Boom ohne Ende

Biotech: Die Innovationsmaschine läuft auf vollen Touren

30.05.13 03:00 Uhr

Nach dem Allzeithoch des Branchenindex Nasdaq Biotechnology wächst die Angst vor einer Korrektur. Doch die Rally hat Substanz — und viele Titel haben noch Aufholpotenzial.

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von Julia Gross, Euro am Sonntag

Acht Minuten. Das ist ziemlich wenig Zeit, um die Früchte mehrjähriger Forschung vorzustellen. Doch selbst auf einem kleinen Netzwerktreffen wie den Biotechnologietagen Mitte Mai in Stuttgart wechseln die Präsentationen teilweise schneller, als Besucher mitschreiben können.

Es gibt viel zu berichten aus der Branche — und unter den Ergebnissen sind immer häufiger kleine und große medizinische Sensationen. Das treibt die Aktienkurse an: In den vergangenen Wochen markierte der Nasdaq-Biotechnology-Index (NBI) ein Allzeithoch nach dem anderen. Selbst in Anbetracht des generell recht freundlichen Börsenklimas ist die Rally der Biotechwerte bemerkenswert: Seit Beginn des Jahres hat das Kursbarometer NBI um 28 Prozent zugelegt. In den vergangenen vier Jahren ging es quasi ständig aufwärts, der Index kletterte in diesem Zeitraum um insgesamt 180 Prozent.

Einen ähnlichen Anstieg gab es bereits zwischen 1998 und 2000. Es folgte ein steiler Absturz. Droht auch jetzt die Korrektur? Einige Parallelen sind unübersehbar: Wie damals strömt sehr viel Kapital in den Sektor. Die Kombination aus hoher Liquidität und niedrigen Zinsen lässt Vermögensverwalter weltweit nach Nischen suchen, wo sie eine überdurchschnittliche Rendite erzielen können. Die größten Fondsgesellschaften haben Biotechaktien zuletzt um den Faktor 1,9 übergewichtet.

Die Folge: Lieblingswerte der Portfolioverwalter wie Biogen Idec oder Celgene sind mit Kurs-GewinnVerhältnissen (KGV), die bei der Aktienbewertung eine wichtige Kennziffer sind, von 36,7 und 37,7 schon relativ hoch bewertet. Und vereinzelt ist bereits Nervosität unter den Anlegern zu spüren.

Etwa als Biotechveteran Amgen mit seinen Quartalszahlen im April zwar die Erwartungen übertraf, aber bei verschiedenen Produkten Umsatzrückgänge bekannt gab. Die Börsen reagierten darauf mit einem übertrieben heftigen Minus von sieben Prozent. Schon am nächsten Tag stieg der Kurs jedoch wieder.

„Das macht mir keine Sorge“, sagt Daniel Koller vom BB-Biotech-Managementteam. „Die Situation ist ganz anders als 1999/2000. Im Gegensatz zu damals arbeiten heute viele mittlere und große Unternehmen profitabel, viele haben Produkte am Markt.“ Auch die Bewertungen — im Durchschnitt liegen die KGVs bei 20 — hält er nicht für zu teuer. „Immerhin rechnen wir bei diesen Firmen in den kommenden Jahren mit Umsatzwachstumsraten von zehn bis 20 Prozent. Aus einem längerfristigen Blickwinkel betrachtet, würden wir Rückschläge daher eher für Nachkäufe nutzen.“

Kurzfristige Korrekturen will auch Paul Wagner, Portfoliomanager des Allianz Biotechnologie-Fonds, nicht ausschließen. „Aber die Outperformance des Biotechsektors wurde in erster Linie von Produktinnovationen mit erheblichem kommerziellem Potenzial angetrieben, und das wird meiner Meinung nach auch so bleiben.“ Tatsächlich haben Biotechunternehmen zuletzt ein ums andere Mal bewiesen, dass sie in ihren Laboren völlig neue, hochwirksame Therapien entwickeln können — ganz im Gegensatz zu vielen großen Pharmakonzernen, bei denen relative Leere in der Pipeline herrscht.

Vertex hat zum Beispiel für eine bestimmte Form der Erbkrankheit Mukoviszidose das erste Medikament entwickelt, das die Ursache bekämpft, anstatt nur an den Symptomen herumzudoktern. Gilead Sciences wird voraussichtlich 2014 einen neuen Ansatz zur Behandlung von Hepatitis C auf den Markt bringen. Die neue Therapie ist nicht nur wirksamer als die bisherige, sie erlaubt es auch, die Behandlungsdauer von bis zu 48 Wochen auf acht bis zwölf Wochen zu verkürzen.

Solche klaren Verbesserungen für die Patienten und damit letztlich auch für die Gesellschaft werden heute von Zulassungsbehörden und Krankenkassen zunehmend eingefordert. Für die erfolgreichen Biotechs ein großer Vorteil: Sie profitieren auf diese Weise häufig von verkürzten Zulassungsverfahren — und haben auch bei der Preisgestaltung für ihre Produkte die Argumente auf ihrer Seite.

Weil die großen Biotechtitel wie Biogen oder Celgene schon sehr teuer geworden sind, lohnt sich für Anleger der Blick in die zweite Reihe. „Dort hinken viele Firmen betreffend ihrer Performance noch hinterher“, sagt Daniel Koller. „Die Aktien in diesem Segment schwanken zwar häufig stärker, können aber mittel- und langfristig einen höheren Mehrwert erzielen als die arrivierten Werte.“

Ein Investment in Einzelaktien ist jedoch gerade bei kleineren Biotechunternehmen riskant — oft gründet sich die Kursfantasie auf ein einziges Produkt. Scheitert dies, verbuchen Anleger im schlimmsten Fall einen Totalverlust. Einige Branchenfonds haben ihre Portfolios gezielt mit den Werten der zweiten Reihe angereichert.

Drei Bereiche innerhalb des Biotechsektors könnten in den kommenden Monaten besonders von der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen oder Marktzulassungen profitieren: Krebstherapien, Cholesterinsenker und Orphan Drugs. Den Anfang macht der weltgrößte Krebskongress, ASCO, der am Freitag in Chicago beginnt. Für die Mediziner und Investoren vor Ort hat auch dieser Kongress das Zeug zur Reizüberflutung: An fünf Tagen werden 5000 Präsentationen gehalten.

Krebstherapien
Die Entwicklung von Medikamenten gegen Krebs ist traditionell eine Domäne der Biotechbranche. Aktuell machen zwei neue Klassen von Therapeutika von sich reden: Kinase-Hemmer und konjugierte Antikörper. Kinasen sind zentrale Schaltstellen bei der Regulierung der Zellteilung — ein Prozess, der bei der Entstehung von Krebs außer Kontrolle gerät. Antikörper zählen zu den meistverkauften Krebsmedikamenten, Antikörper-Konjugate transportieren zusätzlich ein Zellgift „huckepack“ zu den Krebszellen, das die Wirkung der Antikörper verstärkt. Das erste zugelassene Produkt, Kadycla von Roche und Immunogen, kostet 9800 Dollar pro Monat. Unternehmen mit aussichtsreichen Krebstherapie-Kandidaten: Celldex, Infinity, Pharmacyclics.

Cholesterinsenker
Ein großer Teil der Bevölkerung hat einen zu hohen Cholesterinspiegel und damit ein erhöhtes Risiko für Arterienverkalkung und Herzinfarkt. Cholesterinsenkende Statine, allen voran Pfizers Lipitor, avancierten deshalb zu den absoluten Pharmabestsellern. Lipitor spülte insgesamt über 125 Milliarden Dollar in Pfizers Kassen. Inzwischen sind preiswerte Generika erhältlich.

Doch viele Patienten erreichen auch mit Statinen nicht den erwünschten Cholesterinlevel. Hier — und in der Behandlung vererbter Cholesterin-Stoffwechselstörungen — sehen Biotechfirmen noch eine Versorgungslücke. Sogenannte PCSK-9-Antikörper könnten die Lösung sein: Sie wirken nicht nur bei der vererbten Krankheitsvariante, sondern scheinen auch die Wirkung der etablierten Statine zu verstärken.

Orphan Drugs
Orphan Drugs, wörtlich übersetzt „Waisenmedikamente“, sind Mittel gegen sehr seltene Erkrankungen. Zum Beispiel Erbkrankheiten, bei denen der Körper ein bestimmtes Enzym nicht herstellt. Die Entwicklung entsprechender Arzneimittel schien Pharmakonzernen lange nicht lukrativ genug, die Patienten waren also alleingelassen, „verwaist“. Deshalb führte die US-Zulassungsbehörde 1983 ein bevorzugtes Zulassungsverfahren für seltene Indikationen ein. Vor allem die Biotechfirma Genzyme demonstrierte daraufhin, dass sich ein Orphan-Drug-Geschäftsmodell durchaus lohnen kann. 2011 wurde Genzyme für 14 Milliarden Euro von Sanofi übernommen, die Entwicklung von Orphan Drugs ist seitdem mächtig in Mode gekommen.

Denn die Chancen, dass ein Medikament mit Orphan-Drug-Status auch zugelassen wird, ist statistisch deutlich höher als bei verbreiteten Krankheiten. Der Status garantiert Firmen ein sieben- bis zehnjähriges Monopol. Die Firmen benötigen keine große Marketingmaschinerie, denn die wenigen Patienten sind auf die Medikamente angewiesen. Deshalb lassen sich dafür auch oft Preise von mehreren Hunderttausend Euro pro Jahr durchsetzen. Aussichtsreiche Orphan-Drug-Entwickler: Biomarin, Protalix, Sarepta, Synageva. 
Firmen mit aussichtsreichen Cholesterinsenker-Projekten: Aegerion, Amgen, Regeneron.

Investor-Info

BB Biotech
Erfolgreiche Mixtur
Bereits seit gut zwei Jahren baut das Managementteam der Schweizer Beteiligungsgesellschaft Positionen in interessanten Biotechtiteln der zweiten Reihe auf. Zum Beispiel sind mit Biomarin und Swedish Orphan Biovitrum gleich zwei erfolgreiche Orphan-Drug-Spezialisten im Portfolio. Das Gegengewicht zu den volatileren Wachstumswerten gleichen die bewährten „Dickschiffe“ wie Celgene und Gilead aus. Außerdem positiv: BB Biotech schüttet eine Bardividende aus, zuletzt 4,50 Schweizer Franken pro Aktie, und kauft 2013 bis zu zehn Prozent eigene Aktien zurück.

Allianz Biotechnologie
Mut zur eigenen Linie
Seit März 2012 managt Paul Wagner den Allianz-Fonds von San Francisco aus. Damit befindet sich ein guter Teil der Biotechelite direkt vor seiner Haustür. Wagner hat unter seinen größten Portfoliopositionen einige ungewöhnliche Titel, die den Fonds vom Mainstream abgrenzen. Zum Beispiel den Winzling Protalix mit einer interessanten Orphan-Drug-Pipeline und einer recht einzigartigen Produktionstechnologie-Plattform, die auch für große Pharma- und Biotechunternehmen attraktiv sein könnte. Mit Gilead setzt er auf den bevorstehenden Paradigmenwechsel in der Hepatitis-Behandlung.

Unternehmen
Außergewöhnliche Produkte
Diese zehn Unternehmen entwickeln extrem innovative Arzneimittel, die Therapien erheblich verbessern können. Ein Investment in Einzeltitel ist im Biotechsektor generell sehr riskant, besonders bei kleinen Unternehmen, die noch keine eigenen Produktumsätze erzielen. Viele Titel finden sich aber auch in den Portfolios von BB Biotech oder Branchenfonds.

Aegerion: ISIN: US00767E 1029
Amgen: ISIN: US031162 1009
Biomarin: ISIN: US09061G 1013
Celldex: ISIN: US15117B1035
Infinity: ISIN: US45665G3039
Pharmacyclics: ISIN: US716933 1060
Protalix: ISIN: US74365A 1016
Regeneron: ISIN: US75886F 1075
Sarepta: ISIN: US803 607 1004
Synageva: ISIN: US87159A 1034

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