Krankenversicherung: Erst angelockt, dann abgezockt
Mit Billigtarifen fangen die Privatkassen Kunden ein. Doch für Versicherte kann es schnell teuer wer.
von E. Drengemann, €uro am Sonntag
Das Ergebnis der repräsentativen Umfrage war eindeutig: Kassenpatienten müssen länger auf einen Arzttermin warten als Privatpatienten. Das ist nicht wirklich überraschend. Doch die Details der Erhebung der AOK Rheinland/Hamburg sind erschreckend: Einen Termin beim Augenarzt bekommen Privatpatienten nach 16, Kassenmitglieder dagegen erst nach 37 Tagen. Um bei einem Kardiologen eine womöglich lebensbedrohende Fehlfunktion des Herzens feststellen zu lassen, müssen sich Privatpatienten 19 Tage gedulden. Gesetzlich Versicherte dagegen fast viermal so lang, nämlich 71 Tage. Ergebnisse, die auch andere Umfragen bestätigen.
Die verantwortlichen Politiker scheinen hilflos. Kein Wunder, dass es für viele erstrebenswert ist, nicht vertröstet, sondern zügig behandelt zu werden.
Beim Umstieg vom umlagefinanzierten gesetzlichen Kassensystem zum kapitalgedeckten privaten Krankenversicherungssystem - das für Arbeitnehmer erst ab einem Bruttoeinkommen von monatlich 4.125 Euro möglich ist - winken zudem finanzielle Vorteile. Zumindest wenn man der Werbung Glauben schenkt. Private Krankenversicherung ab 59 Euro monatlich - so wirbt die Curanzia. Mit lediglich 55 Euro geht die geld.de GmbH als Geiz-ist-geil-Anbieter in die Angebotshitliste ein.
Der Preis spielt die Hauptrolle bei der Auswahl, weiß Gerd Güssler, Chef von KV Pro, einem Spezialisten für Vergleichssoftware privater Krankenversicherungen, und ergänzt: "Leider achten nur wenige auf das, was sie da einkaufen."
Schon die einfachsten Überlegungen werden regelmäßig ausgeblendet. 55 Euro monatlich - das entspricht einem Jahresbeitrag von 660 Euro. Das ist in etwa so viel, wie ein gut verdienender Kassenpatient monatlich für den Krankenschutz zahlen muss. Können Privatversicherer so viel besser mit dem Geld umgehen? Eine Dialyse kostet schnell bis zu 20.000 Euro, eine Tumortherapie kann ein Mehrfaches davon verschlingen. Wie viele Versicherte braucht ein solcher Dumpingpreis-Tarif, um wirtschaftlich tragfähig zu sein? "Entweder es gibt in einem solchen Billigtarif mehrere Tausend Kunden, die einen Schaden für einige wenige mitbezahlen - oder die eingekauften Leistungen sind so gering, dass der Kunde über hohe Zuzahlungen die Differenz selbst aufbringen muss", sagt Gerd Güssler.
Wer sich die Preisbrecher genauer anschaut, erkennt schnell die Tricks der Vermittler. So gilt der Lockvogelpreis beispielsweise nur für einen 20-Jährigen. Dabei haben viele Arbeitnehmer erst im Alter um die vierzig das Einkommen, um zur Privaten wechseln zu können.
€uro am Sonntag hat neun Tarife der privaten Krankenversicherung analysiert. Dabei wurde das realistische Eintrittsalter von 39 Jahren gewählt. Die Redaktion hat analysiert, wie sich die Neubeiträge über die Jahre hinweg entwickelt haben . Dabei wurden je drei "Alte Tarife", "Junge Tarife" und "Grundschutztarife" untersucht.
Ein wichtiger Punkt war das Verhältnis zwischen dem Anfangsbeitrag und dem aktuellen Beitrag. Maßstab für die angegebenen prozentualen Beitragssteigerungen war aber nicht der einfache Vergleich der Nominalbeiträge, sondern der Vergleichsbeitrag, der sich aus dem Tarifbeitrag (Arbeitnehmeranteil) und der Selbstbeteiligung des Versicherten ergibt.
Bei der Stichprobe hatten nur Spitzenangebote mit einem "A+"-Rating von KV Pro eine Chance, bei den Grundschutztarifen musste es ein "A" oder mindestens "B"-Leistungsrating-Ergebnis sein. Die zweite Hürde: niedrigste Beitragssteigerungen. Ein Beispiel: Aus dem Angebot des Versicherers Barmenia wurden die traditionellen Tarife VA03, VS200+VS300 und VD100 gewählt. Die Beiträge stiegen in den letzten 15 Jahren von 200 auf 373 Euro - nominal um 85,78 Prozent, bei Berücksichtigung der Selbstbeteiligung um 74,92 Prozent - jährlich somit um 4,7 Prozent.
Jüngere Tarife sind nicht zwangsläufig günstiger. So stieg zum Beispiel beim "Purismamax600" der Mannheimer der Tarifbeitrag von 480 Euro im Jahr der Markteinführung 2008 auf 589 Euro aktuell um jährlich 6,92 Prozent - das entspricht etwa dem 5,5-Fachen der Beitragssteigerung, den gesetzlich Versicherte im Vergleichszeitraum hinnehmen mussten.
So richtig heftig beutelte aber der Spartarif EL der AXA die Versicherten: Der Minimalleistungstarif startete 1995 noch unter der Flagge des Versicherers Colonia mit 101 Euro, legte im Jahr durchschnittlich um 11,03 Prozent bei der Prämie zu und kostet heute 281 Euro - bei einer nur mageren "B"-Bewertung im Leistungsrating von KV Pro.
Tarife mit mehr Leistung wie beispielsweise der Hallesche NK starteten im selben Zeitraum mit 205 Euro und kosten heute 371 Euro.
Zeit für einen Wechsel? Nicht so ganz einfach in der Welt der privaten Krankenversicherer. Auf den ersten Blick scheint alles noch ganz unkompliziert: Der Gesetzgeber hat 2009 die Unternehmen verpflichtet, bei einem Wechsel zu einem anderen Anbieter die angesammelten Rücklagen, die Alterungsrückstellung, mitzugeben. Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich dies als Schaufenstertrick, denn nicht der individuelle Wert des Sparstrumpfs, sondern der sehr viel magerere Wert der Alterungsrückstellung für den sogenannten Basistarif liefert hier den Maßstab. Da lohnt ein Wechsel zu einem anderen Unternehmen nur selten.
Auch Wechseln innerhalb desselben Versicherers geht nicht immer ohne juristischen Zwang. So wehrte sich die Allianz bei der Tarifreihe AktiMed oft vehement, den Wünschen der Versicherten zu entsprechen. Die Begründung: Die Leistungen seien nicht vergleichbar. Erst nach einem entsprechenden Urteil gab das Unternehmen freimütig zu, den Tarif zu knapp kalkuliert zu haben und deshalb Wechselwünschen reserviert gegenüberzustehen.
Die Tarife und vor allem die Werbestrategien der Versicherer werden sich nicht so bald ändern. Den wirksamsten Hebel haben Kunden selbst in der Hand, indem sie sich ihren Versicherer und ihren Tarif aussuchen. Doch die richtige Wahl erfordert Zeit, viel Wissen und meist einen Berater.
Es lohnt sich, mit einem Makler oder einem anderen Fachmann den Wunschtarif Punkt für Punkt durchzugehen. Die passende Police kostet dann vielleicht etwas mehr, dafür klettern die Prämien langsamer und die Leistungen sind höher. Das Geld gegenüber Lockvogeltarifen sparen Kunden dann, wenn es darauf ankommt: Im Alter, wenn die Zipperlein mehr werden und der Wechsel so gut wie unmöglich ist.
Tricksen macht schick:
Um bei Leistungsvergleichen gut auszusehen, nutzen Krankenversicherer die Schwächen vieler Vergleichsprogramme. Oft reicht eine minimale Leistungszusage, um vom Programm das wünschenswerte "Ja" für ein Leistungsmerkmal zu bekommen. €uro am Sonntag zeigt einige besonders herbe Tricks der Assekuranz, auf die Privatpatienten im Laufe ihres Versichertenlebens reinfallen können.
Implantate
Versprechen: Statt Krone, Brücke oder gar Kunstgebiss bietet moderne Implantologie Technik vom Feinsten. Ein Zahn kostet zwischen 2.000 und 3.500 Euro, ein Gebiss grundsätzlich fünfstellige Summen. Dafür gibt es ein echtes Zahngefühl.
Wirklichkeit: Mit Summenbegrenzungen, Beschränkungen bei der Zahl der Implantate und ähnlichen Fallstricken versuchen Versicherer, die Leistung zu begrenzen. Nur ein Blick in die allgemeinen Versicherungsbedingungen klärt über den wahren Leistungsumfang eines Tarifs auf.
"Wir erstatten Beiträge zurück"
Versprechen: Hat der Versicherte ein Jahr lang keine Leistungen in Anspruch genommen, winkt Bares. Manche Versicherer versprechen Rückerstattungen von bis zu sechs Monatsbeiträgen.
Wirklichkeit: Mit allen erdenklichen Tricks versuchen die Anbieter, sich aus der Verpflichtung herauszuwinden. So fordern einige Versicherer sogar die Beitragsrückerstattung für das Vorjahr zurück, wenn der Versicherte im aktuellen Jahr Leistungen in Anspruch nimmt. Blumige Versprechungen erweisen sich schnell als teure Enttäuschung.
Augenlasern
Versprechen: Moderne Technik macht es möglich. Nicht Brille und Kontaktlinse, sondern ein operativer Eingriff mittels Lasertechnik soll zu neuer Sehschärfe führen.
Die Kosten für eine Lasik-Behandlung sind hoch: zwischen knapp 1.000 und rund 3.000 Euro kann die Behandlung für ein Auge kosten. Einige Tarife sehen Kostenerstattung auch beim Augenlasern vor.
Wirklichkeit: Das vollmundige Leistungsversprechen ist oft nicht das Papier wert, auf dem es steht. Denn im Kleingedruckten ziehen sich einige Anbieter auf die Höchsterstattungsgrenzen wie bei Brillen und Kontaktlinsen zurück. Und das sind oft nur bescheidene 100 bis 200 Euro.
Psychotherapie
Versprechen: Kosten für die Behandlung psychosomatischer Krankheiten werden erstattet.
Wirklichkeit: Risiken und finanzielle Nebenwirkungen finden sich in den Leistungsbeschreibungen der Tarife. Da wimmelt es von Zeit-, Sitzungs- und Summenbegrenzungen inklusive eines Genehmigungsvorbehalts. Die finanziellen Risiken können hoch werden: Neben ambulanten Maßnahmen können auch stationäre Maßnahmen schnell an die Leistungsgrenzen des Tarifs führen - dann zahlt, wie so oft, der Patient selbst.
Alte Tarife
So werden konventionelle Tarife bezeichnet, die seit mehr als 15 Jahren angeboten und auch weiterhin verkauft werden. Theoretischer Nachteil: Aufgrund des Bestands, in dem eher auch ältere Versicherte sind, müssten die aktuellen Beiträge relativ hoch sein. In der Praxis zeigen die besten Angebote jedoch recht stabile Beitragsentwicklungen. Sprünge ergeben sich oft durch externe Einflüsse des Gesetzgebers. So wurde 2009 festgelegt, dass Kunden, die den Tarif wechseln, die Alterungsrückstellung mitgegeben werden muss.
Beitragssteigerungen (pdf)
Junge Tarife
Darunter fallen Tarife, die teilweise erst seit zwei oder drei Jahren, längstens aber seit 15 Jahren offeriert werden. Theoretischer Vorteil: Wegen der recht jungen Kundschaft im Bestand dürften die Beitragssteigerungen moderat ausfallen. Die Realität spiegelt das auch grundsätzlich wider. Risiken bleiben, wenn mit steigendem Alter der Versicherten die Prämien steigen oder wenn weniger Versicherte als vorher kalkuliert die Verträge vorzeitig kündigen und somit weniger Stornogewinne eingefahren werden.
Beitragssteigerungen (pdf)
Grundschutztarife
Dies sind die Einsteiger- und Spartarife, mit denen die Assekuranz Kunden in die private Krankenversicherung locken will. Entscheidend ist der Preis - und nach ihm hat sich die Leistung zu richten. Im Klartext: Das Leistungsniveau erreicht in vielen Fällen noch nicht einmal das der GKV. Theoretisch müssten auch die Prämien unterhalb des GKV-Niveaus liegen. Praktisch zeigen die Billigtarife oft die höchsten Prämiensteigerungen. Sie sind daher nur bei einem späteren Umstieg in einen höherwertigen Tarif empfehlenswert.
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