Null Zinsen, viel Verzerrung

Wenig Positives über negative Zinsen - Risiken wachsen!

20.06.15 08:00 Uhr

Wenig Positives über negative Zinsen - Risiken wachsen! | finanzen.net

Stratege Milligan sieht durch die Nullzinspolitik langfristige Folgen für Anleger, Unternehmen, Banken und Politik. Je länger die Zinsen negativ sind, desto größer werden die Verzerrungen.

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von Andrew Milligan, Gastautor von Euro am Sonntag

Zinsen nahe der Nulllinie und ­darunter sind derzeit in Europa und - mit Einschränkungen - auch in Japan zum Normalfall geworden. Trotz der kürzlich steiler werdenden globalen Zinskurve hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass negative Zinsen bei kürzeren Laufzeiten bis zu fünf Jahren noch eine längere Zeit fortbestehen könnten. Märkte und Anleger scheinen sich vielfach daran gewöhnt zu haben. Doch wie wirken sich Negativzinsen langfristig aus? Wie beeinflussen sie eingespielte Prozesse bei Unternehmen, Staaten, Banken und Anlegern? ­Inwieweit führen sie zu Verwerfungen und Blasenbildungen?

Um hier klare Antworten zu finden, bedarf es einer eingehenden Analyse der Strukturen und Wechselwirkungen auf verschiedenen Ebenen. Anleger sind erst einmal damit konfrontiert, dass festverzinsliche Papiere mit einer negativen Rendite in der Regel zu einem Kurs weit über dem Rückzahlungswert notieren. Ein Anleger, der sie bis zum Ende der Laufzeit hält, muss also mit Verlusten rechnen.

Gerade große Staatsfonds und andere Einrichtungen mit strengen Vorgaben hinsichtlich Liquidität und Restlauf­zeiten werden deshalb auf die Bonds der europäischen Peripheriestaaten aus­weichen oder sogar ihre Euro-Anlagen ­reduzieren. Nach Angaben des Inter­nationalen Währungsfonds hat das Rebalancing in den Zentralbankenkonten zugunsten des Euro stark abgenommen, seit die Zinsen im vergangenen Jahr ins Negative gedreht haben.

Anleger fliehen in Papiere
mit schlechterer Bonität

Eine weitere Gefahr würde ich als schleichende Ausdehnung des Risikos bezeichnen. Fallen die Renditen, flüchten die Anleger aus den Kernpapieren in ­solche Papiere mit einer schlechteren Qualität und häufen dabei zusätzliche Risiken in ihrem Gesamtportfolio an. Selbst seit dem kürzlichen Ausverkauf sind die Bewertungen an den Bondmärkten immer noch außergewöhnlich hoch. Wenn nun dank eines möglichen Erfolgs der Quantitative-Easing-Politik der EZB tatsächlich die Inflation oder auch nur die Inflationserwartungen steigen, dürfte eine neue Preisbildung auf den Anleihemärkten erhebliche negative Auswirkungen auf die Bilanzen haben. Vor allem, wenn die Anleger die Liquidität in den Bondmärkten überschätzen oder zu stark gehebelt sind.

Für Banken stellt sich die Frage, wie sich die theoretisch ja ebenfalls nega­tiven Kreditkosten auf die Kreditnachfrage auswirken. Auf der einen Seite sollten sie dazu beitragen, die Investitionstätigkeit zu erhöhen. Auf der anderen Seite können sie allerdings auch als systematischer Fehler interpretiert werden und andeuten, dass wir uns in einer Phase jenseits jeder Normalität be­finden. Dies kann Verbraucher und Wirtschaft animieren, ihre Liquiditätshaltung als Vorsorge für unerwartete Ereignisse signifikant zu erhöhen.

Ähnlich wie bei verzerrten Preis­signalen bergen negative Zinsen somit die Gefahr, eingespielte Mechanismen zwischen Sparern und Kreditnehmern aus den Fugen zu heben. Die Negativver­zinsung kann bei Sparern ab einem gewissen Punkt dazu führen, dass sie ihre Mittel nicht mehr bei den klassischen Kapitalsammelstellen verwahren, sondern Papiergeld zu Hause gehortet wird. Das würde auch die Refinanzierung durch Einlagen empfindlich stören.

Für die Politik scheinen Negativzinsen zunächst einmal rundweg positiv: Viele Staaten haben bereits erfolgreich Anleihen im negativen Bereich emittiert und so ihre zukünftigen Kreditkosten deutlich reduziert. Die Schattenseite dieses Trends ist der steigende Druck auf die Währungen von Schweden, Großbritannien und der Schweiz genauso wie auf den US-Dollar. Diese Regierungen versuchen, ihre jeweilige Währung verbal herunterzureden oder Zinserhöhungen so weit wie möglich hinauszuzögern. Nicht vergessen werden dürfen die teils gravierenden Folgen der Zinspolitik auf das Gemeinwesen und das Wirtschaftsleben - angefangen bei der Rechnungslegung der Unternehmen über eine notwendige Umstellung der IT-Systeme bei Finanzdienstleistern bis hin zu Steuerzahlungen.

Auch die Unternehmen profitieren zunächst von den ultraniedrigen Zinsen. So lässt sich bereits erkennen, dass Corporate Bonds vor einer neuen Emissionswelle stehen. Die dabei erzielten Erlöse können wiederum für die Refinanzierung von höher verzinstem Fremdkapital eingesetzt werden. Genauso steht damit billiges Kapital für Unternehmenskäufe bereit. Auch US- Unternehmen emittieren ihre Bonds ­bereits in Euro, sei es, um nur den Zinsvorteil zu nutzen, oder sei es, dass sie schon Kapital für Akquisitionen in Europa vorhalten.

Negativzinsen erhöhen das
Risiko von Preisblasen

Der Nachteil allerdings ist, dass die Zinssituation eine neue Welle des "Financial Engineering" auslösen könnte, in der sich Preise immer weiter von den Fundamentaldaten entfernen. Werden die Anleiheemissionen benutzt, um Aktienrückkäufe zu finanzieren, würde das ­einen erheblichen Druck auf die Bilanzen der Unternehmen ausüben und die Risiken für die Fremdkapital­gläubiger erhöhen. Kapital nicht produktiv zu ­investieren, ist nicht unbedingt nur ein Signal für Stärke. Schon jetzt zeigen die Statistiken einen erheblichen Überhang von Bond-Emissionen gegenüber Aktien­­emissionen. Im Fazit gilt es, die langfristigen Konsequenzen dieser außergewöhnlichen Phase genau zu beobachten. Es ist bereits fraglich, ob nominal negative Zinsen überhaupt die intendierte positive Wirkung auf Wirtschaftswachstum und Inflation haben. Was wir jedoch jetzt schon sehen, sind Folgen für die Preise von Vermögensgegenständen aller Art - insbesondere von Aktien, Häusern und gewerblichen Immobilien.

Wenn die Phase der Negativzinsen länger anhält, werden die beschriebenen Veränderungen im Verhalten der Marktteilnehmer zu immer wichtigeren Treibern. Wir warnen davor, dass ne­gative Zinsen das Potenzial haben, das Auseinanderklaffen von Konjunktur­zyklus und Finanzmärkten zu vergrößern. Das kann Preisblasen schaffen, die dann unweigerlich platzen, wenn der "lender of last resort" ausfällt.

zur Person:

Andrew Milligan, Head of Global
Strategy, Standard Life Investments

Nach dem Studium der Wirtschaft und der Wirtschaftsgeschichte arbeitete Milligan bei namhaften Investmenthäusern. Seit 2000 ist er bei Standard Life. Standard Life Investments (SLI) ist mit ­einem verwalteten ­Vermögen von mehr ­ als 350 Milliarden Euro ­eines der großen europäischen Investment­häuser. Hervorgegangen aus der bekannten schottischen Versicherung Standard Life, verwaltet SLI mittlerweile mehr als die Hälfte der Assets für Drittkunden.

Bildquellen: StockThings / Shutterstock.com, SLI