Euro am Sonntag-Interview

Ökonom Krämer: "Wir sind wie Urwaldaffen"

aktualisiert 18.08.14 21:03 Uhr

Ökonom Krämer: "Wir sind wie Urwaldaffen" | finanzen.net
Kraemer Walter

Zahlen lügen nicht. Oder doch? Der Mathematiker und Wirtschaftsprofessor Walter Krämer über Risiken und Nebenwirkungen eines fehlerhaften Umgangs mit Zahlen.

von Birgit Wetjen

Walter Krämer, Professor für Statistik an der Universität Dortmund, nimmt selten ein Blatt vor den Mund. In seinem Büro auf dem Campus der Universität zieht der Mathematiker und Ökonom einige Bücher aus dem Regal, die von seiner Meinungsstärke zeugen. "Die Angst der Woche" ist so ein Thema, über das er sich echauffiert - "Panikmache wird zum Geschäftsmodell". Die Folgen der Eurorettung beschreibt er in "Kalte Enteignung".

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2012 hat der umtriebige 65-Jährige mit dem Berliner Psychologen Gerd Gigerenzer und dem Bochumer Ökonomen Thomas Bauer die Aktion "Unstatistik des Monats" ins Leben gerufen. Einmal im Monat blickt das Trio hinter die Aussagekraft und Interpretation von aktuell publizierten Zahlen. Mit zum Teil erstaunlichen Ergebnissen, die in dem Buch "Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet - über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik" zusammengefasst sind, das am 15. August erschienen ist.

€uro am Sonntag: Herr Krämer, ich habe mehrmals gehört, dass die Mehrheit der Franzosen bei der ­Europawahl rechtspopulistisch ­gewählt hat?
Wolfgang Krämer: Ja, so geistert es durch manche Medien. Fakt ist, die rechtspopulistische Partei Front National hat 27 Prozent der Stimmen geholt, bei einer Wahlbeteiligung von 40 Prozent. Also wurde sie von gut zehn Prozent der Franzosen gewählt. Richtig ist nur, dass der Front National unter allen Parteien die meisten Stimmen bekommen hat.

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Unterstellen Sie bei solchen Meldungen Absicht oder Dummheit?
Bei den Beispielen, die wir im Rahmen der "Unstatistik" erläutert haben, halten sich Unwissenheit und Absicht in etwa die Waage. Natürlich wird oft durch Schlagzeilen die gewünschte Interpretation forciert. Auf der anderen Seite ist die Unwissenheit im Umgang mit Zahlen aber auch erschreckend. In den Hauptnachrichten des US-Fernsehens hat eine Moderatorin den Anstieg von drei Prozent bei Diebstählen, neun Prozent bei Raubüberfällen und fünf Prozent bei Einbrüchen zu einem Anstieg der Kriminalitätsrate um 17 Prozent addiert - kaum zu fassen.

Passiert das nur Laien?
Von wegen. Den gleichen Schwachsinn produzierten deutsche Bildungs­forscher Ende Juli 2014; sie addierten 31 Prozent von Eltern ohne Bildungsabschluss und 23 Prozent von Eltern mit Hauptschulabschluss, die ihre Kinder des Betreuungsgeldes wegen nicht in Kitas schicken, zu einem ­Gesamtprozentsatz von 54 Prozent aller Eltern aus bildungsfernen Schichten, die ihre Kinder dann zu Hause behalten.

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Woran liegt’s, dass sich manch ­einer mit Zahlen so schwertut?
Das hat mehrere Ursachen. Zum einen gibt es eine genetisch programmierte Unfähigkeit, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Selbst ein großer Mathematiker wie Gottfried Wilhelm Leibniz, der Erfinder der Differenzialrechnung, hat bei Wahrscheinlichkeiten Fehler gemacht. Bei mir wäre er durch die Klausur ­gefallen.

Es liegt also in den Genen?
Es liegt am Schaltmechanismus im Gehirn - ein ewiges Minenfeld, weil wir durch Abkürzungen Fehlschlüsse produzieren. Genetisch sind wir die gleichen Urwaldaffen wie vor Mil­lionen Jahren, das Risikoverhalten ist unabhängig von veränderten ­Lebensbedingungen tief verankert, aber diese einstmals nützlichen Automatismen sind heute kontraproduktiv. Das kann man bei Meldungen zum Thema Gift im Essen sehen. Gift zu meiden war früher überlebenswichtig. Heute werden dank innovativer Analyse­methoden minimale Giftmengen festgestellt, die in der vorhandenen Dosis völlig ungefährlich sind. Aber es gibt Medien, die es sich zum Geschäftsmodell ­gemacht haben, dergleichen "Skandale" aufzudecken und Panik zu verbreiten. Verbraucher packen die Produkte dann nicht mehr an.

Lässt sich etwas gegen Fehleinschätzungen machen?
Man sollte sich nicht von Panikmachern blenden lassen, sondern sich über Zusammenhänge informieren. So haben Verbraucher über Wochen keine Eier gegessen, weil die Medien immer wieder über den sogenannten Dioxinskandal berichteten. Um ihre Gesundheit zu gefährden, hätten Verbraucher damals aber drei Tonnen dioxinverseuchte Eier am Tag essen müssen.

Zahlen werden oft als Beleg herangezogen. Zu Unrecht?
Zahlen suggerieren Faktengenauigkeit und werden vielfach einfach als Rhetorikwerkzeug eingesetzt. Tolle Beispiele finden sich etwa im öffentlich zugänglichen Teil des Factbooks des US-Geheimdienstes CIA, da habe ich die verrücktesten Sachen ausgegraben. Beispielsweise wird bis auf die letzte Nase angegeben, wie viele Menschen aktuell in China wohnen. Das sind zehn Ziffern, davon sind alle bis auf die ersten beiden falsch. Fakt ist aber: Je mehr Daten erhoben werden, desto einfacher ist es, die Aussage einer Botschaft mittels Statistik zu drehen.

Viele Kennzahlen treiben die Börsen. Birgt das dann nicht Risiken?
Warum sollte es? Im Gegenteil, es zeigt, die Börsen sind rational. Ich bin ein überzeugter Anhänger der Theorie der effizienten Märkte - jede öffentlich zugängliche Information ist zu jeder Zeit im Kurs ent­halten. Wenn also etwas Neues bekannt wird, etwa Konjunkturindikatoren veröffentlicht werden, ist es rational, dass die Märkte darauf ­reagieren.

2013 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den USA plötzlich gestiegen, auch weil Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie Lizenz­gebühren für Filme erstmals nicht als Ausgaben, sondern als Investitionen erfasst worden sind.
Das Bruttoinlandsprodukt ist keine von Gott gegebene Größe, sondern Ergebnis einer Definition, die von Land zu Land variiert. In den 60er-Jahren hat Italien zum Beispiel die Schattenwirtschaft offiziell als Teil des Sozialprodukts ausgewiesen und damit erstmals Großbritannien beim BIP überholt.

Taugt das BIP als Kenngröße für Wirtschaftskraft?
Es gibt Vorschriften des Statistik­amtes der Vereinten Nationen, nach denen die Daten inzwischen fast überall erhoben werden. Ein Pro­blem aber lösen die Standards nicht. Die Schattenwirtschaft wird nicht mitgezählt, ist jedoch in den unterschiedlichen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Das BIP misst also nicht, was produziert, sondern nur das, was am Markt gehandelt wird. Wenn jemand unentgeltlich für Sie kocht und Sie ihm dafür das Auto waschen, zählt das nicht mit. Arbeiten beide offiziell gegen Bezahlung, steigt das Sozialprodukt.

Unterstellen Sie politisches Interesse beim Umgang mit Statistiken?
Natürlich gibt es im Umgang mit Zahlen immer auch Interessen - politische und ökonomische. Die Horrorzahlen über die Jugendarbeitslosigkeit in den Euro-Krisenländern passen der Bundesregierung bestimmt gut ins Konzept. Es ist wohl gewollt, dass es alarmierend aussieht, damit die Leute nicht motzen, wenn sie zahlen müssen.

Aber die Statistik wird doch nicht von der Bundesregierung, sondern von der europäischen Statistik­behörde Eurostat erhoben.
Und in deren Daten ist deutlich beschrieben, dass die erhobenen Zahlen keinen Schluss über die Lage am Arbeitsmarkt für Jugendliche zulassen. In den Medien aber fällt das unter den Tisch, und das wird von Politikern genutzt.

Erklären Sie uns den Unterschied?
Ermittelt wurde der Anteil derjenigen Jugendlichen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, aber keine Arbeit finden. Da viele Jugendliche in der Krise ihre Ausbildung vertiefen und beispielsweise länger zur Schule gehen oder studieren, fallen sie aus der Grundgesamtheit raus. Dadurch wird der Nenner klein - und der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen groß. Würde man den Anteil der arbeitslosen Jugendlichen an allen Jugendlichen berechnen, käme man für Griechenland auf eine Quote von 17 statt 60 Prozent. Immer noch viel zu viel, aber längst nicht so alarmierend.

Im vergangenen Frühjahr hat die Deutsche Bundesbank sogar Ergebnisse einer Studie der Europäischen Zentralbank zum Vermögen der Europäer zunächst zurückgehalten. Wie erklären Sie das?
Nach der Studie verfügen die Menschen in den Krisenstaaten Europas über zum Teil deutlich höhere Pro-Kopf-Vermögen als wir Deutschen. Keine gute Werbung also für die Pläne der Politiker, dass deutsche Steuerzahler für die Krisenstaaten haften und zahlen sollen.

Wie aussagekräftig sind solche Vergleichsstudien?
Man muss genau wissen, was gemessen wird. In Deutschland fließt ein vergleichsweise großer Teil des ­Einkommens in die sozialen Sicherungssysteme - der Anspruch auf gesetzliche Rente wird aber nicht als Vermögen aufgeführt. In anderen Ländern wie der Schweiz oder den Südländern wird die Vorsorge kapitalisiert, das Vermögen ist entsprechend höher. Die EZB-Studie basiert zudem auf Daten des Jahres 2010 - damals lagen die Immobilienpreise in Südeuropa anders als in Deutschland noch auf einem Hoch.

Folgt man der Armutsstatistik, geht es vielen Menschen in Deutschland tatsächlich nicht ­besonders gut?
Das ist meine Lieblingsstatistik, die mich jedes Jahr wieder auf die Palme bringt. Als arm gilt, wessen Einkommen weniger als 60 Prozent des Medians beträgt, Vermögen wird nicht berücksichtigt. Nach der Berechnungsmethode steigt das Armuts­risiko, wenn einkommensstarke Bürger nach Deutschland ziehen. In letzter Konsequenz könnten wir unser Armutsproblem in Deutschland demnach ganz einfach dadurch lösen, dass wir alle Einkommen oberhalb der Armutsgrenze einem chinesischen Staatsfonds schenken. Dann wäre Armut in Deutschland quasi abgeschafft.

Können Sie uns Regeln zum Umgang mit Zahlen geben?
Man sollte immer lieber absolute als Prozentzahlen betrachten - und wenn schon Prozente, dann auf die Ausgangsgröße achten. Wenn einer von zehn Millionen Menschen an einer bestimmten Krankheit erkrankt, fällt ein Anstieg um 100 Prozent kaum ins Gewicht - zweimal nichts bleibt nichts. Wichtig ist auch, das bedingte und das bedingende Ereignis nicht zu vertauschen. 40 Prozent ­aller Unfalltoten waren nicht angeschnallt - das hieße ja, Gurte sind ­lebensgefährlich, weil 60 Prozent der Unfalltoten angeschnallt waren. Und das ist natürlich Quatsch.

Kurzvita

Professor, Autor und Sprachschützer
Walter Krämer ist seit 1988 Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Neben der Mathematik kümmert sich der Buchautor auch um Wirtschaftsfragen. Mit Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn hat er 2012 einen Aufruf gegen die geplante Bankenrettung gestartet und so Finanzminister Wolfgang Schäuble zu einer öffentlichen Kritik provoziert. Krämer ist zudem Vorsitzender des Vereins Deutsche Sprache.

Bildquellen: Lilly Fomenko