Kein schneller DAX-Rauswurf

EY geht von 'umfassendem Betrug' aus: Wirecard-Aktie bricht um knapp 80 Prozent ein - Wirecard stellt Insolvenzantrag

25.06.20 17:50 Uhr

EY geht von 'umfassendem Betrug'  aus: Wirecard-Aktie bricht um knapp 80 Prozent ein - Wirecard stellt Insolvenzantrag | finanzen.net

Der Bilanzskandal um Wirecard hat einen neuen Höhepunkt erreicht: Der Zahlungsdienstleister wird eigenen Angaben zufolge die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beantragen.

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Der Vorstand habe entschieden, beim Amtsgericht München die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu beantragen, teilte der DAX-Konzern am Donnerstag in Aschheim bei München mit. Als Gründe nannte er eine drohende Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Es werde geprüft, ob man auch Insolvenzanträge für Tochtergesellschaften der Wirecard-Gruppe stellen müsse.

Wirecard steckt spätestens seit dem Bekanntwerden mutmaßlicher Luftbuchungen in Milliardenhöhe vor einer Woche in einem Bilanzskandal. Das Geld ist bisher unauffindbar. Der langjährige Wirecard-Chef Markus Braun ist zurückgetreten und hat sich nach einem Haftbefehl der Staatsanwaltschaft gestellt. Gegen Zahlung einer Kaution in Millionenhöhe ist er wieder auf freiem Fuß.

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY hatte ihr Testat für den Jahresabschluss für 2019 verweigert, weil sie keine ausreichenden Nachweise für die Existenz angeblicher Guthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden Euro auf den Philippinen finden konnte. Wirecard räumte inzwischen ein, dass das Geld "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" überhaupt nicht existiert.

Im Zentrum des Bilanzskandals stehen der ehemalige Wirecard-Finanzchef in Südostasien und ein Treuhänder, der bis Ende 2019 für Wirecard aktiv war und das - wie sich nun herausgestellt hat - in großen Teilen wahrscheinlich gar nicht existente - Geschäft mit den Drittpartnern betreute.

EY geht von 'umfassendem Betrug' bei Wirecard aus

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY geht im Wirecard-Skandal von schwerer Kriminalität in quasi weltumspannenden Maßstab aus. "Es gibt deutliche Hinweise, dass es sich um einen umfassenden Betrug handelt, an dem mehrere Parteien rund um die Welt und in verschiedenen Institutionen mit gezielter Täuschungsabsicht beteiligt waren", erklärte EY am Donnerstag in Stuttgart.

"Im Rahmen der Abschlussprüfung für das Geschäftsjahr 2019 hat EY entdeckt, dass gefälschte Saldenbestätigungen und weitere gefälschte Unterlagen für die Treuhandkonten vorgelegt wurden." EY habe das den zuständigen Behörden sowie dem Unternehmen und seinem Aufsichtsrat mitgeteilt.

"Konspirativer Betrug, der darauf abzielt, die Investoren und die Öffentlichkeit zu täuschen, geht oft mit umfangreichen Anstrengungen einher, systematisch und in großem Stil Unterlagen zu fälschen", hieß es in der Mitteilung weiter. "Auch mit umfangreich erweiterten Prüfungshandlungen ist es unter Umständen nicht möglich, diese Art von konspirativem Betrug aufzudecken."

EY ist eine der "großen Vier" unter den internationalen Buchprüfungsgesellschaften. Das Unternehmen hatte in den vergangenen Jahren die Wirecard-Jahresabschlüsse von Wirecard testiert. Deswegen ist nun auch EY mit scharfer Kritik konfrontiert, die mutmaßlichen Manipulationen nicht früher entdeckt zu haben.

Wirecard-Insolvenz könnte einige Banken viel Geld kosten

Die absehbare Insolvenz des Zahlungsdienstleisters könnte eine Reihe von Banken teuer zu stehen kommen, die dem Unternehmen über eine Kreditlinie einem Anleiheprospekt zufolge bis zu 1,75 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben. Dazu gehören laut Prospekt als führende Institute die Commerzbank und die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), die niederländische ABN Amro und die Deutschland-Tochter der niederländischen ING.

Nach Informationen der Nachrichtenagenturen dpa und Bloomberg hatten die Banken Wirecard gerade erst einige Tage Aufschub gewährt, um die langfristige Überlebensfähigkeit des Unternehmens zu prüfen, bevor sie die ausstehende Summe zurückfordern.

DSW: Wirecard eine Katastrophe - fordert Aufklärung

Im Skandal um den DAX-Konzern Wirecard fordert die Anlegervereinigung DSW rückhaltlose Aufklärung. "Das ist eine Katastrophe", sagte DSW-Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler am Donnerstag auf Anfrage zu dem angekündigten Insolvenzantrag. "Bei Wirecard hat das System versagt", kritisierte Tüngler im Hinblick auf Vorstand und Aufsichtsrat, Wirtschaftsprüfer und behördliche Aufsicht durch die Bafin.

Der Vorstand von Wirecard hatte am Vormittag Insolvenzantrag wegen Überschuldung und drohender Zahlungsunfähigkeit angekündigt - eine Woche nach der Verschiebung der Jahresbilanz für 2019, die der erste Akt in dem einwöchigen Drama gewesen war. "Dieser Fall muss komplett aufgeklärt werden, damit wir daraus lernen können", sagte Tüngler dazu. "Das darf nicht wieder so laufen wie bei Volkswagen, dass sich das jahrelang hinzieht und dann mit einer Geldbuße endet."

Für Anleger ist der bevorstehende Insolvenzantrag eine schlechte Nachricht: "Die Aktionäre sind bei einem Insolvenzverfahren mit ihren Ansprüchen die letzten in der Reihe."

Der Fall Wirecard sei "von der Dimension her sehr schwer zu greifen", meinte der DSW-Hauptgeschäftsführer. "In diesem Umfang und Ausmaß hat es das bei einem DAX-Konzern noch nie gegeben, innerhalb von einer Woche in die Insolvenz." Die Schnelligkeit der Entwicklung deute drauf hin, "dass die Probleme noch sehr viel größer sind als bisher bekannt."

BaFin will Wirecard Bank aus der Insolvenz heraushalten

Die Finanzaufsicht BaFin will die Wirecard Bank davor schützen, in die Pleite der Muttergesellschaft hineingezogen zu werden.

"Die Wirecard Bank AG ist nicht Teil des Insolvenzverfahrens der Wirecard AG", teilte der Aschheimer Zahlungsverkehrs-Dienstleister mit. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) habe für die Bank bereits einen Sonderbeauftragten eingesetzt. Der Wirecard-Vorstand hat damit dort nichts mehr zu sagen: "Die Freigabeprozesse für alle Zahlungen der Bank werden zukünftig ausschließlich innerhalb der Bank und nicht mehr auf Gruppenebene liegen." Die AG unterliegt anders als die Bank-Tochter nicht der Bankenaufsicht.

Wirecard-Aktie droht laut Regeln kein schneller DAX-Rauswurf

Auch nach dem Insolvenzantrag von Wirecard droht dem Zahlungsabwickler wohl kein schneller DAX-Abschied. Nur im Falle einer Abwicklung oder falls der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgewiesen wird, muss ein Unternehmen laut den Regeln der Deutschen Börse aus einem Auswahlindex "umgehend" herausgenommen werden. Dass die Börse ein Sanktionsverfahren prüft, hat ebenfalls keine direkte Auswirkung auf die DAX-Mitgliedschaft. Und so schnell wird einem Unternehmen auch die Mitgliedschaft im Prime Standard, der wegen umfangreicher Transparenzvorschriften eine hohe Qualität garantieren soll, nicht entzogen.

Als Nachfolger beim aktuell indes so gut wie sicheren Abschied bei der regulären Indexüberprüfung im September gelten der Online-Essenslieferant Delivery Hero und der Aromen- und Duftstoffhersteller Symrise.

Wirecard-Aktie im freien Fall

Wenige Minuten vor der Mitteilung wurde die Wirecard-Aktie vom Handel ausgesetzt. Zuvor war das Papier via XETRA erstmals seit 2011 unter die Marke von 10 Euro abgesackt. Im Tief lag der Kurs mit mehr als minus 80 Prozent bei 2,50 Euro, nachdem die Aktie zwischenzeitlich für eine Stunde vom Handel ausgesetzt war. Zuvor hatte sie im Tageshoch 12,02 Euro gekostet. Schlussendlich beendete sie den Handel für 3,53 Euro, was gegenüber Mittwoch ein Minus von 71,28 Prozent bedeutete.

Vor Bekanntwerden des Bilanzskandals hatte der Kurs noch bei gut 100 Euro gelegen, das Rekordhoch erreichte das Papier kurz vor der Aufnahme in den elitären Kreis der 30 DAX-Unternehmen Anfang September 2018 mit 199 Euro. Seit der abermaligen Verschiebung der Bilanz für 2019 in der Vorwoche und dem Eingeständnis mutmaßlicher Luftbuchungen in Milliardenhöhe verloren sie damit inzwischen fast 98 Prozent.

Mit dem jüngsten Kursabsturz könnte sich die Wirecard-Aktie in der Liste der zehn höchsten Tagesverluste eines Dax-Wertes ganz an die Spitze setzen. Sollte sie bis zum Handelsende ein Minus in ähnlicher Höhe wie aktuell aufweisen, wäre das der höchste Verlust eines DAX-Titels in der knapp 32-jährigen Geschichte des deutschen Leitindex. Der Absturz um aktuell rund 98 Prozent seit vergangenem Mittwoch ist im DAX ohnehin schon einmalig.

Damit droht Wirecard im Herbst auch der Rauswurf aus dem DAX, in den das Papier erst im September 2018 aufgenommen worden war. Damals war Wirecard mit einer Marktkapitalisierung von fast 25 Milliarden Euro wertvoller als die Deutsche Bank.

Der Insolvenzantrag des Unternehmens sei der vorläufige Höhepunkt der von skandalösen Vorgängen geradezu strotzenden vergangenen Tage, bemerkte Analyst Wolfgang Donie von der NordLB. Der Experte rät dringend von spekulativen Investments bei Wirecard ab. Sein Kursziel strich er von 20 auf 1 Euro zusammen und gesellte sich damit zum Experten Adithya Metuku von der Bank of Amerika, der tags zuvor bereits mit diesem Ziel für Aufmerksamkeit gesorgt hatte.

(dpa-AFX / Dow Jones / Reuters)

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Bildquellen: Anton Garin / Shutterstock.com, Wirecard AG

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