Ökonom Heinemann: "Wichtige Reformfenster sind jetzt krachend zugefallen"
Der Ökonom am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sieht den größten Schaden aus der Corona-Krise in unterlassenen Reformen. Die EU habe die Weichen in eine gefährliche Richtung gestellt.
von Wolfgang Ehrensberger, Euro am Sonntag
Never waste a good crisis" - "Verschwende nie eine gute Krise". Dieses Winston Churchill zugeschriebene Zitat kommt Friedrich Heinemann bei der Corona-Krise in den Sinn, die 2020 die ganze Welt im Griff hat. "Krisen sind ein Reformelixier", lautet ein Leitsatz des Ökonomen am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Den Nachfrageschock durch große nationale und europäische Konjunkturpakete zu bekämpfen, hält er für richtig. Dass sich die EU auf ihrem Gipfel vor zwei Wochen überhaupt auf ein neues Finanzpaket verständigen konnte, wertet er ebenfalls als großen Erfolg. Doch Brüssel habe es im Kern versäumt, wichtige Reformen anzustoßen, und damit schon den Grundstein für neue Krisen, möglicherweise sogar für eine Spaltung der EU gelegt.
€uro am Sonntag: Bislang wurden Wirtschaftskrisen durch Angebots- oder Nachfrageschocks ausgelöst. Wie ordnen Sie die Corona-Krise ein?
Friedrich Heinemann: In der Tat kam diese Krise aus einer völlig anderen Ecke. Das Fatale ist, dass einem drastischen Angebotsschock ein ebenso drastischer Nachfrageschock folgt. Die schockartige Einschränkung der Produktion war das Ergebnis der gesetzlich verhängten Lockdowns, der Störung der Lieferketten und der Schließung von Schulen und Kitas. Kaum dass dieser massive Angebotsschock halbwegs überwunden ist, kommt es mit dem Kollaps des Welthandels und dem Absturz in der Investitionsbereitschaft der Unternehmen zu einem massiven Nachfrageschock. Einen solchen simultanen Schock mit Rezessionen in gleichzeitig 170 Staaten der Erde hat es noch niemals gegeben - nicht einmal in der Ära der Weltkriege, wo viele Länder durch die Rüstung sogar einen Wirtschaftsboom erlebt haben.
Welche Gegenmaßnahmen sind in einem solchen Szenario sinnvoll?
Der Angebotsschock ist jetzt erst mal einigermaßen überwunden. Nach den anfangs chaotischen Grenzschließungen funktioniert der Warenfluss in Europa jetzt wieder besser. Vorrangig ist es nun, auch bei steigenden Infektionszahlen einen neuen Angebotsschock zu vermeiden. Es müssen gezieltere Eindämmungsmaßnahmen erfolgen als im März, in der Not des Moments und des fehlenden Wissens um das Virus. Einen zweiten Lockdown mit der Härte dieses Frühjahrs würde Ländern wie Spanien, Italien und Frankreich den ökonomischen Kollaps bringen. Richtig ist es außerdem, den Nachfrageschock jetzt durch umfassende nationale und europäische Konjunkturpakete zu bekämpfen. Ich würde mich nicht als Keynesianer bezeichnen. Viele Kollegen, auch in Deutschland, rufen auch immer zu früh nach höheren Staatsausgaben. Aber 2020 ist definitiv ein Jahr, in dem der Staat in die Vollen gehen muss.
Die EU-Staaten sind auch in die Vollen gegangen und haben das größte Finanzpaket ihrer Geschichte auf den Weg gebracht - einschließlich eines 750 Milliarden Euro schweren Aufbaufonds. Hilft das in dieser Krise?
Das Positive ist, dass es überhaupt zu einer Einigung gekommen ist. Die EU zeigt, dass sie handeln kann und nationaler Egoismus nicht alles lähmt. Auch ist es völlig richtig, dass Europa jetzt den Ländern hilft, die von der Krise schwer getroffen sind. Aber gerade hier fängt auch meine Enttäuschung mit dem Wiederaufbaufonds an. Zu große Teile des Geldes fließen an die falschen Länder und kommen noch dazu zu spät.
Sollte der Fonds nicht den besonders Corona-betroffenen Ländern helfen?
Das ist die offizielle Rhetorik. Tatsächlich wird wieder ganz stark von Reich zu Arm umverteilt. Dafür haben wir aber schon die großen EU-Kohäsionstöpfe. Hier wird Corona missbraucht. Im Grunde ging es der Kommission mit ihrer ökonomisch unsinnigen Verteilungsformel darum, die Osteuropäer zu kaufen und ihnen das Paket durch hohe Transfers schmackhaft zu machen. Osteuropa ist aber durch Corona eher unterdurchschnittlich betroffen und hätte dieses Mal eigentlich auf der Nettozahlerseite stehen müssen.
Der EU-Kommission darf nun erstmals in großem Stil Schulden am Kapitalmarkt aufnehmen - eigentlich gegen die EU-Verträge. Inwieweit schafft sie damit einen Präzedenzfall?
Das Gipfeldokument versichert, dass die Schuldenaufnahme nur ausnahmsweise für die Corona-Krise erlaubt ist - und "vorübergehend". Aber das heißt in diesem Fall fast 40 Jahre. Denn die Corona-Schulden sollen erst 2058 getilgt sein. Das zeigt, dass die EU de facto ein dauerhaftes Verschuldungsrecht bekommt, alles andere ist Augenwischerei. Und wenn die Corona-Krise nur durch europäische Schulden zu bewältigen ist, dann gilt das ganz sicher auch für die nächste Krise.
Wie könnte so ein Szenario aussehen?
Meine Prognose wäre, dass die nächste Krise wieder eine südeuropäische Schuldenkrise oder eine Frankreich-Krise im Kontext einer links- oder rechtsextremen Präsidentschaft wird. Man weiß dann ja auch schon, wie alles funktioniert. Es reicht ein Wochenende mit ein paar durchwachten Gipfelnächten, um das zu regeln und alte Prinzipien über den Haufen zu werfen.
Der EU-Gipfel hat also auch eine neue EU-Finanzarchitektur geschaffen?
Ja, die Corona-Schulden schaffen eine neue EU-Finanzverfassung, die Europa eine dauerhafte Verschuldungskompetenz gibt. Die Zeichen deuten klar auf den Einstieg in eine Fiskal- und Transferunion. Es sind ja nicht nur die EU-Schulden für den Fonds. Es gab weitere bedeutsame Weichenstellungen. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) hat in der Euro-Schuldenkrise nur Kredite gegen Reformen ausgereicht. Jetzt gibt es ESM-Gelder ohne Auflagen und Bonitätsprüfung. Hinzu kommt, dass die EZB alle Grenzen für ihre Staatsanleihekäufe kassiert hat. Sie hat ihre Käufe sehr stark in Richtung der Hochschuldenstaaten übergewichtet und akzeptiert immer weiter steigende Risiken in den Bilanzen der Euro-Zentralbanken. Das macht das Euro-System erpressbar. Im Grunde ist die EZB heute schon in der Zwangslage, dass Hochschuldenstaaten sie zum Kauf ihrer Staatsanleihen zwingen können. All das zeigt, dass die Maastrichter Verfassung mit Haftungsausschluss und dem Verbot monetärer Staatsfinanzierung so nicht mehr existiert.
Könnte die Tilgung der Corona-Schulden zum Problem werden?
Da sehe ich tatsächlich wenig Probleme. Die Corona-Schulden sind durch so umfangreiche Reserven im EU-Haushalt abgedeckt, dass die Anleihen der EU eine hohe Bonität haben und kaum Zinskosten mit sich bringen dürften. Wenn diese nominalen Beträge dann ab 2028 über 30 Jahre abgetragen werden, sind das sehr moderate jährliche Belastungen. Die Leichtigkeit dieser Finanzierung macht die Sache aber gerade so gefährlich. Europas Politiker dürften Geschmack daran finden, die Lösung ihrer heutigen Probleme auf die nächste Generation von Europas Steuerzahlern abzuwälzen. Wenn der nationale Verschuldungsspielraum ausgereizt ist, bietet sich jetzt ein massiver neuer Verschuldungsspielraum auf der europäischen Ebene an.
Man könnte einwerfen, kein Land trägt die Verantwortung für diese Krise, und Länder wie Italien könnten die Hilfen nun für eine weit reichende Modernisierung nutzen.
Daran glaube ich ehrlich gesagt nicht. Dass angeblich kein Land eine Verantwortung für die Krise trägt, ist auch nur halb richtig. Italien und Spanien sind sicher schuldlos an der frühen Betroffenheit durch die Pandemie. Diese Länder tragen aber eine große wirtschaftspolitische Verantwortung für den Zustand ihrer Volkswirtschaften und ihrer Staatsfinanzen am Vorabend der Krise. Ich sehe hier derzeit weder in Brüssel noch in Rom eine ehrliche Problemanalyse. Auch in Brüssel trifft man viele Leute, die ernsthaft behaupten, dass sich die italienischen Strukturprobleme mit EU-finanzierten Solardächern lösen lassen - eine absurde Erwartung. Ich habe überhaupt nichts gegen Solardächer in Italien, wo sie noch mehr Sinn machen als in Norddeutschland. Aber Italien braucht ebenso nötig harte Reformen seiner öffentlichen Verwaltung, seines Bildungssystems, Arbeitsmarkts und Innovationssystems.
Bestand nicht die Gefahr, dass sich Italien von der EU abwendet - mit noch größeren Folgeschäden?
Jetzt besteht die Gefahr, dass sich die Dänen, Finnen oder Niederländer von der EU abwenden. Bei aller Sorge vor südeuropäischen Populisten dürfen wir nicht die nordeuropäischen EU-Kritiker aus den Augen verlieren. Im Grunde ist doch die Rendite des Brexits aus Sicht der Brexiteers mit dem EU-Sondergipfel weiter gestiegen. Die Briten müssen sich nicht an Transfers für Ost- und Südeuropa beteiligen. Diese Zusammenhänge werden die EU-Skeptiker von Holland bis Finnland stärken. Daher rechne ich mit einem Erstarken europakritischer Bewegungen im Norden. Auch das birgt sehr hohe Risiken für Europa.
Sie warnen, dass der EU-Geldsegen nun den Reformstau sogar noch verlängern könnte. Was heißt das konkret?
Krisen sind ein Reformelixier. Man schaue sich nur an, welchen Reformschub wir in Portugal oder Irland nach 2010 als Folge der Schuldenkrise und der harten ESM-Auflagen erlebt haben. In Italien fällt diese Art von Krise mit ihren Reformchancen nun aus. Die Finanzierung auch horrender Staatsdefizite zu Minizinsen ist dank unbegrenzter EZB-Anleihekäufe und der EU-Kredite völlig ungefährdet, obwohl das Land ohne Hilfe jetzt eigentlich in die Insolvenz gehen müsste. Der Ministerpräsident lässt sich für das viele EU-Geld feiern und legt immer neue Ausgabepakete auf. Bei Strukturreformen auf den wirklich konfliktträchtigen Feldern, etwa der Arbeitsmarkt- oder Rentenreform, ist Schweigen im Walde. Aber auch in Frankreich sieht es nicht viel anders aus. Emmanuel Macron scheint sein Projekt einer Modernisierung Frankreichs aufzugeben und rudert in seiner Reformagenda zurück. Ich glaube, dass all das vielleicht langfristig der größte Schaden von Corona sein wird: Wichtige Reformfenster der vergangenen Jahre sind jetzt krachend zugefallen.
Vita:
Europa-Pilger
Friedrich Heinemann, 1964 in Düsseldorf geboren, hat Volkswirtschaft und Geschichte an den Unis Münster und Mannheim sowie der London School of Economics studiert und über die "EU-Finanzverfassung nach Maastricht" promoviert. Heute leitet er den ZEW-Forschungsbereich "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft". Auch in seiner Freizeit lässt der 55-Jährige den Kontinent nicht aus den Augen. Als Hobby gibt Heinemann an: "Europa kennenlernen auf seinen historischen Pilgerwegen."
Heinemann nimmt regelmäßig an den Umfragen des Ökonomenbarometers von €uro am Sonntag teil.
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Bildquellen: ZEW, Anna Logue