Arbeitsmarkt

Spanien: Auf der Suche nach dem Glück

aktualisiert 29.06.13 21:00 Uhr

Immer mehr Spanier nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand und versuchen sich als Kleinunternehmer. Die Hoffnungen, aber auch die Risiken sind groß. Euro am Sonntag hat drei von ihnen besucht.

von Reiner Wandler, Euro am Sonntag

Der Plan ist aus der Not geboren. „Wir haben alle über 20 Jahre Erfahrung im Fernsehen, das muss doch was wert sein“, sagt Nieves Serrano. Die Madrilenin gehört zu den 861 Mitarbeitern, die im Laufe der Krise von der Regionalregierung beim öffentlichen Landesfernsehen Telemadrid entlassen wurden.

Ohne Aussicht auf einen neuen Job haben Serrano und vier ebenfalls arbeitslose Kollegen ihr eigenes Unternehmen gegründet: Trilevel heißt es. Die fünf Medienprofis wollen künftig das machen, was sie am besten können. „Liveübertragungen von ­allen möglichen Events, Konzerten und Konferenzen im Netz sowie Videos aller Art mit höchster Qualität“, erklärt Serrano, die den Posten der Produzentin übernimmt.

Natürlich weiß die 46-Jährige, dass der Zeitpunkt nicht der beste ist. Spanien steckt in einer tiefen Krise. Die Wirtschaftsleistung schrumpft seit Ende 2008, die Arbeitslosenquote liegt mittlerweile bei 27 Prozent. Über 8.000 Journalisten und Medienschaffende wurden allein in den vergangenen beiden Jahren entlassen. Und die Lage wird nicht besser: Bei den öffentlichen Sendern stehen weitere Kürzungen an, die Privaten stellen kaum jemanden ein.

30.000 Euro Startgeld
Wie so viele andere Arbeitslose versuchen Serrano und ihre Kollegen, ihr Schicksal nun selbst in die Hand zu nehmen. 30.000 Euro haben sie in ihr Unternehmen investiert. Das Geld stammt aus den Abfindungen bei der Entlassung. Gekauft wurde dafür eine hochmoderne Ausrüstung.

Dank Fiberglasverkabelung und kleiner, aber technisch feiner Sender können ganze Fußballstadien mit bis zu acht Kameras live abgedeckt werden. Wo früher mehrere Übertragungswagen nötig waren, geht heute alles per Internet zusammen. „Wir sind die Ersten, die in Spanien den Standard 4K anwenden werden.“ Die Auflösung sei noch besser als HD — „Kinoqualität auf Video. Trilevel will seinen Kunden flexibles Arbeiten mit modernster Technik zu günstigen Preisen bieten. Je nach Auftrag sollen Freiberufler unter Vertrag genommen werden, sodass womöglich auch ehemalige Kollegen von Telemadrid wieder eine Arbeit finden.

„Manchmal wird mir angst und bange“, gesteht Serrano ein. Sie kennt so manche Geschichte von Arbeitslosen, die ihr eigenes Geschäftsmodell entwickelten und damit scheiterten. Auch für Trilevel sind die Startgegebenheiten alles andere als leicht — audiovisueller Service ist für viele Unternehmen zweitrangig. Und in der Krise wird schnell an solchen Zusatzleistungen gespart.

In Spanien bekommt man zwei Jahre Arbeitslosengeld, danach gibt es mit wenigen Ausnahmen keine Hilfe mehr. Wenn Trilevel sich nicht am Markt behaupten kann, hätte das Quintett Geld, das eigentlich zum Überleben wichtig wäre, in den Sand gesetzt. Serrano würde dies besonders hart treffen. Denn auch ihr Ehemann ist Teil der Trilevel-Crew, und auch er wurde nach über 20 Jahren bei Telemadrid entlassen. „Wir spielen mit hohem Einsatz. Aber wir haben ja auch etwas zu bieten.“

Auch David Castro kennt diese Selbstzweifel. Doch für den 41-Jährigen sind sie Geschichte. Sein 2010 gegründetes Geschäft, eine Kleinbrauerei vor den Toren Madrids, läuft prima. Die Umsätze nehmen zu. Der Ausstoß ist seit Beginn um die Hälfte gestiegen. Statt zwei Angestellten hat er jetzt fünf.

„Man muss loslassen können, solange dies möglich ist“, beschreibt Castro seine Lebensphilosophie. Er war Vorstandsmitglied in einem großen Informatik- und Technologieunternehmen — „ganz oben, da wo richtig gut verdient wird“. Jetzt lebt er mit einem Monatsgehalt von netto 1.500 Euro. Sein luxuriöses Büro hat er gegen kör­perliche Arbeit in der Brauhalle eingetauscht.

Castro sieht sich nicht als Krisenopfer im eigentlichen Sinne und ist es irgendwie doch. Denn ohne die Wirtschaftslage wäre er kaum auf die Idee gekommen, ganz neu zu beginnen. „In meinem Beruf wirst du nicht alt“, sagt er. „Mitte 40, spätestens mit 50 ist Schluss. Sie setzen dich einfach auf die Straße. Jüngeres Personal ist dann gefragt.“

Bier vom Herd
Als bei einem Firmenzusammenschluss von 23 leitenden Angestellten ganze zwei übrig blieben — einer davon Castro —, stand sein Entschluss fest. Er wollte auf keinen Fall warten, bis er irgendwann selbst auf der Liste steht. Und kündigte. Eine Geschäftsidee war schnell gefunden. Der Informatiker produzierte schon längere Zeit auf dem heimischen Herd sein eigenes Bier. Erst waren es 20 Liter die Woche, bald 150. Das Brauen hatte sich Castro selbst beigebracht. „Ich recherchierte im Internet und las Bücher“, erzählt er.

Eigentlich sei es ganz leicht: „Gerste, Hefe, Hopfen, Wasser — das kann jeder. Die Zutaten sind denkbar einfach. Die einzige Kunst ist, den richtigen Punkt zu erwischen.“ Castro beherrschte dies mit seinem Kochtopf bis zur Perfektion. „Ich versorgte Verwandte und Freunde. Ihnen hat’s geschmeckt“, erzählt er.

Getrunken wird immer, warum also keine Brauerei aufmachen?, dachte sich Castro. Der Kochtopf wich einem großen Kessel. Die Marke La Cibeles, benannt nach der Göttin des Getreides, der in Madrid ein Brunnen mitten im Stadtzentrum gewidmet ist, war geboren. Mittlerweile finden sich die Ales von David Castro, der 2012 von einem Fachverband zum Braumeister des Jahres gewählt wurde, in mehreren großen Supermarktketten Spaniens und Spezialvertrieben in Teilen der EU, der USA und Japan. „Die Entscheidung, auszusteigen, war richtig. Ich werde nicht reich, aber ich bin zufrieden mit mir und dem, was ich mache.“

Berater statt Architekt
Jon Aguirre musste nicht erst aussteigen. Denn der 29-jährige Architekt war nie eingestiegen. „An der Uni hier in Madrid unterrichten sie uns über die prunkvolle Architektur, Museen, Konzerthallen, öffentliche Gebäude, die sich Spanien in den Jahren des Booms überall geleistet hat“, erinnert sich der gebürtige Baske. Die Bauten, mit denen Spanien schnell reich wurde — die roten Backsteinwohnblocks, die die Spekulation anheizten —, waren dagegen kein Thema.

Als gegen Ende seines Studiums die ­Spekulationsblase platzte, kam Aguirre mit ein paar Kollegen auf die Idee, die ganze Entwicklung und die Auswirkung auf den Städtebau kritisch zu durchleuchten. Der Blog Pai­saje Transversal (Transversale Landschaft) entstand und wurde schnell zu einem der zehn meist­besuchten Internetauftritte über Städtebau.

Inzwischen berät Aguirre zusammen mit vier Altersgenossen Gemeinde- und Stadtverwaltungen ­sowie Nachbarschaftsvereine in Sachen Städtebau und Bürgerbeteiligung. Sie entwerfen Projekte für behindertengerechte Einrichtungen und sprechen darüber, wie Bürger örtliche Kulturzentren und andere Einrichtungen als die ihren begreifen können. „Gleichberechtigte Beteiligung“ ist eines der Stichwörter, die Aguirre gern benutzt.

Das kommt nicht von ungefähr. Aguirre war einer der Initiatoren von „Democracia Real Ya!“ (Echte Demokratie Jetzt!), die mit ihrem Aufruf am 15. Mai 2011 erstmals Hunderttausende empörter Spanier mobilisierte, auf die Straße zu gehen. Das hat sein Verständnis von Gesellschaft und Bürgerbeteiligung stark geprägt. „Der technologische Wandel der neuen Epoche ist das Internet. Es ist eine revolutionäre Erfindung, die die Art, wie wir uns zu­einander in Beziehung setzen, verändert. Gleichzeitig erleben wir einen sozialen Wandel. Die herkömmliche Familie gibt es so nicht mehr. Die alte, patriarchalische, hierarchische Struktur als Modell steckt in der Krise. Dieser soziale Wandel wird nach und nach einen politischen Wandel hervorbringen. Wie der letztendlich aussieht, weiß keiner. Aber er ist unausbleiblich.“

Noch können sie mehr schlecht als recht von ihrer Arbeit leben. Aguirre bekommt immer wieder einen Zuschuss von seiner Mutter. „Viele Poli­tiker sehen in unseren Projekten, die stark auf Selbstverwaltung setzen, die Möglichkeit, sich billig aus der Verantwortung für Kultur und ­Soziales zu stehlen“, sagt er. Doch Städte­planung habe nur dann Erfolg, wenn Anwohner, Unternehmen und Verwaltung eingebunden werden, ist er sich sicher.

Und wie sieht seine Zukunft aus? „Wir haben uns bis Ende 2014 als Zeitraum gesetzt. Dann werden wir sehen, ob wir von unserer Arbeit leben können oder nicht.“ Auswandern will keiner. „Aber mit dem Gedanken spielen einige von uns schon hin und wieder.“ 

Zahlen & Fakten

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Finanzielle Anreize

Die Arbeitslosigkeit beträgt 27 Prozent. Auch unter jungen Leuten sieht es schlecht aus: Jeder fünfte Spanier unter 25 hat keinen Job (Schüler und Studenten nicht eingerechnet). Schätzungen zufolge sind seit 2008 3,7 Millionen Stellen verloren gegangen, in 75 Prozent der Fälle sollen junge Menschen unter 30 davon betroffen sein. Wie prekär die Lage ist, zeigt eine Stellenausschreibung des Madrider Kunstmuseums: Für elf Stellen als Museumswärter mit einem Jahresgehalt von 13.000 Euro gab es fast 19.000 Bewerber. Die Regierung versucht nun mit ­finanziellen Anreizen, junge Arbeitslose zu ermutigen, sich selbstständig zu machen. So müssen Selbstständige bei einer Pleite nicht mehr vollständig mit ihrem Privatvermögen haften. Gleichzeitig will der Staat Unternehmen finanziell belohnen, wenn sie Jugendliche einstellen. Das größte Problem der Kleinunternehmer ist jedoch die mangelnde Liquidität, da die Banken so gut wie keine Kredite vergeben.

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Spiegelbild der Probleme

Für Anleger könnte das Umfeld nicht schlechter sein: Spaniens Strukturprobleme sind enorm, ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. Trotz der Spar­politik der Regierung ist die Verschuldung auf einen Rekordwert gestiegen. Die Gefahr ist groß, dass der politische Reformwille der konservativen Regierung von Ministerpräsident Rajoy erlahmt. Die mittelfristigen Wachstumsaussichten sind aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der enormen Probleme auf dem Immobilienmarkt schwach. Dementsprechend sieht die Börsenentwicklung aus. Nach kurzer Erholungsrally tritt der Ibex-Index seit September auf der Stelle. Mittelfristig dürfte sich das kaum ändern.