"Mit harten Bandagen"

Mit diesen Tricks zocken Krankenkassen ihre Kunden ab

07.09.16 11:15 Uhr

Mit diesen Tricks zocken Krankenkassen ihre Kunden ab | finanzen.net

Der Begriff "Zusatzbeitrag" verursacht Millionen Versicherten Kopfschmerzen. Die Krankenkassen wollen mehr Geld von ihren Kunden - dafür muss die Werbetrommel immer kräftiger gerührt werden. Oft auch mit unlauteren Mitteln.

Bis 2020 könnte der durchschnittliche Zusatzbeitrag bei den Krankenkassen auf 2,4 Prozent steigen. Auf diese Zahl kommt zumindest Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom an der Universität Duisburg-Essen, in seiner Berechnung. Dieser Zusatzbeitrag kann von jeder Krankenkasse individuell festgelegt werden, im Vergleich zum allgemeinen Beitragssatz der gesetzlichen Krankenkassen. Dieser wurde Anfang 2015 auf 14,6 Prozent abgesenkt. Dass Krankenkassen nun die Zusatzbeiträge anheben ist für Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, eine wirtschaftliche Notwendigkeit: "Wir weisen schon seit Längerem darauf hin, dass die Ausgaben wieder stärker steigen als die Einnahmen. Zurzeit können einige Krankenkassen das nur noch über ihre Reserven abfedern", sagte Pfeiffer der "Welt". Nachvollziehbar also, dass die gesetzlichen Krankenkassen das fehlende Geld irgendwie - die flexiblen Zusatzbeiträge sind natürlich prädestiniert dafür - wieder reinholen müssen. Weniger nachvollziehbar sind jedoch die unlauteren Maßnahmen, zu denen die Krankenversicherer mitunter greifen.

"Zunehmend härtere Bandagen"

In 2015 wurden von der Wettbewerbszentrale rund 50 Beschwerden über Werbeaktionen von Krankenkassen bearbeitet. 2016 waren es bereits im ersten Halbjahr rund 40 Beschwerden - ein enormer Anstieg. Wenn die Beiträge tatsächlich wie berechnet steigen, könnte das Klima zwischen den mehr als 100 gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland noch rauer werden. "Die Fälle zeigen, dass im Krankenkassenbereich mit zunehmend härteren Bandagen um Mitglieder gekämpft wird", sagte Christiane Köber, Mitglied der Geschäftsführung der Wettbewerbszentrale, der "BILD". Dabei käme die Mehrzahl der Beschwerden, die bei der Wettbewerbszentrale eingehen, jedoch von anderen Krankenkassen, also der Konkurrenz, nicht aber von Kunden. Der Grund ist jedoch nicht der, dass die Kunden keinen Grund zur Beschwerde hätten. "Für den Verbraucher ist das ausgesprochen schwer zu erkennen", erklärt Köber. Dies zeigt jedoch umso mehr, mit welch raffinierten Tricks die Krankenkassen mitunter arbeiten, um Kunden zu werben oder zu behalten.

Falsche Bezeichnungen, falsche Versprechen, falsche Auszeichnungen

Vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt klagte die Wettbewerbszentrale etwa gegen eine Krankenkasse, die ihren Kunden die Zusatzgebühr in einem Anschreiben als "Vario-Beitrag" angekündigt hatte. Hier glaubte die Wettbewerbszentrale jedoch, dass der Versicherer seine Kunden mit diesem Begriff in die Irre führe. Die Richter gaben der Wettbewerbszentrale Recht, die Verwendung des Begriffs wurde mittels einstweiliger Verfügung untersagt.
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Auch ein weiterer Versicherer rückte 2015 bei der Behörde auf negative Weise in den Blick. Die Krankenkasse versprach ihren Mitgliedern ausdrücklich eine Beitragsgarantie bis Ende 2017. Diese Garantie gab es letztendlich jedoch nur auf dem Papier, denn die Kasse erhöhte den Beitrag im April um 0,3 Prozent. Eine Unterlassung wurde von der Krankenkasse zwar noch unterschrieben - aber zu spät. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits viele Kunden auf das falsche Versprechen eingegangen.

Nicht selten kommt es zudem vor, dass sich Krankenkassen mit falschen Titeln schmücken. In Infobroschüren werden etwa Titel verwendet, die nicht mehr gültig oder veraltet sind. So geschehen bei einer BKK, die sich auf ihren Infobroschüren "Top Krankenkasse" nannte. Tatsächlich wurde der Versicherer zwar zur "Top Krankenkasse" gekürt - dies war jedoch im Jahr 2013 der Fall. 2016, also drei Jahre später, fand sich die Krankenkasse lediglich auf Platz 47 wieder. Mit dem Titel warb sie jedoch weiterhin.

Perfide Masche: Kündigungsschreiben vom Postboten

Bei der Jagd auf Neukunden bedienen sich Krankenkassen gerne auch Dienstleistern, die potenziellen Kunden die jeweilige Krankenkasse vermitteln sollen. Einige dieser Dienstleister legen mitunter besonders aggressive Vorgehensweisen an den Tag. So auch die "Vericon GmbH", die im Vorjahr potenzielle Krankenkassenkunden telefonisch kontaktierte. Bei diesen Anrufen wurden die Personen lediglich gefragt, ob Vericon ihnen Infobroschüren zusenden dürfte. Viele der unbedarften Kunden stimmten zu, woraufhin wenige Tage später der Postbote an ihrer Tür klingelte. Er überreichte den Leuten ein Schreiben zur Unterschrift, das angeblich lediglich eine Bestätigung über den Erhalt der Infomaterialien darstellen sollte. Tatsächlich handelte es sich jedoch um ein Kündigungsschreiben an die alte Krankenkasse. Durch dieses Post-Ident-Dokument galt die Kündigung automatisch als offiziell beglaubigt.

Kündigungen werden künstlich erschwert

Hier umgingen die Betrüger geschickt die Hindernisse, die Krankenkassen ihren Kunden oft in den Weg legen, wenn diese kündigen wollen - nur dass die überrumpelten Leute, die dem Postboten die vermeintliche Bestätigung unterschrieben, ihre Kasse eigentlich gar nicht wechseln wollten. Die Maßnahmen, die Krankenkassen ergreifen, um ihre Mitglieder zu halten oder ihnen den Wechsel zu erschweren, sind allerdings vielfältig. Eigentlich sind die Krankenversicherer verpflichtet, ihren Kunden eine Kündigungsbestätigung auszustellen, denn diese ist obligatorisch, wenn Kunden eine neue Krankenversicherung abschließen wollen. Eine Krankenkasse schickte etwa einen Berater zu den kündigungswilligen Mitgliedern, der die Kunden zu überreden versuchte, bei der Versicherung zu bleiben. Eine andere Kasse wiederum reagierte erst, als der Versicherte telefonisch nach seiner Kündigungsbestätigung verlangte. Bei diesem Telefongespräch versuchte der Berater jedoch erst, den Kunden doch noch zum Verbleib in der Kasse zu bewegen. Eine BKK behauptete hingegen, dass der Wechsel lediglich zu einer privaten Krankenversicherung gelte. Inzwischen hat die Wettbewerbsbehörde all diese Tricks abgemahnt. Doch der Einfallsreichtum der Krankenkassen scheint groß.

So können sich Verbraucher wehren

Sobald Kunden einen möglichen Betrug bei ihrer Krankenkasse vermuten, ist es zunächst ratsam, den Versicherer direkt damit zu konfrontieren. Fruchtet dies nicht, haben Mitglieder "die Möglichkeit zu einer anderen Kasse zu wechseln" sagte die Verbraucherzentrale Hamburg gegenüber dem "FOCUS". Wer mindestens 18 Monate bei derselben Kasse versichert war, kann zu jeder Zeit mit einer achtwöchigen Frist zum jeweiligen Monatsende kündigen. Die alte Krankenkasse ist danach verpflichtet innerhalb von 14 Tagen nach Eingang der Kündigung eine Kündigungsbestätigung auszustellen. Die Verbraucherschützer geben zudem an, dass auch Versicherte, die erst vor kurzem gewechselt haben, unter bestimmten Voraussetzungen von einem Sonderkündigungsrecht Gebrauch machen können. Etwa dann, wenn die Krankenkasse überraschend den Zusatzbeitrag erhöht. In diesem Fall ist eine außerordentliche Kündigung innerhalb eines Monats möglich. Mindestens einen Monat bevor eine Kasse einen Zusatzbeitrag erheben oder den bestehenden erhöhen möchte, muss sie ihre Kunden informieren und dabei auf das Sonderkündigungsrecht aufmerksam machen. Mitglieder, die daraufhin wechseln möchten, müssen lediglich einen formlosen Brief an ihre aktuelle Krankenkasse schicken - bis zum Ende des Monats, für den der Zusatzbeitrag oder die -beitragserhöhung in Kraft tritt. Im Anschluss muss lediglich einer neuen Kasse beigetreten werden und eine Bestätigung derselben an die alte Krankenkasse geschickt werden. Damit ist der Wechsel offiziell vollzogen. Doch Vorsicht: Einige Krankenkassen verlangen den Zusatzbeitrag auch rückwirkend. In diesem Fall würden die Beiträge der vergangenen Monate gesammelt am festgesetzten Stichtag eingezogen werden. Eine fristgerechte Kündigung bewahrt die Versicherten jedoch auch vor dieser rückwirkenden Zahlungsforderung.

Die Lage dürfte sich in den nächsten Jahren jedoch eher zuspitzen als entschärfen. Aktuell liegt der Zusatzbeitrag bei rund einem Prozent des Einkommens. 2019 könnte dieser jedoch bereits knapp zwei Prozent betragen, vermutet die Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer. Die Geschäftsführerin im Zuständigkeitsbereich "Gesundheit" der Wettbewerbszentrale geht davon aus, dass sich die Tricks der Krankenkassen bis zu diesem Zeitpunkt noch einmal vervielfältigen werden.

Redaktion finanzen.net

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