Ex-ifo-Leiter Hans-Werner Sinn prognostiziert "längere Periode" wirtschaftlicher Unsicherheit - EZB in der Kritik
Wirtschaftsexperte Hans-Werner Sinn gab zuletzt einen wenig zuversichtlichen Ausblick auf die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands. Als Haupttreiber für die herausfordernde Situation sieht der ehemalige Leiter des ifo Instituts die Abkehr von preiswerten Energiequellen sowie den demografischen Wandel.
Werte in diesem Artikel
• Inflationsdruck wird sich zunächst nicht abbauen
• Gasembargo nicht zielführend
• EZB für Preissteigerungen mitverantwortlich
Ökonom Hans-Werner Sinn leitete von 1999 bis 2016 das ifo Institut, eine Forschungseinrichtung, die wirtschaftspolitische Entwicklungen analysiert und monatlich den ifo-Geschäftsklimaindex veröffentlicht. Der Frühindikator stellt die konjunkturelle Entwicklung Deutschlands dar. Doch auch seit seiner Emeritierung ist der Wirtschaftswissenschaftler ein häufiger Gast in verschiedenen Medienformaten und hat bereits einige Bücher zum Stand der Wirtschaft veröffentlicht. Nun äußerte sich der Experte zur wirtschaftlichen Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Ukraine-Krieg und Inflation.
"Die Inflation ist da und wird auch bleiben."
Die Anzeichen für Preissteigerungen seien bereits zu Beginn der Corona-Krise gegeben gewesen, wie Sinn kürzlich in einem Gastbeitrag für die "WirtschaftsWoche" Revue passieren ließ. So sei die Kombination aus weltweiten Corona-Lockdowns und der ultralockeren Geldpolitik der Währungshüter Zünder für die hohe Inflation gewesen. Lieferschwierigkeiten durch kurzzeitige Fabrikschließungen trieben den Preisdruck weiter an. "Die Inflation ist da und wird auch bleiben", so der Experte Anfang April in einer Diskussionsrunde mit dem ehemaligen Vorsitzenden des Wirtschafts-Sachverständigenrats Lars Feld in Frankfurt. Bereits die jüngsten Inflationsraten aus Deutschland und der Eurozone lassen alle Alarmglocken schrillen, der Preisdruck setze aber erst verzögert ein, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" den Wirtschaftswissenschaftler zitiert. So sei das Ausmaß der Inflation noch lange nicht erreicht. Es sei gar eine "neue Stagflation" eingetreten, die sich zwar durch eine hohe Nachfrage nach Gütern und Rohstoffen auszeichne, welche durch die Unternehmen aber nicht ausreichend bedient werden könne.
Preisdruck dürfte nicht abreißen
Im Interview mit Georg Anastasiadis und Wolfgang Hauskrecht vom Münchner "Merkur" gab der Experte jüngst einen pessimistischen Ausblick. So gab er an, dass sich die Deutschen auf eine "längere Periode" wirtschaftlicher Unsicherheit einstellen müssen, die dem Experten zufolge über 15 Jahre hinausgehen dürfte. So stehe Deutschland erst am Beginn einer negativen Wohlstandsentwicklung. "Wissenschaftler prognostizieren das schon lange, doch ist der öffentliche Diskurs zu kurzatmig, um das zu hören", erklärte Sinn im Interview. Hauptgründe für die pessimistische Prognose sind dem Ökonom zufolge, dass günstige Energiequellen abgeschaltet werden und demografische Probleme Überhand nehmen.
Sinn spricht sich gegen Gasembargo aus
So habe Deutschland in den vergangenen Jahren zwar betriebswirtschaftlich "geschäftstüchtig" agiert, an der staatlichen Strukturpolitik habe es aber zuletzt gemangelt. So habe die Bundesregierung die Energiequellen nicht ausreichend diversifiziert, weswegen man sich nun in einer prekären Lage um Russlands Gaslieferungen befinde. Aufgrund dieser verpassten Gelegenheit spricht sich der Wirtschaftsexperte auch gegen ein Gasembargo aus. "48 Prozent der deutschen Haushalte heizen mit Gas - und die Hälfte des Gases kommt aus Russland", betonte Sinn. "Ohne das russische Gas kommt Deutschland zumindest kurzfristig in massive Schwierigkeiten." Zuversichtliche Berechnungen, die ein wirtschaftliches Stemmen des Lieferstopps rechtfertigen, hält der Experte für falsch: "Die Rechnungen, die da gemacht werden bezüglich eines nur geringen Einbruchs des Bruttoinlandsprodukts, sind nicht zielführend, weil das Bruttoinlandsprodukt gar keine Importe erfasst, also auch nicht den unmittelbaren Schaden durch fehlende Gasimporte. Wenn wir frieren, weil das Gas fehlt, taucht das in diesen Rechnungen nicht auf."
Russland verlagert Gas-Geschäft nach China
Auch dürften Sanktionen alleine Russland kaum schaden. So könne sich der Kreml auf China als Hauptkunden fokussieren. Mit der Pipeline "Power of Siberia" wird das Reich der Mitte bereits mit dem Rohstoff beliefert, mit der zweiten Leitung "Power of Siberia II" soll das Liefervolumen noch ausgebaut werden. "Der Westen kann Russland also den Gashahn abdrehen, nicht aber den Geldhahn", gab Sinn gegenüber dem Münchner Blatt zu bedenken. "Seine Embargopolitik treibt Russland in die Arme Chinas und stärkt gerade dasjenige Land, das die USA in der Zukunft am meisten werden fürchten müssen. Solange wir China nicht im Boot haben, können wir Russland mit Sanktionen nicht niederringen."
Reaktivierung von Atomkraftwerken gefordert
Darüber hinaus könnte ein Energiedefizit auch mit Atomkraft aufgefangen werden, ist sich Sinn sicher. Neben drei Werken, die als betriebsbereit gelten, könnten außerdem drei Standorte wieder in Betrieb genommen werden, die im vergangenen Jahr abgeschaltet wurden. Nach EU-Standards handle es sich dabei außerdem um grüne Energie, wie der Wirtschaftswissenschaftler betonte. Stattdessen werde man sich nun aber verstärkt auf Kohlekraft fokussieren, was zwar das Ziel erfülle, sich von Energielieferanten aus dem Ausland zu lösen, aber einen erhöhten CO2-Ausstoß mit sich bringe.
Reagierte die Bundesregierung auf die Corona-Pandemie etwa noch mit Finanzspritzen, dürfte diese Strategie bei einer Gas-Krise Sinn zufolge nicht aufgehen. So verfügt Deutschland derzeit über keine LNG-Terminals. Zwar sollen die nachgerüstet werden, um sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu lösen, diese dürften allerdings erst 2026 einsatzbereit sein.
Demografischer Wandel stellt Deutschland vor weitere Herausforderungen
Aber auch von demografischer Seite stehe Deutschland vor einigen Herausforderungen, so Sinn weiter. So steht die Generation der Baby-Boomer kurz vor der Rente, die nachfolgenden Generationen bringen aber nicht mehr genügend Arbeitnehmer mit. "Wir haben ein riesiges Versorgungsproblem, weil die Arbeitsbevölkerung wegbricht", warnte der Wirtschaftsprofessor gegenüber dem Merkur. "Einige sagen dazu Facharbeitermangel, aber es geht in Wahrheit um alle Berufsschichten. Deutschland ist besonders betroffen, weil der Pillenknick bei uns früher kam als in anderen Ländern." Auch wenn das Problem bereits seit den 1980er Jahren bekannt sei, habe die Regierung nicht wirklich gegengesteuert, so Sinn. Maßnahmen wie die Riester-Rente seien nicht attraktiv genug und zu fehlerhaft. "Hätte man auf Aktien statt auf festverzinsliche Anlagen gesetzt, hätte aus Riester ein erkleckliches Vermögen entstehen können", lautet das Urteil des Experten. "Norwegen macht uns mit seinem Staatsfonds vor, wie erfolgreich eine Aktienstrategie sein kann. Festverzinsliche Anlagen gelten als mündelsicher, doch bei einer Inflation sind gerade sie extrem gefährdet."
Um den Arbeitskräftemangel doch noch einigermaßen aufzufangen, müssten potenziellen Arbeitnehmern bessere Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen werden. Besonders Kinder von Migranten müssten Sinn zufolge besser gefördert werden. Dass in den Schulen ein erheblicher Nachholbedarf besteht, habe sich auch während der Corona-Krise gezeigt, da das Homeschooling nicht gut funktioniert habe und die Pandemie auf dem Rücken der Schüler ausgetragen wurde. "Den Kindern wurden ihre Zukunftschancen genommen", warf Sinn der Regierung vor. Mit einer Anpassung der Familienpolitik könne außerdem die Geburtenrate wieder steigen. "Zu lange hat sich die Politik auf den Irrglauben verlassen, sie könne den Familien schadlos die Hauptlast der Sicherung der Staatsfinanzen aufbürden, in dem sie für den Nachwuchs an Steuer- und Beitragszahlern sorgen."
Zinswende verschlafen: Sinn schießt gegen EZB
Doch auch an der Europäischen Zentralbank lässt der Finanzexperte kein gutes Haar. So haben sich die Währungshüter zu lange auf dem Niedrigzinsniveau ausgeruht. Seit 2016 befindet sich der Leitzins in der Eurozone bei null Prozent. Damit muss Sinn zufolge aber nun Schluss sein, denn nur wenn die EZB handelt, können sich die Preise stabilisieren. "Einige sagen ja, die EZB habe die Preissteigerungen nicht verursacht, also müsse sie dagegen auch nichts tun. Falscher kann man nicht argumentieren, denn das Mandat stellt nicht auf die Ursachen der Inflation ab, sondern die Möglichkeiten, sie zu bekämpfen", so der Ex-ifo-Chef weiter. "Und die bestehen nun einmal in Zinserhöhungen." Darüber hinaus sei die Währungsbehörde nicht ganz unschuldig an der hohen Inflationsrate. So sei die EZB mit ihrem Anleihekaufprogramm mitverantwortlich für steigende Preise, da die Staatspapiere mit frischem Zentralbankgeld erworben wurden. Niedrige Zinsen haben damit zur Verschuldung ermuntert, so Sinn.
Auch die Tatsache, dass die EZB die Zinswende noch nicht eingeläutet hat, obwohl die US-amerikanische Notenbank Fed den Leitzins bereits im März um 0,25 Prozentpunkte erhöhte, sorge für ein Ungleichgewicht im internationalen Handel. So habe die Tatenlosigkeit der EZB zur Folge, dass der Euro deutlich abgewertet wurde, wodurch es automatisch zu höheren Importpreisen komme - auch im Energiesektor.
Rat zur Eigenverantwortung
Doch wie sollten sich Anleger für die nächsten Jahre positionieren? Solange die Zinsen auf einem niedrigen Niveau sind und hinter der schnell steigenden Inflationsrate zurückbleiben, könnten Aktien und Immobilien Sinn zufolge rentabel bleiben. Dennoch sollte man sich nicht zu sehr auf das Eingreifen der Regierung oder der Notenbank verlassen, wie der Ökonom betonte: "Sorgt selber für euch. Glaubt nicht daran, dass der Staat das schafft. Der Staat wird heillos überfordert sein mit den sozialpolitischen Aufgaben. Die sozialen Sicherungssysteme sind nicht in der Lage, die Entwicklung des Lebensstandards so fortzuführen, wie wir es gewohnt sind. Je früher das jeder erkennt, desto mehr wird er Vorsorge betreiben für die späteren Lebensjahre." Besonders jungen Menschen rät der Wirtschaftsprofessor, rechtzeitig an Nachwuchs zu denken und sich auf traditionelle Familienbilder zu konzentrieren. "Der Zusammenhalt in der Familie wird angesichts der Schwierigkeiten des Staates immer wichtiger werden", erklärte Sinn.
Redaktion finanzen.net
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