Evonik-Chef Kullmann: "Die Pipeline ist voll"
Christian Kullmann, Chef von Evonik, über die Perspektiven des Spezialchemiekonzerns im laufenden Jahr, die spannendsten Innovationen und seine delikate Rolle als gebürtiger Gelsenkirchener im Aufsichtsrat von Borussia Dortmund.
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von Julia Groß und Ralf Witzler, Euro am Sonntag
Von Nahrungsmittelzusätzen für gesündere Hühner bis hin zum 3-D-Druck von Batteriezellen: Der Spezialchemiekonzern Evonik mit Zentrale in Essen steckt voller überraschender Innovationen. Bei Tee und Zigarillo - das beim Gespräch per Videokonferenz niemanden stört - zeigt sich Vorstandschef Christian Kullmann höchst optimistisch über die Geschäftsentwicklung, erläutert Evoniks Beitrag zu den Impfungen gegen Corona sowie Licht und Schatten beim Green Deal der Europäischen Union.
€uro am Sonntag: Herr Kullmann, die Frage der Stunde zuerst: Welche Lehren haben Sie für Evonik aus der Pandemie gezogen?
Christian Kullmann: Wir haben die Prüfung der Pandemie bestanden. Wir haben nicht alles, aber vieles anders gemacht und kurzfristig auf die neuen Gegebenheiten reagiert. In unserer Verwaltung arbeiten mittlerweile bis zu 80 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Homeoffice. Anfang 2020 hätte ich mir das so kaum vorstellen können, aber es geht. Und es geht sogar mehr! Unsere Erfahrungen werden wir umsetzen für die Zukunft und ein hybrides Modell mit deutlich mehr Flexibilität einführen. Diese Flexibilität wird die Effizienz und die Effektivität unserer Arbeit weiter verbessern.
Wie war Ihre Erfahrung mit den Lieferketten?
Unserem Einkauf ist es gelungen, Supply Chain und Logistik trotz erheblicher Restriktionen aufrechtzuerhalten. Das war eine wuchtig starke Leistung. Jetzt gibt es die Diskussion, ob wir Prozesse zurückholen müssen nach Deutschland und nach Europa. Diese Forderung halte ich für falsch. Wichtig ist, dass wir mit unseren Produktionsstandorten in den Wachstumsmärkten nah an unseren Kunden sind. Diese Wachstumsmärkte sind vor allem in den USA und in Asien. Auf China allein werden bis zum Jahr 2030 rund 50 Prozent der weltweiten Chemieproduktion entfallen. Je stärker wir mit unserer Produktion vor Ort sind, desto besser können wir Lieferketten-Risiken reduzieren.
Gab es noch weitere Erkenntnisse?
Stichwort: Vertrieb, Marketing und Verkauf. Früher galt: Ich muss beim Kunden sitzen, ich muss ihn sehen und mit ihm persönlich über das Geschäft reden. Jetzt machen wir die Erfahrung, dass vieles auch digital funktioniert, vor allem mit solchen Kunden, die wir bereits gut kennen. Da werden wir künftig auch deutlich mehr digital arbeiten, was nebenbei auch Reisekosten spart. Wenn es darum geht, Neukunden zu gewinnen, stellen wir dagegen fest, wie wichtig persönliche Begegnungen sind.
Im dritten und vierten Quartal 2020 hat die Erholung begonnen. Inwieweit konnte Evonik profitieren?
Die Jahre 2019 und 2020 waren für die chemische Industrie keine wirklich guten Jahre. Da hat Evonik gezeigt, wie resilient unser Portfolio ist. Das Jahr 2021 wird nun wieder gekennzeichnet sein durch Wachstum, durch starkes Wachstum. Wir schalten also um aus dieser resilienten, die Marktposition verteidigenden Haltung in einen Wachstumsmodus. Ich sage es mal so: Wer Krise kann, der kann mehr. Für Evonik wird dieses Jahr ein gutes Jahr, und wir werden auch ein gutes erstes Quartal sehen.
Was macht Sie so optimistisch?
Wir sehen gerade in unseren Wachstumsdivisionen eine starke Nachfrage in unseren Märkten. Im Vergleich zum Vorjahr holen wir beispielsweise im Bereich Automotive stark auf. Das betrifft die Sparte Smart Materials. Ähnliches beobachten wir in der Division Nutrition & Care, etwa im Kosmetikbereich. Vor dem Hintergrund der mRNA-Technik sehen wir auch eine gute Entwicklung im Bereich Health Care. Bei den Specialty Additives erleben wir eine über alle Geschäfte hinweg boomende Entwicklung. Ich sage das, weil bei Evonik die Wachstumslokomotiven nicht die zyklischen Commodities sind, sondern die Specialty Chemicals in unseren drei Wachstumsdivisionen. Das ist ein qualitativer Unterschied.
In den vergangenen Jahren haben Sie Evonik stark umstrukturiert, Bereiche zusammengefasst, anders geordnet. Haben Sie jetzt den Status erreicht, den Sie erreichen wollten?
2017 hatten wir das Ziel ausgegeben, dass Evonik der beste Spezialchemiekonzern der Welt werden soll. Wenn Sie sich den Weg dorthin als einen 100-Meter-Lauf vorstellen, dann haben wir jetzt etwa 50 Meter zurückgelegt. Die Hälfte der Strecke liegt also noch vor uns.
Wie kann man sich den weiteren Weg vorstellen?
Wir konzentrieren uns auf die Geschäfte, in denen wir mit unserer Technologie an der Weltspitze stehen, die weniger zyklisch sind und in denen wir Margen von rund 20 Prozent erzielen. Diese Geschäfte gehören in unsere drei Wachstums- und Zukunftsdivisionen Nutrition & Care, Smart Materials und Specialty Additives, die bereits heute zusammen eine Marge von insgesamt rund 20 Prozent erwirtschaften. Hinzu kommt die Division Performance Materials mit solchen Geschäften, die eine mehr basis- und Commodity-orientierte Qualität haben. Dort werden wir in einem nächsten Schritt das Geschäft Baby Care, die Superabsorber, verkaufen. Die Ausgliederung wird im Sommer abgeschlossen, danach entscheiden wir über die nächsten Schritte.
Wie ist denn der Zeitrahmen für diese Entwicklung?
2017 war der Startpunkt für den Transformationsprozess, einen Schlusspunkt gibt es nicht. Es bleibt unsere Aufgabe, täglich, wöchentlich, monatlich, jährlich besser zu werden. Besser zu werden heißt, in den Verwaltungen, in den Betrieben effizienter zu werden, den Ressourcenverbrauch deutlich zu reduzieren, die Kosten weiter konsequent im Blick zu halten. Kostendisziplin ist Königsdisziplin. Wachstum ist die Zukunftsparole.
Sind auch Zukäufe geplant?
In den drei Wachstumsdivisionen werden wir weiter sogenannte Bolt-on-Akquisitionen machen. Das bedeutet, dass wir in den Märkten zukaufen, in denen wir zu den Besten gehören, wo wir die Kunden kennen, die Technologien kennen und die Wettbewerber kennen. Weil wir dort genau wissen, was wir tun, reduzieren wir Integrationsrisiken - und erhöhen damit das Synergiepotenzial.
Welche Innovation Ihres Konzerns ist aus Ihrer ganz persönlichen Sicht die derzeit spannendste?
Die Innovationspipeline von Evonik ist mit attraktiven Produkten pickepackevoll; bis 2030 werden wir hiermit eine Milliarde Euro zusätzlichen Umsatz erzielen. Für mich persönlich und mit Blick auf die Perspektiven in der Zukunft ist derzeit unsere Lipid-Nanotechnologie das spannendste Thema.
Was verbirgt sich dahinter?
Die sogenannte mRNA-Medizin ist für die Pharmazie weltweit ein Gamechanger. Im Kampf gegen die Corona-Pandemie können die neuen Impfstoffe aber nur dann wirken, wenn sie sicher bis in die Zelle transportiert werden. Diese sogenannte Drug-Delivery-Technologie liefert Evonik. Ein aktuelles Beispiel: An unseren Standorten in Hanau und Dossenheim haben wir in Rekordzeit neue Produktionsanlagen errichtet, um BioNTech beliefern zu können.
Impfstoffe stehen aktuell stark im Fokus. Aber gibt es darüber hinaus auch noch mehr Anwendungen für Lipid-Nanopartikel?
Dieser attraktive Markt wird sich in Zukunft ausfächern. Gegenwärtig arbeiten wir mit der Pharmaindustrie an vielen alternativen Anwendungen, im Kampf gegen Krebs, AIDS und Generkrankungen. Wir stehen hier vor einer aus betriebswirtschaftlicher Sicht unglaublich attraktiven Entwicklung. Hier können und werden wir wachsen und zugleich gesamtgesellschaftlich für die Menschen sehr viel Gutes tun. Aus diesen beiden Beweggründen heraus sage ich, das ist für mich derzeit die spannendste Innovation im Konzern.
Sie haben angekündigt, künftig auch viel Geld mit Kunststoff-Recycling verdienen zu wollen.
Unsere Spezialadditive machen Kunststoff-Recycling möglich. Das ist für uns ein Geschäft, für das wir perspektivisch mehr als 350 Millionen Euro Umsatz erwarten. Das ist spannend, das ist gut und das zahlt voll auf das Stichwort Circular Economy ein.
Sind Sie darauf angewiesen, dass die Vorschriften verschärft werden, damit die Geschäftsidee aufgeht? Viele der Nachhaltigkeitstechnologien gelten noch als zu teuer.
Ein Unternehmen ist dann ein gutes Unternehmen, wenn es sich darauf konzentriert, den Einsatz von Ressourcen kontinuierlich zu reduzieren - und zwar nicht aus Ideologie, sondern aus betriebswirtschaftlichen Gründen. Je weniger Ressourcen im Lauf des Produktionsprozesses benötigt werden, desto attraktiver und profitabler sind die Prozesse. Die Annahme, etwa von verschiedenen Bürokraten in Brüssel, man müsse der Wirtschaft diese Ressourceneffizienz verordnen, halte ich daher für lebensfremd und wirtschaftsfeindlich.
Was halten Sie dann vom sogenannten Green Deal der Europäischen Union?
Der Green Deal ist schrecklich schön, weil er das Ziel Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 setzt. Da stehe ich dahinter. Der Green Deal ist jedoch auch schön schrecklich, wenn ich mir die Entwürfe dazu ansehe, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Das atmet den Geist von totaler Regulierung, von staatlicher Kontrolle und von staatlicher Anleitung. Und ich glaube nicht, dass Bürokraten in Brüssel besser beurteilen können, was die Märkte und die Kunden wollen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass man es dem Markt und den Menschen überlassen sollte, was sie kaufen wollen und was nicht. Das nennt sich Freiheit und ist wie die Luft zum Atmen: überlebenswichtig.
Inwiefern kann der Green Deal sich für das Geschäft von Evonik positiv auswirken?
Der Green Deal bietet für das Portfolio von Evonik großartige Wachstumsmöglichkeiten, wenn die Brüsseler Bürokratie wirtschaftliche Vernunft walten lässt. Er kann sich beispielsweise beim Thema Elektromobilität positiv auswirken: Ein Elektroauto hat nicht nur einen, sondern zwei Kühlkreisläufe, und dafür brauchen Sie unsere High-Performance-Polymere. Auch im Leichtbau können wir profitieren. Und unsere Spezial-Additive, mit denen wir Margen von 25 Prozent erzielen, sind wichtige Helfer für mehr Nachhaltigkeit. Denken Sie nur an wasserbasierte Lacke als eines von vielen Beispielen.
Die RAG Stiftung hält 59 Prozent Ihrer Anteile und ist auf auskömmliche Dividendenzahlungen angewiesen. Schränkt Sie das als forschungsgetriebenes Unternehmen nicht ein, dass Sie die Dividende nicht mal schwanken lassen oder ganz aussetzen können?
2017, bei meinem ersten Termin mit Investoren als neuer Vorstandschef von Evonik, bin ich dafür kritisiert worden, dass wir kaum in der Lage waren, die Dividende aus unserem freien Cashflow heraus zu bezahlen. Drei Jahre später haben wir unseren freien Cashflow stark verbessert und werden auch weiter daran arbeiten. Das ist also kein Thema mehr. Die Dividendenrendite - etwa vier, manchmal fünf Prozent - ist attraktiv. Das ist für Pensionsfonds, von denen wir viele als Ankerinvestoren haben, sehr wichtig. Je besser und je schneller Evonik wächst, desto leichter wird es für uns, das über eine attraktive Dividendenpolitik auszudrücken.
Sie sind in Gelsenkirchen, der Heimat von Schalke 04 geboren, sind aber mit Evonik einer der Hauptsponsoren von Borussia Dortmund und sitzen dort im Aufsichtsrat. Können Sie sich zu Hause noch sehen lassen?
Es ist sogar noch schlimmer: Der Bruder meines Großvaters väterlicherseits hat 1904 Schalke 04 mitgegründet. Meine Familie ist durch und durch mit Schalke verbunden. Wenn ich bei Familienfeiern etwas Lebendigkeit reinbringen möchte, dann muss ich mich nur zurücklehnen und im Hinblick auf meine Tätigkeit sagen: "Wisst ihr, jeder von uns hat das Recht, sich weiterzuentwickeln und sich für das Bessere zu entscheiden." Dann ist für Leidenschaft und Lebendigkeit gesorgt. Klar ist aber auch: Schalke gehört für mich in die erste Liga. Eine Saison ohne die Mutter aller Derbys kann ich mir kaum vorstellen. Ich hoffe sehr, Schalke kommt schnell wieder zurück.
Die Aktie:
Starkes Portfolio
Evonik ist vielen Deutschen nicht unbedingt geläufig, doch die Produkte des Konzerns stecken in Autos, Kosmetik, Nahrungsmitteln, Medikamenten und vielem mehr. Der Umbau hin zu margenstarken Produkten, die weniger stark von der Konjunktur abhängen, beginnt sich gerade auszuzahlen. Mit einer starken Position in der Lipid-Nanotechnologie und zahlreichen Produkten, die helfen, nachhaltiger zu wirtschaften, hat der Konzern (ISIN: DE 000 EVN K01 3) außerdem zwei Trümpfe in der Tasche. Gute Dividendenrendite.
Vita:
Klartext aus dem Pott
Der Wirtschaftshistoriker (52) kam nach Stationen bei der Deutschen Vermögensberatung und der Dresdner Bank im Jahr 2003 zur RAG Aktiengesellschaft, aus der 2006 das Spezialchemieunternehmen Evonik hervorging. 2017 wurde er Vorstandschef. Kullmann ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats von Borussia Dortmund und Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI).
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Bildquellen: Frank Preuss/Evonik
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15.11.2024 | Evonik Neutral | Goldman Sachs Group Inc. | |
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