Wenn sich der Fiskus einen Dreck schert
Das Finanzministerium kassiert viele höchstrichterliche Urteile. Was Steuerzahler tun können.
von Sophie Brandt, Euro am Sonntag
Manchmal bieten Heilbäder nicht nur gesundheitliche, sondern auch steuerliche Vorteile. Das oberste deutsche Steuergericht, der Bundesfinanzhof (BFH), entschied im Jahr 2005: Wer solche Behandlungen anbietet, muss unter Umständen nicht die volle Umsatzsteuer bezahlen, sondern nur den ermäßigten Satz von sieben Prozent (Az. V R 54/02).
Nach einigem Hin und Her konterkarierte das Bundesfinanzministerium, das fürs Eintreiben von Steuern zuständig ist, das Urteil im Jahr 2014. Es erließ einen sogenannten Nichtanwendungserlass in Form eines Rundschreibens an die Finanzämter: Die Entscheidung beziehe sich nur auf den damals behandelten Einzelfall (geklagt hatte ein Fitnesscenter) und solle nicht auf analoge Fälle angewendet werden.
Dies ist bei Weitem nicht das einzige Beispiel, bei dem das Ministerium so rigoros vorging (siehe Liste unten). Aktuelle Auflistungen, in wie vielen Fällen das Ministerium Urteile des BFH mit einem Nichtanwendungserlass abstraft, gibt es - zumindest offiziell - nicht. Insider schätzen aber, dass dies in 1,5 Prozent der Urteile der Fall ist, also etwa bei jedem 60. Richterspruch. Davon seien rund 80 Prozent finanziell vorteilhaft für den Steuerzahler gewesen.
Wie läuft das Ganze in der Praxis ab? Bürger A hat eine Idee, was er steuerlich geltend machen könnte. Seinen Antrag mittels Steuererklärung lehnt das Finanzamt ab. Im folgenden Einspruchsverfahren beharrt A auf seiner Argumentation und erhält vom Finanzamt erneut eine Abfuhr. Doch A lässt nicht locker und wendet sich ans zuständige Finanzgericht. Gewinnt er dort die Klage, kann das Finanzamt in die Revision gehen und den Fall vor den BFH bringen. Gewinnt das Finanzamt, liegt es an A, ob er vor den BFH zieht.
Geht das Verfahren dorthin, wird es öffentlich - unter anderem auf der Homepage des Bundesfinanzhofs. So kann sich jeder andere Steuerzahler an das Verfahren dranhängen. Er muss also - wenn er ein ähnliches Problem hat - nicht selbst viel Zeit, Geld und Nerven für den Weg über das Finanzgericht aufwenden, sondern braucht sein Finanzamt lediglich darum zu bitten, seinen Einspruch im Hinblick auf das zu dieser Thematik bereits anhängige BFH-Verfahren ruhen zu lassen. Diesen Anträgen leisten die Finanzämter in der Regel auch Folge, schließlich wollen auch sie sich die Arbeit weiterer Gerichtsverfahren sparen.
Viel Geduld nötig
Verliert Bürger A das Verfahren vor dem Bundesfinanzhof, bitten die Finanzämter alle Steuerzahler, die in gleichgelagerten Fällen Einspruch eingelegt haben, diesen zurückzunehmen. Gewinnt A aber sein Verfahren, ist es an den Beamten des Bundesfinanzministeriums, ob sie dieses Urteil akzeptieren. Wenn nicht, belegen sie es mit einem Nichtanwendungserlass. Dann ruht das Verfahren solange, bis ein neuer Fall in gleicher Sache vor dem Bundesfinanzhof verhandelt wird. Das Finanzministerium tritt diesem Verfahren üblicherweise bei, um seinen Rechtsstandpunkt vorzubringen. Bleiben die BFH-Richter bei ihrer Rechtsauffassung, wird der Nichtanwendungserlass aufgehoben.Steuerpflichtige, die sich mit ihrem Einspruch auf das erste anhängige Verfahren berufen haben und vom Nichtanwendungserlass ausgebremst worden sind, sollten also Geduld haben. Sie müssen hoffen, dass sich ein Gleichgesinnter findet, der bereit ist, den Weg durch alle Instanzen zu gehen. Oft sind schon entsprechende Fälle bei einem der zahlreichen Finanzgerichte anhängig. Es lohnt sich daher, von Zeit zu Zeit auf der Website www.bundesfinanzhof.de unter der Rubrik "Anhängige Verfahren" zu schauen.
Wird in absehbarer Zeit kein ähnlicher Fall vor dem BFH verhandelt, wird sich das Finanzamt melden und darum bitten, den Einspruch zurückzunehmen. Nun muss jeder Steuerpflichtige selbst entscheiden, ob er das tut oder einen Einspruchsbescheid abwartet und damit selbst zu Finanzgericht und Bundesfinanzhof ziehen will.
Spätestens in diesem Fall lohnt sich ein Steuerberater. Er hilft vorab Kosten und Nutzen des Wegs durch die Instanzen abzuschätzen. Während man sich bei einem Finanzgericht noch selbst vertreten darf, ist für ein Verfahren vor dem BFH immer ein zugelassener Anwalt erforderlich.
"Eine Entscheidung, was man tut, muss gut abgewogen werden", meint Steuerberater Thomas Kessler in Lüneburg. "Hat der BFH bereits einmal zugunsten eines Steuerzahlers entschieden, ist es ein Leichtes, wieder durch die Instanzen zu gehen. Die Wahrscheinlichkeit, erneut zu gewinnen, ist dann sehr groß, und dann fallen ja für einen Mandanten keine Verfahrenskosten an." Andererseits: Wenn man es sich leisten kann zu warten, bis ein anderer noch mal durchklagt, darf man mit sechs Prozent Erstattungszinsen vom Fiskus rechnen. Und wo gibt es das derzeit sonst noch?
Urteile
Firmenwagen
Im April 2010 entschied der Bundesfinanzhof (BFH) über die private Nutzung eines Firmenwagens. Demnach darf der Fiskus einem Arbeitnehmer nur dann einen geldwerten Vorteil in Rechnung stellen, wenn der Arbeitgeber die private Nutzung eindeutig erlaubt hat (Az. VI R 46/08). Die Finanzverwaltung veröffentliche zwar dieses Urteil, beschränkte die Anwendung jedoch auf sogenannte Poolfahrzeuge - also auf Firmenwagen, die keinem Mitarbeiter persönlich zugeordnet sind und die mehreren zur Verfügung stehen. Das kam einem teilweisen Nichtanwendungserlass gleich. Nachdem der BFH seine Rechtsprechung in drei weiteren Urteilen bestätigt hat, wenden die Ämter diese Entscheidungen seit Mai 2014 uneingeschränkt an.Prozesskosten
Im Mai 2011 urteilte der BFH, dass Kosten für Zivilprozesse als außergewöhnliche Belastungen von der Steuer absetzbar sind (Az. VI R 42/10). Ein gutes halbes Jahr später machte das Bundesfinanzministerium den Steuerzahlern einen Strich durch die Rechnung und verhängte einen Nichtanwendungserlass. Die Folge: Für Jahre bis 2012 können die Kosten nicht abgesetzt werden. Etwas besser dran sind alle, denen Prozesskosten später entstanden sind. Für Jahre ab 2013 sind einige weitere Fälle beim BFH anhängig (unter anderem Az. VI R 55/13 oder III R 11/14).Zinsschranke
Im Dezember 2013 äußerten die obersten Steuerrichter Zweifel, ob die sogenannte Zinsschranke verfassungskonform ist (Az. I B 85/13). Sie begrenzt den steuerlichen Abzug von Zinsaufwendungen als Betriebsausgabe bei Unternehmen. Auch dieses Urteil möchte das Finanzministerium laut Rundschreiben über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anwenden.Weitere News
Bildquellen: iStockphoto, Lisa S. / Shutterstock.com