S&P Fokus Finanzmarkt

Flüchtlingsströme nach Europa - Auswirkungen auf die Staatenratings?

22.09.15 10:52 Uhr

Flüchtlingsströme nach Europa -  Auswirkungen auf die Staatenratings? | finanzen.net

Der Flüchtlingsstrom nach Europa wird die Volkswirtschaften und Staatshaushalte der EU-Staaten kaum so sehr belasten, dass dadurch die Staatenratings unter Druck kommen und Herabstufungen die Folge sein könnten.

Zu den Unwägbarkeiten bezüglich der Staatenratings zählt jedoch die Frage, inwieweit Europa fähig ist, eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderung zu finden und die Krisensituation zu bewältigen. Zu diesem Ergebnis kommt Standard & Poor’s Ratings Services in dem Kommentar "The Surge Of Refugees In The EU: Boon Or Burden For Sovereign Ratings?".

Wer­bung

Die schiere Anzahl der Menschen, die zurzeit auf der Flucht sind und sich jenseits der Grenzen ihrer Heimatländer befinden, ist weltweit die höchste seit dem Bangladesch-Krieg Anfang der 1970er Jahre. Die meisten der derzeitigen Flüchtlinge kommen aus Syrien, wo die Sicherheitslage sich immer weiter verschlechtert. Deutschland erwartet 2015 bis zu einer Million Flüchtlinge. Diese Zahl entspricht mehr als 1% der Bevölkerung. Während den Menschen aus Syrien, Irak, Eritrea und Afghanistan mehrheitlich Asyl gewährt werden wird, haben Immigranten aus den westlichen Balkanstaaten Serbien, Albanien und dem Kosovo wenige Chancen auf Asyl. Hinzu kommt jedoch noch eine signifikante Zuwanderung aus anderen EU-Mitgliedsstaaten, die in den letzten Jahren auch über eine halbe Million betrug.

Kurzfristige Mehrkosten

Die fiskalischen Implikationen sind kurzfristig signifikant. Die EU-Mitgliedsstaaten müssen für Unterkunft und ein Existenzminimum sorgen, außerdem für Bildung, einschließlich Sprachkursen. Die deutsche Regierung rechnet derzeit mit Mehrkosten in Höhe von 6 Milliarden Euro, dies entspricht 0,2 Prozent des BIP - eine Summe, die nicht durch neue Schuldenaufnahme, sondern durch Einsparungen in anderen Bereichen finanziert werden soll. Trotz der momentan sehr hohen Belastungen gerade für die Städte und Gemeinden, geht S&P auch in den anderen Staaten von ähnlich moderaten Steigerungen der öffentlichen Ausgaben aus, so dass hier keine Auswirkungen auf die Staatenratings zu erwarten sind.

Wer­bung

Eine Prüfung für die Handlungsfähigkeit der EU

Weit wichtiger bei der Analyse der Kreditwürdigkeit von Staaten ist jedoch die Handlungsfähigkeit und Belastbarkeit der politischen Systeme. Nach Ansicht von S&P zählt zu den größten Unsicherheiten für die Bonität aller europäischen Staaten, die Fähigkeit, gemeinsame Lösungen für diese den gesamten Kontinent betreffende Herausforderung zu finden. Ein halbherziger und damit trügerischer Kompromiss könnte ein Anzeichen dafür sein, dass gerade die EU weiterhin unter Governance-Problemen leidet und im Falle einer erneuten Finanzkrise nicht adäquat reagieren könnte.

Zudem könnte eine erbitterte Auseinandersetzung über die Verteilung der Flüchtlinge die kooperative Stimmung unter den EU-Mitgliedsstaaten verschlechtern. Euroskeptische und rechtsnationale Kräfte könnten dadurch in den Nationalstaaten weiter gestärkt werden. Da S&P davon ausgeht, dass ein Austritt aus der EU für den austretenden Staat und die EU negativ wäre, gilt es, auch diesen Aspekt bei der Einschätzung der Auswirkung der Flüchtlingsströme auf die Staatenratings zu beachten.

Wer­bung

Von Dr. Moritz Kraemer, Managing Director bei Standard & Poor’s Ratings Services in Frankfurt

Hier kommentieren jede Woche Analysten von Standard & Poor’s Credit Ratings Services (S&P) die Entwicklungen in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten - und welche Herausforderungen sich daraus für Wachstum und Stabilität ergeben. S&P ist seit 30 Jahren mit inzwischen neun Standorten in Europa vertreten, im Frankfurter Büro arbeiten 120 Mitarbeiter aus 19 Ländern. Mehr Infos unter www.spratings.de



Der obige Text spiegelt die Meinung des jeweiligen Kolumnisten wider. Die finanzen.net GmbH übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche Regressansprüche aus.

Bildquellen: gualtiero boffi / Shutterstock.com