Gesundheitsreform

Rösler - Nach der Reform ist vor der Reform

06.09.10 10:00 Uhr

Dauerbaustelle Gesundheitssystem: Auch Minister Rösler versucht sich an einer Gesundheitsreform. Was er den Versicherten zumuten will.

von Claudia Marwede-Dengg, Euro am Sonntag

Noch in diesem Monat – als mögliche Termine werden der 22. oder der 29. September gehandelt – möchte sich Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler vom Kabinett grünes Licht für seine Gesundheitsreform geben lassen. Die Therapie, die sich Arzt Rösler ausgedacht hat, ist allerdings für fast alle am deutschen Gesundheitssystem Beteiligten schmerzhaft. Und ob sie auch tatsächlich langfristig Heilung verschafft, ist mehr als fraglich. Derzeit sieht es nach Meinung der Experten eher danach aus, als ob sie allein den akuten Schmerz etwas eindämmen, aber nicht nachhaltig heilen könne.

Grund zur Freude haben einzig und allein die privaten Versicherer: Die von Röslers Vorgängerin Ulla Schmidt durchgesetzte Drei-Jahres-Wechselfrist für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte soll noch in diesem Jahr fallen und wie zuvor wieder auf ein Jahr verkürzt werden. Der Entwurf für Röslers „Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewoge­nen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung“, kurz GKV-FinG, sieht vor, dass es ab 2011 wieder reicht, in einem Jahr einen Verdienst oberhalb der Versicherungspflichtgrenze zu haben. Dann darf man in eine private Krankenversicherung wechseln. 2010 liegt diese Grenze bei 49 950 Euro. Da die Bezüge der Arbeitnehmer im laufenden Jahr praktisch nicht gestiegen sind, dürfte der Wert auch im kommenden Jahr kaum höher liegen als im laufenden. Die endgültige Festlegung erfolgt jedoch erst Ende November.

Beiträge werden steigen

Damit können alle diejenigen, die mit ihrem Gehalt im laufenden Jahr über der Versicherungspflichtgrenze liegen, schon zu Beginn des kommenden Jahres in die private Krankenversicherung wechseln. Für die rund 70 Millionen GKV-Versicherten bedeutet Röslers Re­form­entwurf dagegen vor allem eines: die Gewissheit kontinuierlich steigender Beiträge. So wird zum einen der Beitragssatz, der wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise um jeweils 0,3 Prozentpunkte für Arbeitnehmer und Arbeitgeber abgesenkt worden war, wieder auf das frühere Niveau angehoben. Die Arbeitgeber zahlen künftig 7,3 Prozent, die Arbeitnehmer 7,3 Prozent plus 0,9 Prozent Sonderbeitrag – macht insgesamt 8,2 Prozent. Diese Beitragssätze werden für beide Gruppen festgeschrieben. Heißt im Klartext: Alle Kostensteigerungen müssen künftig die Arbeitnehmer allein über den kassenindividuellen Zusatzbeitrag schultern.

Dieser Zusatzbeitrag, den es ja seit diesem Jahr gibt und der bereits für Turbulenzen bei den GKV-Kassen sorgte, wird kräftig weiter in Richtung Kopfpauschale ausgebaut. Bisher galt die Regel, dass der Zusatzbeitrag wahlweise prozentual vom Einkommen oder als fester Eurowert erhoben wird und höchstens ein Prozent des Einkommens ausmachen darf. Das sollte dafür sorgen, dass Geringverdiener finanziell nicht überfordert wurden. Ab 2011 wird der Beitrag nur noch als fester Eurobetrag, unabhängig vom individuel­len Einkommen des Arbeitnehmers, erhoben, und auch die Beitragsdeckelung durch die Ein-Prozent-Grenze fällt.

Kompliziert wird das Rösler-Modell durch einen Sozialausgleich, mit dem die unteren Einkommensgruppen stattdessen entlastet werden ­sollen. Berechnungsgrundlage sind ­Arbeitsentgelte, gesetzliche Renten und Versorgungsbezüge wie etwa Betriebsrenten. Der ursprüngliche Plan, sämtliche Einkünfte zu erfassen, erwies sich als nicht umsetzbar. Die Arbeitgeber, die den Sozialausgleich organisieren müssen, wissen in der Regel nicht, welche Einkünfte ihre Beschäftigten sonst haben.

Da der Ausgleich über Steuermittel finanziert werden soll, gibt es eine neue wichtige Sozialversicherungsrechengröße: den durchschnitt­lichen Zusatzbeitrag, der künftig jeden November vom Bundesversicherungsamt als Prognose für das folgende Jahr festgelegt wird. Anpassungen während des Jahres sollen grundsätzlich ausgeschlossen sein.

Grundlage für die Berechnung dieser neuen Rechengröße sind zum einen die voraussichtlichen jährlichen Ausgaben der Krankenkassen und zum anderen deren voraussichtliche jährliche Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds. Die Differenz aus beiden Positionen wird dann durch die voraussichtliche Zahl der GKV-Mitglieder geteilt. Der so ermittelte Durchschnitt ergibt dann, umgerechnet auf Monatsbasis, die Deckungslücke der GKV je Beitragszahler. Wichtig: Die tatsächlichen, von Kassen erhobenen Zusatzbeiträge spielen dabei keine Rolle.

Sozialausgleich macht nicht alles wett

Verlangt eine Kasse einen höheren als den durchschnittlichen Zusatzbeitrag und macht dieser mehr als zwei Prozent des individuellen sozialversicherungspflichtigen Einkommens aus, greift der Sozialausgleich. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass der übersteigende Unterschied in voller Höhe ausgeglichen wird. Sondern nur der Teil bis zum durchschnittlichen Zusatzbeitrag.


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Beispiel: Das Bundesversicherungsamt hat als durchschnittlichen Zusatzbeitrag 20 Euro je Monat festgesetzt. Ein GKV-Mitglied hat ein Monatseinkommen von 800 Euro und seine Kasse verlangt monatlich 25 Euro Zusatzbeitrag. Zwei Prozent des individuellen Einkommens sind 16 Euro, damit liegt schon der durchschnittliche Zusatzbeitrag über der Zwei-Prozent-Grenze. Via Sozialausgleich werden jedoch nicht neun Eu­ro erstattet, sondern nur vier. Im Klartext: Erstattet wird nur die Diffe­renz zwischen Zwei-Prozent-Grenze und durchschnittlichem Zusatzbeitrag. Die restlichen fünf Euro muss der Versicherte selbst tragen.

Der Sozialausgleich ist nach Meinung vieler Experten die entscheidende Schwachstelle im Rösler-Entwurf. Allein der Informationsaustausch zwischen Kasse und Arbeitgeber sorgt für viel zusätzliche Bürokratie. Da der Gesetzgeber den Arbeitgebern die Organisation aufbürdet, müssen die Personalbüros künftig Monat für Monat nicht nur selbstständig und eigenverantwortlich die Beschäftigten ermitteln, die unter den Sozialausgleich fallen, sondern diese dann auch über die Entgeltabrechnung entsprechend entlasten.

In der Praxis soll das dann so aussehen: Die Arbeitgeber kürzen den 8,2-prozentigen Arbeitnehmeranteil um den Betrag, um den der durchschnittliche Zusatzbeitrag die individuelle Zwei-Prozent-Grenze vom Einkommen des jeweiligen GKV-Versicherten übersteigt. Versicherten, die ihren individuellen Zusatzbeitrag nicht zahlen, drohen künftig Sanktionen: In diesem Fall informiert die Krankenkasse den Arbeitgeber, der dann zwei Punkte auf den Beitragssatz aufschlägt und abführt – statt der üblichen 8,2 dann 10,2 Prozent.