Insel der Elitären

Blueseed: Verlockend und grotesk zugleich

09.07.14 03:00 Uhr

Eine US-Firma will vor der Küste Kaliforniens ein Schiff verankern, auf dem Tüftler arbeiten können - ohne Steuern zu zahlen oder ein Visum haben zu müssen.

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von Michael Braun Alexander, Euro am Sonntag

Der größte Teil der 510 Millionen Quadratkilometer, die die Erdoberfläche ausmachen, ist menschenleer und vor allem nass: 71 Prozent unseres Planeten sind von Salzwasser bedeckt. Auf einem Schiff muss man sich zwar an die Gesetze desjenigen Staates halten, unter dessen Flagge man fährt, aber Schiffe sind klein, die See ist groß, der Horizont weit. Auf dem offenen Meer jenseits der territorialen Ansprüche von Staaten, die das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vorgibt, kann man vieles machen, was an Land schwierig oder verboten ist. Ahoi, was für eine Marktlücke.

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Eine Gruppe kühner Amerikaner, deren Persönlichkeitsprofil eine Mischung aus Ehrgeiz und Größenwahn aufweist, stößt in diese rechtliche Grauzone vor. "Blueseed" heißt ihr Projekt, "blaue Saat". Gut zwölf Seemeilen vor der kalifornischen Westküste, in internationalen Gewässern also, wollen sie ein umgebautes Schiff für Start-up-Firmen und pfiffige Jungunternehmer bewirtschaften, das voraussichtlich die bahamaische Flagge tragen wird. Eine Art Silicon Ocean soll Blueseed werden - liegt das Schiff doch unweit von Silicon Valley, dem wichtigsten Technologiezentrum der Welt. Etwa 1.000 Menschen sollen an Bord leben und arbeiten, dazu ein paar Hundert Crewmitglieder, die den Laden am Laufen und Schwimmen halten. Das Festland und die wichtigsten Konzerne und Geldgeber der IT-Branche können sie per Shuttle und Hubschrauber erreichen.

Arbeiten ohne Arbeitsvisum
Anlass für das ungewöhnliche Konzept ist die rigide Einreisepolitik der USA. Der Kongress soll zwar seit Langem ein Visumsystem für clevere Start-up-Gründer aus dem Ausland schaffen, die in Amerika wirken wollen, kriegt dies aber nicht geregelt. Zehntausende aus aller Welt, die in die Hightech-Cluster der USA streben, dürfen genau das nicht. Blueseed will diesen Missstand gezielt umgehen. Wer auf hoher See lebt und arbeitet, braucht keine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis für das Festland, kann aber mit Touristen- oder Geschäftsvisum - beide sind relativ leicht zu bekommen - in die USA einreisen.

Treibkraft des schwimmenden Inkubators ist Dario Mutabdzija, der in Sarajevo geboren wurde und im Zuge des Bosnien-Kriegs mit seiner Familie nach Amerika floh. Der Mittdreißiger tat sich mit dem Florida-Kubaner Max Marty und dem gebürtigen Rumänen Dan Dăscălescu zusammen, der 2004 ins Silicon Valley auswanderte. Drei kosmopolitische Wahlamerikaner also, die aus eigener Erfahrung wissen, wovon sie reden. 30 Millionen Dollar wollen sie einsammeln, mit denen ein passendes Schiff gechartert und einsatz­bereit gemacht werden soll. Einige Hundert Start-ups aus aller Welt sollen bereits Interesse signalisiert haben. Mehr noch: Selbst Internetgiganten wie Larry Page, Mitgründer und Chef von Google, finden die Idee visionär. Die Welt müsse mehr über alternative Rechts- und Sozialsysteme nachdenken, sagte Page vor Kurzem. "Vielleicht sollten wir einen kleinen Teil der Welt dafür reservieren." Also eine Art Experimentierfeld, "wo wir ein paar neue Dinge aussortieren und herausfinden können: Was sind die gesellschaftlichen Folgen? Wie wirkt sich das auf Menschen aus?" Blueseed wäre ein Anfang.

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Revolutionäre Idee
Im Kern geht es um eine revolu­tionäre Idee: die Neudefinition des Staates als Start-up - eine neoliberale Utopie, die durchaus ihren Reiz hat. Bewohner eines Blueseed-Schiffs zahlen keine Steuern. Nur Miete wird verlangt, die laut Tarifliste monatlich 1.200 US-Dollar in einer Vierer-WG beträgt, in einer Privatkabine mit Meerblick 3.000 Dollar. Ein Teil davon kann mit Unternehmensanteilen der Startups abgegolten werden, die Blueseed eines Tages ­einen enormen Profit­hebel verschaffen könnten.

Allerdings ist die Vision des Do-it-yourself-Mikrostaats nicht neu. Mutabdzija und Dăscălescu arbeiteten zuvor für das Seasteading Institute in Oakland, Kalifornien. Diese Organisation hat es sich zum Ziel gesetzt, Kleinststaaten auf dem offenen Meer jenseits des Einflussbereichs bestehender Staaten zu gründen - permanente Siedlungen also, zum Beispiel auf ausgedienten Kreuzfahrtschiffen oder Bohrinseln. Der deutschstämmige Milliardär Peter Thiel, Mitgründer des Bezahldiensts Pay­Pal, ist einer der Geldgeber. Sea­steads, so der auch im Deutschen gebräuchliche Name, sind also keine absolute Novität auf der Welt.

Die Republik Minerva erklärte sich 1972 auf Riffen südlich von Fidschi und Tonga für souverän, brachte sogar eine eigene Währung in Umlauf - und versank wenig später im Pazifik. Paddy Roy ­Bates, selbst ernannter "Prinz von Sea­land", gründete auf einem maroden Seestützpunkt zehn Kilometer vor der Küste Suffolks sein eigenes "Land" und brachte Pässe in Umlauf. Die niederländische Organisation Women on Waves betreibt schwimmende Kliniken für Schwangere aus Ländern, in denen Abtreibung illegal ist. Und der dystopische Hollywoodstreifen "Waterworld" mit Kevin Costner und mehreren fiktionalen Seasteads in den Hauptrollen hat das Konzept populär gemacht.

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Daneben gibt es sogenannte Charter Citys, die zu Lande einen ähn­lichen Ansatz verfolgen. Paul Romer, Professor an der Stern School of Business der New York University, glaubt, dass solche mehr oder weniger unabhängigen Stadtstaaten vielen Entwicklungsländern Wachstums­impulse geben könnten. Romer, Jahrgang 1955, schlägt vor, liberale Wirtschaftszonen einzurichten und für In- und Ausländer zu öffnen - eine Art Blueseed auf dem Festland. Die Umsetzung hat bislang jedoch nicht geklappt. Honduras war willens, aber nicht fähig. In Madagaskar bremste ein Regierungswechsel ein Vorhaben.

Der ideologische Unterbau solcher Projekte weist Züge des klassischen Liberalismus, des Anarchokapitalismus und des Minarchismus auf - einer Denkschule, die die staatlichen Aufgaben auf ein Minimum, wie etwa die Gerichtsbarkeit und Landesverteidigung, beschränken will. Die Idee dahinter: Staaten bringen viele Nachteile mit sich. Sie erheben Steuern, erlassen Gesetze oder schotten sich gegen Ausländer ab. Genau diese Defizite will Blueseed umgehen.

Staaten bieten viele Vorteile
Doch macht dieser Ansatz herkömmliche Staaten nun gleich zum Auslaufmodell? Wohl eher nicht. Der Gesellschaftsvertrag, durch den ein Staat existiert, verankert viele Vorzüge - auch und gerade im Vergleich mit Seasteads. Er regelt die Organisation eines ganzen Volkes, nicht nur einer Elite cleverer, innovativer Entrepreneure im arbeits­fähigen Alter. Staaten garantieren eben auch den Schutz von Minderheiten und ärmeren Schichten. Blueseed dagegen ist eine selektive Veranstaltung, die jenen nicht offensteht, die zu arm, zu alt, zu jung, zu krank, zu ungebildet, zu unkreativ oder nicht intelligent genug sind.

Wird es Kindergärten, Schulen und Altersheime geben? Natürlich nicht. Genau hier ist der Haken: Blueseed ist eine zutiefst elitäre, nicht dem Lauf des menschlichen Lebens an­gepasste Plattform. Kindheit? Gibt es dort nicht. Krankheit? Runter vom Schiff. Arbeitslosigkeit? Tschüss. ­Altersbedingte Gebrechlichkeit? Goodbye. Was es gibt, sind Kreati­vität und Unternehmertum, Erfolg, Jugendlichkeit, elitäre Coolness - Google mit Meeresbrise quasi.

Verlockend und grotesk
Die Vision, einen Staat - und sei er noch so mini - wie ein Start-up-Unternehmen zu führen, hat zugleich etwas Verlockendes und etwas Groteskes. Jenseits des Staatsphilosophischen werden es Blueseed und Co im Praxistest schwer haben. Bestehende Staaten haben ähnlichen Projekten in der Vergangenheit noch stets den Spaß verdorben. Die rechtliche Grauzone, in der sie sich befinden, stellt die Hoheit konventioneller Staaten infrage - was einen Anreiz für Regierungen schafft, Präzedenzfälle im Keim zu ersticken.

Die US-Regierung etwa, die sich bislang bedeckt hält, findet Blueseed möglicherweise problematisch, da das Projekt gezielt die bestehenden Einwanderungsgesetze umgehen soll. Es braucht nur eine Visumsverschärfung für all jene, die von Blueseed auf das amerikanische Festland übersetzen wollen, oder die Einführung eines Start-up-Visums - schon ist das Geschäftsmodell im Eimer.

Zudem ist Blueseed ein Unternehmen und kann, wie jeder Staat auch, pleitegehen. Der Unterschied: Zahlungsunfähige Staaten - man denke an Griechenland - verschwinden nicht von der Landkarte, Seasteads sehr wohl. Dessen ungeachtet denken die Initiatoren schon heute über weitere Schiffe nach, auf denen sie ihr Ding durchziehen könnten. Vor Los Angeles soll eines verankert werden, an der Ostküste vor New York ein weiteres. Langfristig sollen es rund um den Globus um die 24 sein, auch in der Nordsee. Die Eröffnung von Blueseed, Silicon Valley, wird unterdessen ein ums andere Mal verschoben. Es gibt beeindruckende Entwürfe, aber keine beeindruckenden Fotos. 2015 könnte das Land der Zukunft loslegen. Vielleicht. Mal sehen. Ob es als winzige Fußnote der Geschichte oder als ganz großer Wurf enden wird, ist offen.

Republik Minerva

Die Idee, neue Staaten oder staatsähnliche Gebilde zu schaffen, ist nicht neu. So wurde am 19. Januar 1972 auf einem Atoll im Pazifik die Unabhängigkeit der Republik Minerva ausgerufen, inklusive eigener Flagge und eigenem Geld. Initiator war der US-Millionär Michael Oliver. Noch im gleichen Jahr besetzte Tonga die Insel, und das South Pacific Forum bestätigte den Anspruch Tongas auf das Atoll.

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