven Sanktionen verhängte, hatte man den Eindruck, dass sie sich auf das Maximum dessen zubewegten, was die Menschen erwarteten. Doch jetzt hat man den Eindruck, dass die öffentliche Meinung in Europa darauf hinarbeitet, die russische Energieversorgung vollständig abzuschneiden", schreibt Reid.
Die Meinungen der einzelnen Länder gingen hier allerdings noch weit auseinander, so dass dies nicht einfach sein werde, aber der Druck wachse. "Seien Sie nicht überrascht, wenn Russland den ersten Schritt macht, wenn die Richtung unvermeidlich erscheint", warnt er gleichwohl.
Bemerkenswert ist Reid zufolge außerdem, dass viele Unternehmen ihr Russland-Engagement unabhängig von der offiziellen Politik beenden. "In den letzten 24 Stunden kündigte McDonald's an, seine Restaurants in Russland vorübergehend zu schließen, während Coca-Cola und Starbucks erklärten, sie würden ihre Geschäfte in Russland ebenfalls einstellen", so Reid. Darüber hinaus habe Fitch über Nacht eine weitere Herabstufung der russischen Bonität auf C vorgenommen und erklärt, dass ein Staatsbankrott "unmittelbar bevorstehe".
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine könnte nach Aussage des Analysten außerdem eine Veränderung des europäischen Politik-Mixes weg von der Geldpolitik hin zur Fiskalpolitik beschleunigen. "Europa hat das Jahrzehnt nach 2010 damit verbracht, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Haushaltsausgaben zu begrenzen, und sich auf die Geldpolitik verlassen", merkt Reid an. In der Welt nach der Finanzkrise sei dies ein Rezept für Stagnation und Disinflation gewesen.
Die gestrigen Nachrichten deuteten jedoch darauf hin, dass der Politik-Mix in diesem Jahrzehnt anders aussehen werde. "Mit mehr fiskalischer Stützung kann sich die Geldpolitik bis zu einem gewissen Grad normalisieren, vorausgesetzt, die Europäische Zentralbank (EZB) stellt sicher, dass das Fragmentierungsrisiko durch gezieltere Anleihekäufe gesteuert wird, falls dies erforderlich ist", schreibt Reid und fügt hinzu: "Im Hintergrund wirken also einige große strukturelle Kräfte."
Laut einem bisher nicht bestätigten Bloomberg-Bericht erwägt die EU eine große Bond-Emission zur Finanzierung von Energie- und Rüstungsinvestitionen.
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)
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