VW im Streit mit Anlegern: Kapitalmarkt wurde rechtzeitig informiert
Der heutige Volkswagen-Aufsichtsratschef und frühere Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch ist noch kurz vor Bekanntwerden des Abgasskandals in den USA von Risiken von höchstens 150 Millionen Euro ausgegangen.
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Das geht aus der Klageerwiderung von Volkswagen (VW) im Musterverfahren zu Aktionärsklagen im VW-Abgasskandal hervor, die der Deutschen Presse-Agentur in wesentlichen Teilen vorliegt. Dem Vernehmen nach ist Pötsch auch bereit, in dem Verfahren auszusagen.
Es habe es keine konkreten Anhaltspunkte für eine Kursrelevanz der Affäre gegeben, teilte Volkswagen am Donnerstag mit - bis die US-Umweltbehörden am 18. September 2015 unerwartet mit ihren Anschuldigungen an die Öffentlichkeit gingen. Darauf komme es in der Haftungsfrage gegenüber Investoren im Kern an.
Mit der am Mittwoch eingereichten Klageerwiderung im Musterverfahren beim Oberlandesgericht Braunschweig stellt Volkswagen die Weichen für seine Verteidigungsstrategie. In dem Verfahren soll geklärt werden, ob VW seinen Pflichten gegenüber Investoren nachgekommen ist.
Unmittelbar nach Aufdeckung des Abgasbetrugs durch die US-Behörden brach der Kurs der VW-Aktie ein - zeitweise verloren die Vorzugspapiere fast die Hälfte ihres Werts. Anleger erlitten zwischenzeitlich erhebliche Verluste. Investoren wie die Sparkassentochter Deka, die als Musterklägerin gegen VW auftritt, verlangen Schadenersatz.
VW hat alleine für Vergleiche in Nordamerika über 25 Milliarden Euro verbucht. Sollten die Anleger sich vor Gericht durchsetzen, könnte es noch teurer werden: Im Musterverfahren geht es um Schadenersatzansprüche von 3,1 Milliarden Euro, rund 1600 Klagen wurden bisher am Landgericht Braunschweig ausgesetzt. Insgesamt belaufen sich die Forderungen der 1650 eingereichten Klagen überwiegend institutioneller Anleger auf mehr als neun Milliarden Euro. Die erste Anhörung beginnt am 3. September.
Laut Gesetz müssen Nachrichten, die den Firmenwert beeinflussen können, umgehend ("ad hoc") veröffentlicht werden. Das habe Volkswagen versäumt, behauptete Klägeranwalt Andreas Tilp. Er betonte, es komme nicht nur darauf an, was der Vorstand wisse. Der Konzern hafte auch, wenn mit wichtigen Aufgaben betraute Menschen unterhalb der Organebene etwas wüssten.
In der Klageerwiderung von Volkswagen heißt es nun, die Ad-hoc-Pflicht setze "ein erhebliches Kursbeeinflussungspotenzial der betreffenden Information voraus". Diese Kursrelevanz habe gefehlt, sagten mit der Sache vertraute Personen. Daher sei auch keine frühere Mitteilung an die Finanzwelt nötig gewesen.
Noch am 14. September 2015 ging Pötsch der Klageerwiderung zufolge von einem Risikopotenzial von rund 150 Millionen Euro aus - was keine wesentlichen Auswirkungen auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der VW-Gruppe gehabt hätte. Enthalten waren darin ein Bußgeld, Kosten für ein Software-Update und ein "Sicherheitszuschlag". Diese Sicht wird gestützt von einer Risikoprüfung, die der Konzern im August 2015 von einer US-Wirtschaftskanzlei erhielt.
In dem Bericht der US-Kanzlei Kirkland & Ellis heißt es zwar, dass der Konzern wohl nicht ohne Strafen davonkommen werde. Allerdings gaben die Juristen weitgehend Entwarnung, was die finanziellen Gefahren angeht: "Das Luftreinhaltegesetz führt zwar sehr hohe Maximalstrafen auf, aber diese gesetzlichen Höchstwerte haben keine direkte Relevanz für Fälle, die eine wesentliche Anzahl an Fahrzeugen betreffen".
Das höchste je verhängte Bußgeld habe Hyundai (Hyundai Motor) mit rund 91 Dollar pro Auto gezahlt. Der Vergleich habe die Südkoreaner 2014 insgesamt 100 Millionen Dollar gekostet.
VW ging laut Klageerwiderung davon aus, dass sich Strafzahlungen vermutlich im Rahmen der bisherigen Behördenpraxis bewegen würden. Das würde eine Größenordnung bedeuten, die bei Erlösen von über 200 Milliarden Euro im Geschäftsjahr 2014 und Rückstellungen für Gewährleistungen und Kulanzen - ebenfalls im Jahresabschluss 2014 - in zweistelliger Milliardenhöhe keine Relevanz für den Kapitalmarkt hätte.
Ohnehin hätte der Vorstand dem Dokument zufolge den sogenannten Weg der Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Pflicht wählen können - der schwebenden Behördengespräche wegen. Und: Ein Verstoß gegen Emissionsgesetze sei nicht gleichbedeutend mit bewusstem Betrug, hieß es in Unternehmenskreisen.
Erst ab Mai 2015 verdichteten sich dem Dokument zufolge auch auf der Führungsebene des Konzerns die Hinweise darauf, dass es "ein Problem mit US-Behörden wegen Emissionen" gebe. Hintergrund war demnach, dass die Behörden die Zulassung von Dieselfahrzeugen des Modelljahres 2016 von einer plausiblen Erklärung der Stickoxidwerte der im Markt befindlichen Fahrzeuge abhängig machten.
Dann kam der vielzitierte "Schadenstisch" am 27. Juli 2015 mit unter anderem Ex-Vorstandschef Martin Winterkorn: Nicht mitgeteilt worden sei dort aber, dass es um eine nach US-Recht unzulässige Abschalteinrichtung ("defeat device") der Abgasreinigung gehen könne, geht aus der Klageerwiderung hervor.
Am 18. September 2015 kam es nach Einschätzung in Unternehmenskreisen zu einem Paradigmenwechsel: Damals veröffentlichten die US-Behörden ihre "Notice of Violation" - für den Vorstand laut Klageerwiderung unerwartet und im Gegensatz zu ihrer bisherigen Bußgeld- und Verwaltungspraxis.
Die Folge waren dem Dokument zufolge, dass Volkswagen damit begann, Einschätzungen zu den Auswirkungen der Vorwürfe auf den Konzern zu ermitteln. Dazu kam, dass bis dahin die Verantwortlichen davon ausgegangen seien, die auffälligen Stickoxid-Werte samt "defeat device" seien ein reines US-Thema. Nachdem "unter Hochdruck" eine erste halbwegs belastbare Zahlenbasis zu den weltweiten Risiken ermittelt war, veröffentlichte Volkswagen demnach am 22. September 2015 eine entsprechende Ad-hoc-Mitteilung.
HANNOVER (dpa-AFX)
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