Private Finanzen

Versicherungsbetrug und die Folgen

29.12.10 09:00 Uhr

Getürkte Autoschäden, absichtlich abgesägte Finger, selbst gelegte Wohnungsbrände: Versicherungsbetrüger kosten rund vier Milliarden Euro jährlich.

von €uro-Redakteur Erhard Drengemann

Für Arne Theisen (Name von der Redaktion geändert), Schadenspezialist bei einem großen süddeutschen Versicherer, beginnt der Arbeitstag mit der Postdurchsicht. Und das kann dauern. Denn auf seinem Schreibtisch landen allmorgendlich ­Dutzende Schadenmeldungen aus der ganzen Republik.

Die Hauptaufgabe des 45-Jährigen besteht darin, aus der Masse der Schadenmeldungen genau jene herauszufinden, die nicht ganz koscher sind. „Es gibt mehrere Möglichkeiten des Betrugs“, sagt Theisen, der sich als einer von wenigen Angehörigen der Versicherungsbranche zu Betrügereien öffentlich äußern mag – denn die Mehrheit der Gesellschaften fürchtet Nachahmer. „Im einfachsten Fall wird ein echter Schaden höher angesetzt, als er tatsächlich ist. In der zweiten Stufe wird ein Schaden bewusst herbeigeführt. Und in der dritten ein Schaden vorgetäuscht.“ Versicherungsbetrüger – sie kommen aus allen Bevölkerungsschichten und spielen auf dieser Klaviatur mal mehr, mal weniger geschickt.

Auf bis zu zehn Prozent schätzt der Fachmann die getürkten Fälle allein im Segment der Autoversicherungen. Die Palette reiche von falschen Kilometerangaben über die Doppelabrechnung – mal in Haftpflicht, mal in Kasko – bis hin zu vorgetäuschten Diebstählen und Unfällen vor allem bei Fahrzeugen, bei denen dann auch noch statt des Zeitwerts der Neuwert erstattet würde.

Lügen für den Freund

In der privaten Haftpflichtversicherung ist das Muster oft gleich: Jemand hat einen teuren Schaden und sucht deshalb jemanden – häufig im Bekanntenkreis –, der haftpflichtversichert ist und den Schaden als eigenen deklariert, um für seinen Kumpel Geld von der Versicherung zu kassieren. Schadensachbearbeiter bemerken beispielsweise einen sprunghaften Anstieg defekter Apple-iPhone-3-Geräte, seit das iPhone 4 auf den Markt gekommen ist.

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Auch gebrochener Zahnersatz muss oft als Haftpflichtschaden herhalten. Ein Schadenspezialist, der ebenfalls nicht namentlich genannt werden will, spottet: „Da soll wohl die private Haftpflichtversicherung Streichungen der Gesundheitsreformen ausgleichen.“ Auch beim Zahnersatz können die Versicherer in der Regel an den Bruchstellen nachweisen, ob diese von den Kunden mutwillig herbeigeführt wurden, um die Schadensumme zu kassieren. Den typischen Betrüger gibt es aber nicht. Arne Theisen sagt: „Da ist der Profi ebenso dabei wie der Gelegenheitstäter.“

Nette Wiederholungstäter

Etwa der höfliche Rentner aus Oggersheim, der ein Modellboot mit Fernsteuerung gebaut hatte. Laut Schadenmeldung hatte sich beim Probelauf der Akku überhitzt und die Fernsteuerung war ausgefallen. Das unsteuerbare Boot stieß mit einem anderen zusammen – und beide gingen unter. Pech für den Hobbykapitän: Durch ein Foto aus dem Archiv fiel dem Versicherer auf, dass dieselben Unglücksraben sechs Jahre zuvor schon einmal einen solchen Schaden gemeldet hatten. Welch ein Zufall – sogar die Namen der Boote waren dieselben. Aufblasen und täuschen – neben den sich häufig gleichenden Methoden fällt auf, dass sich Betrügereien nur auf einige Versicherungsbereiche konzentrieren.

Die Gepäckmasche

Dazu gehört auch die Reisegepäckversicherung. Beispiel: Eine Safari verschaffte einem Hobby­fotografen grandiose Bilder mit den „großen vier“ – Elefanten, Nashörner, Löwen und Giraffen. Schlechter lief es allerdings auf dem Flughafen. Kurz vor der Rückkehr wurde dem 40-jährigen Osteoporose-Spezialisten nach seinen Angaben nicht nur die Kamera, sondern auch gleich das gesamte Reisegepäck gestohlen. Nur die Tickets seien ihm nach dem Überfall geblieben. Die Auflistung der verschwundenen Gepäckstücke dokumentierte den hohen Anspruch, den der Münchner Mediziner an seine Reiseausstattung stellte: Neben der digitalen Spiegelreflexkamera mit mehreren Wechselobjektiven waren angeblich Designerhemden, Maßanzüge und teure Survival-Outdoorkleidung geklaut worden. Natürlich konnte er den Erwerb der Sachen mühelos durch Vorlage von Quittungen nachweisen.

Just diese lückenlose Belegkette machte den Versicherer misstrauisch. Pech für den Arztwar allerdings, dass auf seinem Flugticket, das er zum Beweis für die Reise bei der Versicherung eingereicht hatte, noch ein Gepäckaufkleber prangte, der ein Gepäckgewicht von 23,7 Kilogramm testierte. Dabei war ihm das komplette Reisegepäck ja angeblich gestohlen worden.

Abgesägte Arztfinger

Die Aufmerksamkeit eines Versicherungssachbearbeiters führte dazu, dass die Schadenmeldung eines Chirurgen aus Oldenburg genauer seziert wurde. Der 58-Jährige gab an, Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand unglücklicherweise beim Rückschnitt seines Baumes im häuslichen Garten mit abgesägt zu haben. Die Finger seien leider in den Häcksler gefallen und unwiederbringbar verloren.

Der Feinmotoriker hatte kurz vor seiner grobmotorischen Freizeitbeschäftigung seine Unfallversicherungssumme auf eine Million Euro angehoben. Gemäß Gliedertaxe, nach der bei der Unfallversicherung ein Verlust von Gliedmaßen bewertet wird, erwartete der Mediziner nun eine Leistung von 40 Prozent der Versicherungssumme – 400.000 Euro. Parallel zum Anspruch auf Kapitalleistung aus der Unfallpolice stellte der Versicherte einen Antrag auf Rentenzahlung aus seiner privaten Berufsunfähigkeitsversicherung. Begründung: Er sei wegen der Schädigung nun leider nicht mehr fähig, seinen Beruf auszuüben. Vereinbarte Rente: 10.000 Euro monatlich. Doch der Schwindel flog auf: Eine genaue Untersuchung vom Schnittbild des abgetrennten Fingers ergab, dass dieser freiwillig – und nicht versehentlich – abgetrennt wurde. Ein Schadenexperte: „Die Kontraktion der Sehnen stellt sich bei einem unerwarteten Verlust anders da.“ Pech für den Arzt: Er war nicht nur zwei Finger, sondern auch alle Versicherungsansprüche los.

Von Drogenkurieren geklaut

Doch das waren Peanuts im Vergleich zur Verlustmeldung eines Jachteigners auf Mallorca. Der Polizei erzählte er, sein 50-Meter-Boot sei wohl in die schmutzigen Hände eines Drogenkuriers geraten, der in letzter Zeit das „17. Bundesland“ der Deutschen heimsuche. Die Behörden auf Malle schöpften keinen Verdacht – zumal das Boot später versenkt auf dem Meeresgrund gefunden wurde. Dann wurde es gehoben und der Schaden analysiert. Es stellte sich nicht nur heraus, dass es absichtlich auf Grund gesetzt worden war, sondern auch, dass der Eigner in finanziellen Nöten steckte und schon mehrfach versucht hatte, das Boot zu verkaufen. Die Sprecherin eines großen Versicherers aus Köln sagt: „Viele Deutsche betrachten ihre Versicherung wie ein Depot. Der Einsatz soll Zinsen bringen. Wenn keine echten Schäden anfallen, wird halt versucht, Leistungsfälle vorzutäuschen.“

Eine wichtige Rolle für die Betrugsquote spielt allerdings die Zufriedenheit der Kunden mit ihrer Versicherung, zeigt eine Studie des Gesamt­verbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Dabei gilt: Je zufriedener ein Kunde ist, desto weniger betrügt er. Ein schwacher Trost, denn der Schaden für die Versichertengemeinschaft ist trotzdem hoch. Nach Schätzungen des GDV summieren sich die Schäden auf jährlich rund vier Milliarden Euro – Geld, das letztlich von der Versicherten­gemeinschaft über höhere Prämien aufgebracht wird. Ein Vorstandsmitglied aus der Branche schätzt, dass „inzwischen schon jeder 20. Versicherungsfall getürkt ist – in Sparten wie der Auto- und Reisegepäcksparte ist der Anteil noch viel höher“. Ein unabhängiger Schadengutachter behauptet sogar, dass „in über 80 Prozent der von mir untersuchten Brandstiftungen die Eigner selbst Hand angelegt haben“.

Teurer Volkssport

Gemeinhin wird die hierfür aufgewendete kriminelle Energie gern mit Begriffen wie „warm sanieren“, „Versicherung auslasten“, „sozialisierter Berufsausstieg“ verharmlost. Die Tatmotive sind unterschiedlich. Manche treibt die pure Geldgier, andere wollen wohl ihre gezahlten Prämien „wieder zurück haben“. Der harte Konkurrenzkampf unter den Versicherern zwingt sie, auch beim Schadenmanagement die Zügel anzuziehen. Um Personalkosten zu sparen, setzen die Unternehmen auch auf automatisierte Prüfverfahren, die sogenannte Intelligente Schadenprüfung (ISP).

Aussterben wird die Gattung der Versicherungsbetrüger aber dennoch nicht. Allerdings werden immer mehr Betrüger nicht mehr Versicherungsgeld auf ihrem Konto, sondern sich selbst vor Gericht wiederfinden.

Lesen Sie, auf welcher Liste Versicherungskunden nicht auftauchen sollten

HIS – die schwarze Liste der Assekuranz: Hier sollten Versicherungskunden nicht auftauchen

Als Gegenmaßnahme gegen betrügerische Kunden setzt die Assekuranzbranche längst schon auf elektronische Helferlein. Ihr Hinweis- und Informationssystem wird intern kurz HIS oder Uniwagnis genannt. In diese Datei fließen Auffälligkeiten von Versicherungsnehmern. Die Daten werden von den angeschlossenen Versicherern durch sogenannte Kontrollmitteilungen eingespeist. Ähnlich wie bei den Finanz­ämtern sorgen diese für erhöhte Sensibilität bei der Schadenregulierung. Die meisten Einträge in die schwarze Liste der Assekuranz gibt es in der Autoversicherung. Aber auch für Lebens-, Berufsunfähigkeits- und Rechtsschutzversicherungen kann auf die Malusdaten ­zurückgegriffen werden. Nur die Private Kran­kenversicherung ist nicht integriert, sie verfügt über ein eigenes Informations­system. Über 1,8 Millionen Kontrollmitteilungen fielen im Jahr 2009 an.

Abgleich vor Vertragsabschluss. Nicht erst im Schadenfall, sondern schon bei der Vertragsanbahnung können Versicherer auf die gespeicherten Daten zugreifen und somit feststellen, ob ein Vertragsantrag von einem schon auffällig gewordenen Kunden gestellt wurde. Ist dies der Fall, wird die Risikobewertung gegebenenfalls zu höheren Beiträgen oder sogar zu einer Ablehnung des Antrags führen. Auskunft darüber, wer und was im HIS gespeichert ist, können auch Versicherungsnehmer – ähnlich wie bei der Schutzgemeinschaft für das Kreditwesen (Schufa) im Bankensektor – erfragen. Die Auskunft ist kostenfrei. Ein entsprechender Antrag ist schriftlich per Post zusammen mit einer Kopie des Personalausweises (Vorder- und Rückseite; Reisepass reicht nicht aus) zu senden. Die Adresse lautet: Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GDV), Wilhelmstraße 43/43G, 10117 Berlin.

Das HIS befindet sich zurzeit in der Erneuerung. 2011 soll die neue Version mit erweiterten Such- und Abfragemöglichkeiten funktionieren.