Sex und Drogen für das BIP

Weil das BIP nun mit Posten wie Drogenkonsum, Militärausgaben oder Forschungsausgaben neu berechnet wird, ist die deutsche Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal kräftig gestiegen.
von Andreas Höss, Euro am Sonntag
Im Jahr 1982 prägten Arbeiter im Blaumann, Werksirenen und Stechuhren den deutschen Arbeitsalltag. Der Gabelstaplerfahrer prahlte mit seiner Staplergabel, Opa radelte für eine Sonderschicht in die Fabrik. So sang es damals zumindest die Band Geier Sturzflug, in deren Lied in die Hände gespuckt wurde, um das Bruttosozialprodukt zu steigern. Der Song kam an. Obwohl Dieter Thomas Heck sich weigerte, ihn in seiner ZDF-Hitparade anzusagen, landete er dort sofort auf dem Spitzenplatz.
Heute müsste die Band ihr ironisches Stück auf das deutsche Arbeitsethos umschreiben. Auf das Bruttosozialprodukt, das seit der Jahrtausendwende Bruttonationaleinkommen heißt, schaut kaum jemand. Die wichtigste Größe für die Wirtschaftsleistung ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Und gesteigert wird es nicht mehr nur von Arbeitern, sondern auch von Militärs, Prostituierten, Zigarettenschmugglern, Kiffern und Forschern. Sie haben das BIP um rund 22 Milliarden Euro nach oben schießen lassen, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) am vergangenen Donnerstag mitteilte.
Details publiziert Destatis erst im September bei der Revision der Zahlen. Bisher nur so viel: Der Wert aller in Deutschland produzierten Waren und Dienstleistungen nach Abzug aller Vorleistungen - so die Definition des BIPs - lag im zweiten Quartal bei 723 Milliarden Euro, im ersten waren es 701. Der Grund für den Anstieg ist nicht etwa, dass Prostituierte Sonderschichten eingelegt hätten, Kiffer im Frühjahr mehr kiffen als im Winter, Schmugglerpfade schneefrei oder Forscher produktiver sind. Ihr Beitrag zur Wirtschaftsleistung zählte im zweiten Quartal schlicht erstmals zum BIP.
Nun kann man streiten, ob Drogenkonsum eine Volkswirtschaft nach vorn bringt oder ob es schicklich ist, das älteste Gewerbe der Welt aus dem Schattendasein ins statistische Licht zu zerren. Fakt ist, dass es sich um riesige Märkte handelt.
Beispiel Drogen: 2013 wurden in Deutschland 253.525 Delikte registriert. Die Polizei hob 782 Hanfplantagen aus, der Zoll beschlagnahmte insgesamt fast 23 Tonnen Suchtstoff. Auch wenn erst im September bekannt gegeben wird, wie hoch die Summe sein wird, die aus dem Drogenhandel auf das BIP angerechnet wird - ein Milliardenbetrag wird es sicher. Handfesteres gibt es aus der Prostitution, die in Deutschland legal ist: Hier schätzt man den Umsatz auf etwa 14 Milliarden Euro jährlich.
Die Statistiker würdigen aber nicht nur die Schattenwirtschaft erstmals als Teil der Wirtschaftsleistung. Folgenreicher für das BIP ist, dass nun auch Militärausgaben und Ausgaben für Forschung und Entwicklung als Investition anerkannt werden. Letztere sollen den Löwenanteil der BIP-Steigerung ausgemacht haben. Exakte Zahlen gibt es aber auch hier erst im September. Dann werden alle EU-Staaten ihre Wirtschaftsleistung so ermitteln. Die Neuberechnung ist also keine deutsche Idee.
Weltweit neue Standards
Im Jahr 2008 einigten sich Statistiker der Vereinten Nationen darauf, die BIP-Zahlen weltweit vergleichbarer zu machen, und erstellten Empfehlungen, an die sich die Staaten mehr oder weniger hielten. Auch die USA berechnen ihr BIP seit 2013 neu. Sie haben Posten wie das geistige Eigentum aufgenommen, wie es in Deutschland bereits üblich ist. Auch Forschungsausgaben wurden neu bilanziert. Daraufhin stieg die Wirtschaftsleistung um 2,5 Prozent. Am heftigsten war die Wirkung in Nigeria, wo gleich ganze Sektoren neu gewichtet wurden. Der Rohstoffstaat bekam über Nacht einen riesigen Dienstleistungssektor, auf dem Papier verdoppelte sich die Wirtschaftsleistung fast. Kritiker bemängelten, das Land habe sich schöngerechnet.
In Deutschland sind die Folgen weniger drastisch. Die Wirtschaftsleistung wuchs um knapp drei Prozent. In der gesamten EU soll der Anstieg im Zuge der Revision laut Vorabschätzung der europäischen Statistikbehörde Eurostat 2,4 Prozent betragen. Der Vorwurf der Trickserei wurde dennoch laut. Steigt die Wirtschaftsleistung, sinken zum Beispiel auch die am BIP gemessenen Staatsschulden.
Konjunkturforscher Simon Junker vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hält diese Kritik für kleinlich. Zwar eröffne die Revision Spielräume, etwa Investitionen etwas großzügiger und kreativer zu bilanzieren. "Doch am Schuldenproblem ändert das kaum etwas", sagt Junker. In Italien oder Spanien soll das BIP mit der Umstellung ein bis zwei Prozent höher liegen, die Auswirkung auf die Schuldenquote wäre entsprechend gering. "Zudem wurden die Neuerungen im Jahr 2008, also noch vor der Schuldenkrise beschlossen", so Junker.
Näher an der Wissensgesellschaft
Insgesamt hält Konjunkturforscher Junker die Anpassungen für berechtigt. "Auch wenn sich alle auf die Frage der Schattenwirtschaft stürzen: Der echte Treiber für das BIP ist die Neubewertung von Forschung und Entwicklung als Investition." Bisher wurden diese Posten als Vorleistung gesehen und tauchten im BIP nicht auf. Ähnlich ist es auch bei den Militärausgaben. Panzer oder Kriegsschiffe galten als Vorleistungen des Staates. Nun werden auch sie als Investitionen in das Gut Sicherheit bewertet, die über Jahre abgeschrieben werden können und so das BIP steigern.
Laut Eurostat-Schätzungen entfallen allein auf die Forschung in Europa 1,9 Prozentpunkte von europaweit 2,4 Prozent Anstieg. "Forschung ist etwa für dynamische Unternehmen in der Pharmabranche, aber auch für klassische deutsche Industriekonzerne wie Autobauer viel wichtiger geworden", so Junker. "Für eine Wissensgesellschaft ist es deshalb konsequent, das als Investitionsgut zu werten und in die Wirtschaftsleistung einzubeziehen." Und hier offenbart sich für Deutschland Aufholbedarf. Denn Ländern wie Finnland oder Schweden prophezeit Eurostat mit vier bis fünf Prozent einen weit stärkeren BIP-Anstieg, weil hier die Forschungsausgaben höher sind. Auch in den USA ist das der Fall.
Irrsinniger Zahlendschungel
Leicht machen es sich die Statistiker bei ihrer Arbeit aber nicht. Rund 2.500 Mitarbeiter hat das Statistische Bundesamt in Wiesbaden, etwa 100 werten ständig 200 bis 250 amtliche Statistiken aus, um das BIP zu kalkulieren. Doch auch das reicht nicht aus. Besonders die Erfassung von Prostitution und illegalen Aktivitäten stellen die Mitarbeiter des Wiesbadener Amts vor echte Herausforderungen, da diese Aktivitäten naturgemäß heimlich und am Staat vorbei erfolgen. So behilft man sich mit zum Teil schrägen Schätzungen.
Drogenhandel und -produktion werden beispielsweise über Annahmen und Statistiken zu Konsumentenzahlen, Importmengen, Streckung der Drogen und An- und Verkaufspreisen geschätzt. "Aus den Konsumausgaben abzüglich des Importwerts errechnet sich der Produktionswert", heißt es in einer Destatis-Mitteilung. "Dieser ist um die Vorleistungen zu reduzieren, um schließlich die Bruttowertschöpfung zu ermitteln." Um dem Zigarettenschmuggel auf die Spur zu kommen, durchwühlen Statistiker auf der Suche nach Zigarettenschachteln ohne Steuerzeichen den Müll. Bei Prostitution haben sie einen jährlichen Umsatz von 14 Milliarden Euro ausgemacht. "Je Kontakt läge der Preis über alle sexuellen Dienstleistungen somit bei gut 30 Euro", so Destatis. Abzüglich Mieten, Schutzgeld oder Arbeitsmaterial bliebe etwa die Hälfte an Wertschöpfung.
Bei aller Heiterkeit, welche die neue BIP-Berechnung hervorrufen kann, bleibt ein ernüchternder Aspekt. Die Steigerung ist ein Einmaleffekt, die Wirtschaft wächst durch sie nicht schneller. Und legt man bei der Berechnung die gleiche Methodik zugrunde, ist die deutsche Wirtschaft im zweiten Quartal sogar überraschend um 0,2 Prozent gegenüber dem ersten geschrumpft. Im Gesamtjahr könnte das Wachstum also geringer ausfallen als bisher angenommen. Die Deutsche Bank hat ihre BIP-Prognose bereits von zwei auf 1,5 Prozent gesenkt. Angesichts schwacher Konjunktursignale könnte selbst das noch zu optimistisch sein.
Der Konjunktur auf der Spur
Statistiker messen mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) die Wirtschaftsleistung eines Landes. Für Konjunkturforscher und Anleger hat das BIP aber ein Problem: Es weist nur aus, wie sich die Wirtschaft in der Vergangenheit entwickelt hat. Um der aktuellen Lage und der künftigen Entwicklung auf die Spur zu kommen, behelfen sie sich mit Indikatoren wie dem Ifo-Index. Diese erscheinen öfter und haben in die Zukunft gerichtete Komponenten. Betrachtet man diese Indikatoren, fällt auf: Sie deuten für Deutschland eine wirtschaftliche Schwächephase an.
"Wir sorgen uns, dass sich das weltweit sinkende Wachstum und Krisen wie in der Ukraine negativ auf die Konjunktur auswirken", sagt Simon Junker vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das für die Bundesregierung regelmäßig die konjunkturelle Lage in Deutschland begutachtet. Zuletzt hatte das DIW 1,8 Prozent Wachstum im Jahr 2014 erwartet. Nun geht Junker davon aus, dass die im September anstehende nächste Prognose schlechter ausfallen wird.
Hinweise, dass die deutsche Wirtschaft mindestens unter einer Sommergrippe leidet, kommen etwa aus der Industrie. Dort sind die Auftragseingänge im Mai und Juni so stark eingebrochen wie zuletzt im Krisenjahr 2009, was schlechtere Geschäfte befürchten lässt. Verantwortlich dafür sind weniger Bestellungen aus der Eurozone und schwache Zahlen aus dem Flugzeugbau. Andere Indikatoren haben sich ebenfalls verschlechtert. Am Montag bescheinigte die OECD der deutschen Wirtschaft auf Grundlage ihrer Leading Indicators ein "nachlassendes Wachstum", am Dienstag gab der ZEW-Index, für den Finanzmarktexperten nach ihren Konjunkturerwartungen befragt werden, kräftig nach.
Auch der Ifo-Index, der als wichtigster deutscher Konjunkturindikator angesehen wird, zeigt nach unten. Um ihn zu ermitteln, befragt das Ifo-Institut monatlich rund 7.000 Unternehmen nach ihrer aktuellen wirtschaftlichen Lage und ihren Geschäftsaussichten. Zuletzt ist der Index drei Mal in Folge gefallen, woraus Ökonomen einen konjunkturellen Wendepunkt ableiten. Ob der schlechte Trend anhält, wird sich am Montag in einer Woche zeigen. Dann veröffentlicht das Institut das Geschäftsklima für August.
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