China: Zeit, Geschichte zu schreiben
Das Land muss seine Wirtschaft grundlegend reformieren, um weiter zu wachsen. Ob die kommunistischen Führer dazu bereit sind, müssen sie auf dem Parteitag in den kommenden Tagen beweisen.
von Sabine Gusbeth, Euro am Sonntag
Die ganze Hoffnung von Chinas Reformern richtet sich auf eine Zahl: 383. Unter diesem Namen hat die einflussreiche Denkfabrik des Staatsrates (DRC) weitreichende Reformvorschläge für den Parteitag der Kommunistischen Partei vorgelegt.
Die 372 ranghöchsten Parteimitglieder berieten auf dem sogenannten „Dritten Plenum des 18. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei“, das vom 9. bis 12. November dauerte, über die künftige Wirtschaftspolitik des Landes. Es war die dritte Zusammenkunft des Gremiums unter der neuen Führung mit Staats- und Parteichef Xi Jinping und Premier Li Keqiang.
Und die Erwartungen waren hoch. Denn in der Vergangenheit wurden auf den Dritten Plenen oft Reformen historischen Ausmaßes angeschoben. 1978 etwa verkündete Deng Xiaoping seine Reform- und Öffnungspolitik, die maßgeblich zu Chinas rasantem Aufstieg zur zweitgrößten Volkswirtschaft beitrug. „Die geöffnete Tür wird nie wieder geschlossen werden“, sagte Xi kürzlich mit Blick auf die Politik Dengs. Das Plenum plane „umfassende Reformen“, kündigte er an.
Historische Weichenstellung
„China steht wieder einmal vor einer historischen Weichenstellung“, kommentierte der ehemalige deutsche Botschafter in China, Michael Schäfer, jüngst auf einer Veranstaltung in München.
Das bisherige Geschäftsmodell Chinas, das stark von Exporten und staatlichen Investitionen abhängt, funktioniert nicht mehr. Künftige Wachstumstreiber sollen der Binnenkonsum, die Urbanisierung, Innovationen und Dienstleistungen sein. Zudem soll die private Wirtschaft gestärkt werden. Bleiben die Reformen aus, droht dem Land die „Falle der Mittleren Einkommen“. Davon spricht man, wenn ein Schwellenland den Aufstieg zum Industriestaat nicht schafft. Die Folge sind langsameres Wachstum bis hin zur Stagnation. Das Zeitfenster für die notwendigen strukturellen Veränderungen (siehe unten) ist begrenzt. In China drängt die Zeit.
Kleine, vorsichtige Reformschritte, wie sie die Vorgängerregierung unter Staatschef Hu Jintao unternommen hat, „das wird nicht mehr ausreichen“, betont Schäfer. Der Prozess werde länger dauern, als viele denken, denn die Herausforderungen sind immens. Doch „wenn ein Land es schaffen kann, dann China“, meint er und verweist auf den fast sprichwörtlichen Pragmatismus der Chinesen.
Dass Reformen notwendig sind, darüber herrscht auch in China weitgehend Einigkeit. Die Probleme sind vielfältig: Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, die Umweltverschmutzung hat lebensbedrohliche Ausmaße angenommen, Korruption greift um sich, lokale Regierungen sind hoch verschuldet, Staatskonzerne produzieren Überkapazitäten und der Schattenbankenmarkt hat unkontrollierbare Ausmaße angenommen — allesamt Fehlentwicklungen des staatlich gelenkten Turbokapitalismus.
Dass die Wirtschaft trotzdem noch mit 7,6 Prozent wächst, verdankt sie den scheinbar unerschöpflichen Konjunkturhilfen der Regierung. Allerdings sind immer höhere staatliche Investitionen notwendig, um das Wachstum stabil zu halten. Die Führung stützt die Wirtschaft, weil sie soziale Unruhen fürchtet, wenn sich das Wachstum abschwächt und den Menschen die Perspektive auf mehr Wohlstand fehlt.
Denn seit Deng Xiaoping die Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989 niederschlagen ließ, gibt es einen ungeschriebenen Pakt zwischen den Machthabern und dem Volk. Die Partei sorgt für Wohlstand, im Gegenzug verzichten die Chinesen auf politischen Einfluss.
Sozialer Sprengstoff
In den vergangenen Jahrzehnten mit zweistelligen Wachstumsraten haben sich 350 Millionen Chinesen in die Mittelschicht hochgearbeitet. Fast hundert Millionen verharren jedoch weiter unter der Armutsgrenze. Wächst die Wirtschaft langsamer, wird in der kommenden Dekade nur ein Bruchteil von ihnen den Sprung schaffen. Das schafft Frustration und bedroht die Stabilität des Riesenreichs, weil die Kommunistische Partei ihren Teil des Pakts nicht mehr erfüllt. Dengs Paradigma „Lasst einige zuerst reich werden“ könnte zum politischen Sprengstoff werden, wenn die Perspektive des sozialen Aufstiegs fehlt.
Um ihre Macht zu erhalten, muss die Partei daher Macht abgeben und Reformen zulassen: mehr Markt, weniger Staat. In den kommenden Tagen wird sich zeigen, ob sie dazu bereit ist. Doch selbst wenn, wird es noch Jahrzehnte dauern, bis sich herausstellt, ob die notwendigen Schritte auch umgesetzt werden.
Viele Interessengruppen haben im Vorfeld des Plenums ihre Reformvorschläge publik gemacht. Die DRC-Empfehlungen „Plan 383“ sind besonders interessant, weil einer ihrer Verfasser, Liu He, der wichtigste Wirtschaftsberater von Präsident Xi ist. Der Plan ist äußerst ambitioniert. Auf 200 Seiten raten die Autoren unter anderem, die Zinsen freizugeben und die Währung zu liberalisieren, Staatsmonopole, Landvergabe und Steuersystem zu reformieren sowie eine Sozialversicherung aufzubauen und Innovationen zu fördern.
Staatschef Xi ist sich bewusst, dass es schwierig wird, die Reformen umzusetzen. Er sprach von „harten Knochen, an denen schwer zu nagen sei“. Zugleich warnte er davor, dass „ein Zögern die bisherige Arbeit zunichtemachen könnte.
Harte Knochen
Viele Beobachter im Westen halten Xi für einen Reformer. Der Beweis dafür steht jedoch noch aus. Die Zeit seit seinem Amtsantritt hat er genutzt, um politische Kontrahenten aus dem Weg zu räumen, und so seine Macht gesichert. Wie er sie nutzt, wird sich am Wochenende zeigen. Allerdings hat er bereits mehrfach betont, er wolle nicht Chinas Gorbatschow sein. Michail Gorbatschow hatte Mitte der 80er-Jahre wirtschaftliche und politische Reformen in der Sowjetunion initiiert, die zum Ende des Kalten Krieges, jedoch auch zum Zusammenbruch der Sowjetunion führten.
Nicht wenige Chinesen fürchten, dass auch ihrem Land der Zusammenbruch droht. In den sozialen Medien kursieren bereits Witze über die Reformvorschläge mit dem Namen „383“. Denn die Ziffern werden auf chinesisch ähnlich ausgesprochen wie „auseinanderfallen“.
Die Wichtigsten Baustellen
Finanzsektor
Die künstlich niedrigen Zinsen und die staatlich gelenkte Kreditvergabe haben dazu geführt, dass ein riesiger, unkontrollierbarer Schattenbankenmarkt entstanden ist. Dort erhalten Sparer höhere Zinsen und private Unternehmen Kredite – wenn auch zu horrenden Preisen. Sein Volumen wird auf 2,5 Billionen Euro geschätzt. Durch Reformen sollen private Firmen gestärkt und die hohe Sparquote gesenkt werden, um den Binnenkonsum zu stärken.
Steuersystem
Der Großteil aller Steuereinnahmen geht an die Zentralregierung in Peking. Die meisten Ausgaben jedoch, etwa für Bildung, Sozialleistungen oder Infrastrukturprojekte, entfallen auf die Lokalregierungen. Deshalb sind sie auf alternative Einkommensquellen wie den Verkauf von Land angewiesen. Das hat zu Zwangsenteignungen und einem Immobilienboom geführt. Dennoch sind viele Lokalregierungen hoch verschuldet – auch wegen milliardenschwerer Konjunkturpakete. Die Zentralregierung hat bereits angekündigt, dass Lokalregierungen künftig Anleihen emittieren dürfen. Auf diese Weise sollen ihre Finanzen transparenter werden.
Wohnsitzkontrolle
Das rigide Meldesystem, das noch aus der Mao-Zeit stammt, hat dazu geführt, dass in den Städten eine Zweiklassengesellschaft entstanden ist. Ein Ausweis (chin. Hukou) unterscheidet zwischen Stadt- und Landbewohnern. Nur Städter haben das Recht auf eine Krankenversicherung und dürfen die Schulen dort besuchen. Der Landbevölkerung, die in die Städte zieht, um Geld zu verdienen, bleibt der Zugang verwehrt. Deshalb sparen die sogenannten Wanderarbeiter besonders viel – aus Angst vor dem sozialen Absturz. Das hemmt das weitere Wachstum des Landes.