Krankenversicherung

Gesundheitssystem: Kein Masterplan, keine Transparenz

25.05.14 15:00 Uhr

Unser Gesundheitssystem hat eine bessere Behandlung verdient. Seine Leistungen müssen langfristig und generationengerecht finanziert werden, statt wie bisher aufs Geratewohl herumzudoktern.

von Claus-Dieter Gorr, Gastautor von Euro am Sonntag

Die Welt beneidet uns um unsere Gesundheitsversorgung, doch längst überdecken die Errungenschaften die Probleme des Systems nicht mehr: Die Kosten steigen stetig, weil die Bevölkerung älter wird und rückläufig ist, chronische Krankheiten zunehmen und die Nachfrage nach hochwertigen Leistungen steigt, wozu noch der medizinisch-technische Fortschritt kommt. Die Krankenversicherung in Deutschland steht daher vor einem tiefgreifenden Wandel.

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Es gilt, das Gesundheitssystem, das im kritischen Fokus von Politik, Medien und Verbraucherschützern steht, nachhaltig leistungsfähig zu erhalten und generationengerecht zu finanzieren. Zu den Erfolgsfaktoren in Zukunft zählen leistungsadäquate, transparente und verlässliche Produkte ebenso wie ein qualitativ hochwertiger Vertrieb mit ausgewiesenen Fachkenntnissen.

In der Realität verwaltet die Politik im Kern die Arbeit von Lobbyisten, statt intergenerativ Leistungserbringer, Versicherungssysteme und Versicherte gerecht zu beteiligen und Lösungsvorschläge transparent zu diskutieren. Gesundheitsreformen fanden seit 1965 meist reaktiv und ohne erkennbaren politischen Masterplan statt. Die vor der Bundestagswahl 2013 erneut diskutierte Variante einer Bürgerversicherung reiht sich hier ein.

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Komplexe Zusammenhänge
muss man als System sehen

Bisher fehlte ein transparenter Überblick über das Gesundheitssystem im Ganzen sowie über das Zusammenspiel und die Abhängigkeit der Akteure untereinander, wie ihn der "Faktencheck Gesundheits- und Versicherungssystem in Deutschland" jetzt bereitstellt. Statt der Systemanalyse gab es vorher nur wenige Akteure mit spezialisierten Einzelexpertisen. Doch die Komplexität des Gesundheitssystems und die damit einher­gehenden Herausforderungen lassen sich am ehesten mit einem 1.000-Teile-Puzzle bildhaft vergleichen. Alle Bauteile müssen also passend ineinandergreifen.

Den ersten Gesundheitsmarkt, der alle Leistungen umfasst, die durch Versicherungssysteme oder Staat abgedeckt sind, beherrscht mit etwa 85 Prozent Ausgabenanteil das GKV-System, ein gigantischer sich selbst verwaltender Umverteilungsapparat, der sich aus einer Vielzahl von Leistungserbringern und Krankenkassen, deren Verbänden und Behörden zusammensetzt. Er plant flächendeckend die medizinische Versorgung strukturell ebenso voraus, wie er deren Ausgestaltung bestimmt. Zudem handelt er im Kern die Budgets unter seinen Akteuren aus und verteilt sie.

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Ansatzpunkte für eine Reform sind: Das GKV-System ist überaus komplex und aufgrund zahlloser Reformen unübersichtlich, die Finanzströme nicht geradlinig. Der Hintergrund: Die Politik hat die Steuerung an eine Vielzahl von Institutionen übertragen, die teilweise der Selbstverwaltung unterliegen. Sie selbst nimmt Einfluss auf das System durch Zuführung oder Drosselung von Steuermitteln, was unmittelbar stabilisierend oder destabilisierend wirken kann. Zudem gibt es unterschiedliche Auslöser für die medizinische Versorgung (Gesetzliche Unfall-, Kranken- und Soziale Pflegeversicherung; ­Sozialgesetzbuch VII, V, XI) und in der Folge diverse Kostenträger mit jeweils eigenen Leistungsausgestaltungen und -vergütungen.

Die Kontrolle der Beteiligten und die Verteilung der Budgets auf Leistungen findet vor allem untereinander statt. Ein Qualitätswettbewerb innerhalb des GKV-Systems ist kaum ersichtlich. Abhängigkeiten und Verbindungen sind nur mit Mühe erkennbar und nur ­einem sehr kleinen Expertenkreis verständlich. Zudem ist das planwirtschaftliche System vornehmlich mit sich selbst beschäftigt. Impulse gehen von einzelnen Institutionen oder Akteuren kaum noch aus, da die Auswirkungen von Änderungen fast simultan von ­allen anderen betroffenen Akteuren negativ kommentiert werden. Dadurch bleibt nur das Verharren auf dem Status quo als einzig erfolgversprechende Überlebensstrategie.

Finanzierungsgrundlage des Systems ist zudem nicht die Bereitstellung der Strukturen, sondern nur die Abrechnung einzelner Fälle. Krankenhäuser und Ärzte sind darauf angewiesen, Krankheitsfälle zu erhalten und zu behandeln. Reicht das nicht, müssen diese erzeugt werden. Die GKV ist daher von ihrer Grundstruktur her als System zur Krankheitsverwaltung zu bezeichnen, bei dem der politisch regulierte Bürger als Patient oftmals nur als Alibi erscheint. Die aktuell 132 Gesetzlichen Krankenkassen bieten - mit hoher poli­tischer Volatilität - im Kern nur mit marginaler und wirtschaftlich meist irrelevanter Differenzierung die gleichen Leistungen an.

Die 32 privaten Krankenversicherer spielen mit knapp 15 Prozent der Gesamtausgaben in diesem Markt keine systemische, sondern eine begleitende, vor allem aber reaktive Rolle. Ihr Vorteil gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen ist der individuell auswählbare und bis in kleinste Details differenzierbare Versicherungsschutz für abgerufene (also nicht im Voraus geplante) medizinische Leistungen. Ihr Nachteil ist die fehlende Transparenz der Produkte.

Vielfalt im Detail erfordert
objektive Auswahlkriterien

Allerdings hat nur ein kleiner Teil der Bürger ein Wahlrecht und kann sich alternativ zum GKV-System für eine private Krankheits­kosten-Vollversicherung entscheiden. Die Auswahl ist ein komplexer Schritt, den man zwingend objektivieren muss: Es gibt aktuell über 91 Tarifsysteme mit 1.300 unterschiedlichen Leistungsinhalten. Viele davon können existenzielle Folgen für den Versicherten haben, wie Einschränkungen in den Hilfsmittelkatalogen, beim Versicherungsschutz im Ausland, AHB und Reha-Leistungen, Häuslicher Krankenpflege oder Palliativversorgung.

Kurz: Bei vielen Produkten ist - trotz inflationär vorhandener Gütesiegel - oft nicht drin, was durch Werbung suggeriert wird. Verkauft wurden die Produkte bisher überwiegend durch wirtschaftliche Anreize, breitflächig nach dem "Vertriebsmodell Vertrauen". Eine qualifizierte - an dem detailliert erarbeiteten Absicherungsbedarf der Kunden orientierte - Beratung ist in der Breite wegen fehlender Qualifikationsanforderungen an die Vermittler nur selektiv gegeben. Unterstützende Softwarelösungen oder Pooldienstleister sind nicht selten zumindest teilweise wirtschaftlich direkt oder indirekt von einzelnen Versicherern abhängig.

Nach individueller Risikoprüfung, Antragsannahme und Vertragsschluss hat der Versicherte - unabhängig von politischen Entscheidungen - lebenslang einen individualvertraglich in den allgemeinen Versicherungs­bedingungen (AVB) geregelten Anspruch auf die vereinbarte Leistung. Auf dieser Basis wird nach der unternehmensindividuellen Leistungskultur des jeweiligen Anbieters abgerechnet. Das PKV-Modell ist daher ein kalkulierbares Modell, das jedoch nur von wenigen Unternehmen als solches inhaltlich umfänglich und prozessual stabil umgesetzt wird. Kurz: PKV ist nicht gleich PKV.

zur Person:

Claus-Dieter Gorr, Geschäftsführender
Gesellschafter der PremiumCircle GmbH

Über 20 Jahre im Maklergeschäft aktiv, gründete Gorr 2005 den PremiumCircle Deutschland, um eine neutrale Standardsoftware zum Vergleich von Versicherungsbedingungen zugänglich zu machen. Zudem unterstützt er PKV-Anbieter und ­Krankenkassen bei der Produktentwicklung und strategischen ­Positionierung sowie ­engagierte Akteure durch ­Weiterbildungsprojekte.
Zusammen mit Markus Reick brachte Gorr 2014 den "Faktencheck ­Gesundheits- und Versicherungssystem in Deutschland" heraus (ISBN 978-3-86216-138-6, 1798 €), erhältlich über PremiumCircle Deutschland, einen unabhängigen Informationsdienstleister für die Gesundheits- und Versicherungswirtschaft.