Euro am Sonntag

DAX: Ein Index spielt verrückt

31.03.16 03:00 Uhr

DAX: Ein Index spielt verrückt | finanzen.net

Im DAX geht es turbulent zu. Kursverluste von VW, Versorgern und Banken belasten den beliebten Index. Welche Alternativen Investoren haben, wie der Leitindex seine alte Stärke zurückgewinnen kann.

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von Sven Parplies, Euro am Sonntag

Eine verheerende Bilanz: Innerhalb von zwölf Monaten hat die Aktie des Energiekonzerns Eon 40 Prozent an Wert verloren. Kleiner Trost: Es geht noch schlimmer! Die Deutsche Bank ist im selben Zeitraum mehr als 45 Prozent abgestürzt, Volkswagen und RWE sogar mehr als 50 Prozent.



Die spektakulären Krisenfälle treffen viele Privatanleger. Auch etliche, die diese Aktien niemals gekauft haben. Das Problem: Deutsche Bank, RWE und Volkswagen sind prominente Mitglieder im Deutschen Aktienindex und auf diesem Weg in vielen Depots vertreten. Die Statistik des Datendienstes Bloomberg zeigt, dass der DAX der populärste Indexfonds auf deutsche Aktien ist. Allein über Produkte der Anbieter iShares und db X-tracker sind mehr als 15 Milliarden Euro in den DAX investiert.

Bedenklich sind auch die Aussichten: RWE und Eon leiden unter dem deutschen Atomausstieg. Deutsche Bank und Commerzbank müssen nach der großen Finanzkrise mit strengeren Regulierungen klarkommen. Und bei Volkswagen ist noch immer nicht abzusehen, wie viel Geld der Konzern als Strafe für manipulierte Abgaswerte zahlen muss. Etliche DAX-Werte sind also fast chronische Problemfälle.


Ist der DAX durch die vielen angeschlagenen Indexmitglieder in einer strukturellen Krise? Muss die Deutsche Börse das Regelwerk des Index überdenken? Oder hat der DAX einfach nur einen schlechten Lauf? €uro am Sonntag hat sich unter Finanzexperten umgehört. Die Redaktion hat nach Alternativen für Investoren gesucht, aber Gründe gefunden, die für ein Comeback des berühmtesten deutschen Aktienindex sprechen.

Für Franz-Josef Leven vom Deutschen Aktieninstitut ist der DAX unverändert ein "gescheites Investment", weil er sich langfristig noch immer gut entwickelt hat und den Bedürfnissen vieler Anleger entgegenkommt. Schließlich sind DAX-Unternehmen mit ihren Produkten im Alltag vieler Menschen präsent: Autos von Daimler, BMW und VW, Konsumgüter von Beiersdorf (Nivea) und Henkel (Persil), der Telefonvertrag mit der Deutschen Telekom. "Viele Privatanleger investieren gern in große und bekannte Unternehmen, weil sie deren Produkte besser einschätzen können", erklärt Leven.


Aber: Der DAX ist nicht Deutschland. Das Börsenbarometer wird stark durch die Automobilindustrie bestimmt. BMW und Continental, Daimler und VW machen aktuell knapp 17 Prozent des Index aus. Hinzu kommen Konzerne wie BASF und Infineon, die auch Geschäfte mit der Autoindustrie machen. Diese starke Abhängigkeit könnte zu einem neuen Problem werden. Die Autoindustrie wurde lange durch die stark wachsende Nachfrage aus China angetrieben. Jetzt kühlt sich der Boom ab.

Die Angst der Firmen vor der Börse

Vor allem defensive Branchen, die einem Aktienkorb in wirtschaftlich schwächeren Phasen Stabilität geben, sind im DAX kaum vertreten. Und das, obwohl es solche Unternehmen hierzulande gibt. Aldi beispielsweise kam laut Schätzung des Instituts für Familienunternehmen im Jahr 2014 auf einen Umsatz von 62 Milliarden Euro. Das entspricht dem Niveau der Deutschen Telekom. Für den DAX wäre Aldi als krisenfester Wachstumswert eine Bereicherung. Die Eigentümer der Supermarktkette aber scheuen die Öffentlichkeit. Das ist ein in Deutschland verbreitetes Phänomen. "Viele Familien wollen die Kontrolle über ihre Firmen nicht mit Aktionären teilen. Oft müssen sie auch gar nicht an die Börse, weil sie ihr Wachstum auf anderen Wegen finanzieren können", erklärt Jürgen Kurz von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz das Phänomen.

Einige Mittelständler wagen sich auf das Börsenparkett, aber nur halbherzig, weil sie die Kontrolle über das Unternehmen nicht komplett abgeben wollen. United Internet ist so ein Fall. Der Telekomdienstleister ist mit knapp neun Milliarden Euro Börsenwert größer als drei DAX-Mitglieder. Aber: Für die Mitgliedschaft im Leit­index werden nur die frei handelbaren Papiere gezählt, nicht die Pakete von Großaktionären. Dadurch fallen Unternehmen wie United Internet, bei dem Gründer Ralph Dommermuth 40 Prozent der Aktien hält, durch das Raster.

Gleichzeitig gibt es etliche Konzerne im DAX, die wie Eon so massig sind, dass sie selbst nach massiven Kursverlusten noch immer nicht um ihren Platz im DAX fürchten müssen.

Index-Mathematik

Größe ist das gängige Kriterium bei der Aktienauswahl für einen Index. Auch der europäische Euro Stoxx 50 oder die großen Leitindizes unserer Nachbarländer sind nach diesem Prinzip konstruiert. Dadurch sollen sie ein realistisches Bild der Wirtschaft abbilden. Schließlich ist Daimler für Deutschland wichtiger als United Internet.

Aus Sicht eines Investors aber ist Masse nicht das wichtigste Maß, gibt die Privatbank M.M. Warburg in einer Studie zu bedenken: "Letztlich haben Aktien mit einem nach Marktkapitalisierung gewichteten Index heute ein hohes Gewicht, da sie in der Vergangenheit besonders erfolgreich waren und dementsprechend mit ihren Kursen und damit ihrer Marktkapitalisierung stärker zugelegt haben als andere Unternehmen." Eine starke Kursentwicklung in der Vergangenheit bedeutet aber nicht zwingend, dass diese Aktien auch in Zukunft besser laufen. Im DAX ist Bayer der größte Wert. Die Aktie macht laut Daten der Deutschen Börse über neun Prozent des Index aus. Über die vergangenen zwölf Monate ist der Kurs um 25 Prozent gefallen. Topwert in dieser Zeit war mit plus 45 Prozent Adidas. Der Sportartikelkonzern macht allerdings weniger als drei Prozent des Index aus.

Finanzwissenschaftler basteln an alternativen Modellen, die Anlegern mehr Rendite bringen sollen. Eine einfache Variante gewichtet alle Unternehmen eines Aktienkorbs gleich stark. Beim DAX mit seinen 30 Werten würde jedes Unternehmen an einem Stichtag, alle drei Monate oder einmal im Jahr, auf 3,33 Prozent gesetzt. Für die Kursentwicklung hätte das Konsequenzen, weil kleinere Werte größeren Einfluss bekommen. "Indizes, in denen die Unternehmen nicht nach Größe, sondern gleich stark gewichtet sind, entwickeln sich nicht in jeder Phase besser. Langfristig aber haben sie eine Überrendite von ein bis zwei Prozent jährlich gebracht", erklärt Steffen Scheuble vom Indexanbieter Solactive. Veranschaulichen lässt sich das an zwei Varianten des amerikanischen Aktienindex S & P 500: Das Original gewichtet Aktien nach Marktkapitalisierung, das Alternativmodell alle drei Monate gleich stark.

Seit der Jahrtausendwende hat diese Spezialversion das Original deutlich geschlagen, in den letzten fünf Jahren aber an Boden verloren. Grund: Einige wenige Schwergewichte wie Facebook oder Amazon trieben den Original-S & P-500 zuletzt extrem stark an.

Der Besser-DAX

Es gibt auch komplexere Modelle: "Minimum Variance" beispielsweise orientiert sich an der Schwankungsbreite. In diesem Sinne gewichtet der Index Minimum Variance Germany jene DAX-Werte stärker, deren Kurse in der Vergangenheit weniger deutlich ausgeschlagen haben. In den vergangenen Jahren hätte ein Anleger mit diesem Ansatz deutlich bessere Resultate erzielt als mit dem DAX. Ebenfalls bewährt hat sich ein Modell, das sich an der Kennziffer Sharpe Ratio orientiert. Solch intelligente Indizes sind bislang Nischenprodukte.

Der große Vorteil der nach Marktkapitalisierung gewichteten Indizes: Sie sind einfach zu berechnen und transparent. Und nicht jeder leidet unter den besonderen Problemen des DAX. Der heimliche Star unter den deutschen Aktienindizes ist ohnehin der MDAX. Der bildet die 50 größten deutschen Unternehmen unterhalb des DAX ab. Über die vergangenen zehn Jahre haben diese Mittelgewichte doppelt so stark zugelegt wie der DAX.

Die eindrucksvolle Überrendite des MDAX ist erklärbar: Durch seine Sandwichposition zwischen DAX und kleinen Nebenwerten rücken immer wieder kleine, aufstrebende Unternehmen von unten nach. Wer aus dem MDAX in den DAX aufsteigt, hat dagegen bereits deutlich an Wert gewonnen - und sein Potenzial damit oft ausgereizt.

Alternativen zum DAX

Der MDAX hat den Nachteil, dass die Unternehmen dort vielen Privatanlegern nicht vertraut sind. Aurubis, Hella oder auch Südzucker werden selbst in der Fachpresse selten behandelt. Das macht Investitionen in diese Werte für Privatinvestoren zu einer Art Blindflug. Außerdem schwanken die Kurse von Nebenwerten oft stärker und strapazieren die Nerven der Investoren. Bleiben als Alternative breitere Indizes: Der HDAX und der MSCI Germany richten sich zwar auch nach der Marktkapitalisierung der einzelnen Werte, bieten aber neben den bekannten Riesen auch Nebenwerte und haben sich langfristig leicht besser entwickelt als der DAX.

Heilende Kräfte

Aufgeben sollten Anleger den DAX trotz der vielen Problemfälle aber nicht. Schließlich hat sich das Barometer langfristig besser entwickelt als die großen Indizes vieler anderer Länder. Tim Albrecht, Portfoliomanager bei der Fondsgesellschaft DWS, setzt auf eine Selbstheilung: "Der deutsche Leitindex ist der DAX. Er ist seit Langem ein guter Performer. Daran ändern auch Banken und Versorger oder Volkswagen nichts, die nur noch einen geringen Anteil am DAX haben. Das regelt der Kapitalmarkt von allein - Aktien mit einer schlechten Kursentwicklung steigen ab, neue Unternehmen steigen auf."

Schon in der Vergangenheit hat der DAX enttäuschende Unternehmen aussortiert, etwa KarstadtQuelle, Hypo Real Estate oder MLP. Seit dieser Woche ist mit ProSiebenSat.1 erstmals ein Medienkonzern aufgenommen worden. Weitere Änderungen bahnen sich an, womöglich mehr als in früheren Jahren. Drei aktuelle DAX-Mitglieder - Thyssenkrupp, Lufthansa und RWE - sind durch Kursverluste so stark geschrumpft, dass sie nach Marktkapitalisierung nicht mehr zu den Top 30 zählen. Sollten sich die Kurse dieser Wackelkandidaten nicht erholen, droht der Abstieg.

Potenzielle Nachrücker würden den DAX bunter machen. Deutsche Wohnen wäre nach Vonovia der zweite Immobilienkonzern im DAX. Der Aromenhersteller Symrise und der auf die Nahrungsmittelindustrie spezialisierte Maschinenbauer Gea Group würden ebenfalls die defensiven Branchen im DAX stärken.

Verschärft wird der Konkurrenzkampf um die Plätze im DAX durch Gesellschaften, die erst seit kurzer Zeit an der Börse sind, bei denen die Altbesitzer noch größere Pakete halten, diese aber bald verkaufen dürften. Beim Spezialchemiekonzern Covestro etwa sind die frei handelbaren Aktien derzeit zwei Milliarden Euro wert. Inklusive der noch beim Mutterkonzern Bayer liegenden Papiere steigt der Börsenwert auf mehr als sechs Milliarden Euro. Damit wäre Covestro in DAX-Nähe. Dorthin würde es auch der Internetversandhändler Zalando schaffen, wenn die Großaktionäre ihre Pakete auf den Markt werfen sollten.

Die schleichende Revolution

Die nächste Generation der DAX-Konzerne wächst also bereits heran. Die Revolution wird aber nicht über Nacht kommen, sondern schleichend. Das liegt auch am Regelwerk der Deutschen Börse, das die Hürden für Aufsteiger bewusst hoch legt, um zu häufige Wechsel zu verhindern.

Anleger können die sich anbahnenden Veränderungen des DAX auch nutzen, indem sie gezielt auf die Aktien potenzieller Aufsteiger wie Symrise und Brenntag setzen - in der Hoffnung, dass die Indexfantasie den Kurs der Papiere zusätzlich antreibt. Eine Strategie, die mit wachsender Popularität von Indexfonds größere Chancen bietet, meint Indexexperte Scheuble. Seine Kalkulation: "Je mehr Geld in passive Indexprodukte investiert wird, desto größer wird der Einfluss des Index auf den Kurs einzelner Aktien."

Im Überblick: Alternativen zum DAX (PDF)

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Bildquellen: Ralph Orlowski/Getty Images, SergeyP / Shutterstock.com

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