„Putin läuft die Zeit davon“
Die Fragen stellte Alexander Isele.Der am 1. Januar in Kraft getretene russische Gas-Stopp für Transnistrien hat in der abtrünnigen Region der Republik Moldau eine schwere Energiekrise ausgelöst. Wie wirkt sich das auf das alltägliche Leben aus?Das tägliche Leben in der Region Transnistrien ist stark beeinträchtigt. Die Menschen haben keinen Zugang zu Erdgas und Fernwärme. Elektrizität wird nur mit häufigen Unterbrechungen geliefert: Alle vier Stunden kommt es zu Stromausfällen, da die begrenzte Stromversorgung rationiert und zyklisch ein- und ausgeschaltet wird, um den Engpässen zu begegnen.Seit mehr als 30 Jahren hat die abtrünnige Region nur dank des kostenlosen russischen Gases überlebt. Die gesamte daraus resultierende Verschuldung wurde der in Moldau registrierten MoldovaGaz aufgebürdet, die sich teilweise im Besitz von Gazprom befindet. Transnistrien selbst hat keinen Vertrag mit Gazprom. Stattdessen unterzeichnet MoldovaGaz den Vertrag für die Gasversorgung des gesamten Landes, einschließlich der in der abtrünnigen Region verbrauchten Mengen. Folglich werden alle Schulden, die auf den Gasverbrauch in Transnistrien zurückzuführen sind, von MoldovaGaz angehäuft.Derzeit belaufen sich die Gesamtschulden gegenüber Gazprom auf über elf Milliarden US-Dollar. MoldovaGaz, dem die Gasinfrastruktur und die Pipelines sowohl am rechten Ufer des Dnister in Moldau als auch am linken Ufer in der separatistischen Region gehören, ist zu 50 Prozent im Besitz von Gazprom. Die moldauische Regierung hält ihrerseits einen Anteil von 35,3 Prozent, während 13,4 Prozent von Unternehmen am linken Ufer, in der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol, kontrolliert werden. Die restlichen 1,3 Prozent sind im Besitz ehemaliger Mitarbeiter und Einzelaktionäre.Die Aktienanteile und die Infrastruktur in der Region Transnistrien stehen faktisch ebenfalls unter der Kontrolle von Gazprom. Dieses Arrangement wurde von Moskau bewusst getroffen, um Transnistrien mit Gas zu versorgen und gleichzeitig die Kosten und Schulden dafür der Republik Moldau anzulasten. Letztlich wird damit sichergestellt, dass Moldau vom Einfluss und den Entscheidungen des Kremls abhängig bleibt.Dass Russland Gaslieferungen als Drohung benutzt, ist nichts Neues. Warum wurde die Drohung in diesem Fall nun wahrgemacht?Bis vor kurzem war die Republik Moldau bei Gas und Strom vollständig von Gazprom abhängig. Ohne russisches Gas wären wir eisigen Wintern und Energieausfällen ausgeliefert gewesen. Der erste Schritt zur Diversifizierung der Gaslieferungen erfolgte 2019, als die Transbalkan-Pipeline für den Rückfluss umgerüstet wurde. Zuvor war sie von Russland ausschließlich für Gaslieferungen in die Balkanländer genutzt worden. Nachdem die Turkish-Stream-Pipeline in Betrieb genommen wurde, wurde die Transbalkan-Pipeline zu einer alternativen Route für LNG-Importe über Griechenland oder die Türkei, wodurch nun auch Moldau und die Ukraine Gas erhalten konnten.Ein weiterer wichtiger Meilenstein wurde im Oktober 2021 mit der Fertigstellung der Iași-Ungheni-Chișinău-Pipeline erreicht. Sie ist nun eine weitere Versorgungsroute. Beim Strom deckt die moldauische Eigenproduktion derweil nur 20 Prozent des Bedarfs. Der Rest kommt traditionell aus dem transnistrischen Kraftwerk Moldawskaja GRES – das ausschließlich mit kostenlosem russischem Gas betrieben wird – oder aus der Ukraine. Die Energieinfrastruktur der Ukraine wurde jedoch durch die russische Aggression zerstört. Dieser Versorgungsweg ist somit unterbrochen.Im März 2022 begann die Republik Moldau mit dem Import von Strom aus Rumänien. Ermöglicht wurde dies durch die Synchronisierung mit dem europäischen Stromnetz. Dennoch ist die moldauische Strominfrastruktur noch immer stark von sowjetischen Strukturen abhängig – eine wichtige Hochspannungsleitung verläuft direkt durch die abtrünnige Region. Um hier Abhilfe zu schaffen, unterzeichnete die Republik Moldau im November 2021 einen Vertrag über den Bau einer direkten Stromleitung unter Umgehung der Region Transnistrien, die bis Dezember 2025 fertiggestellt sein soll.Warum wurden solche Entscheidungen erst so spät getroffen?Die historische Abhängigkeit der Republik Moldau von Gazprom hat das Land sehr anfällig für Moskaus Einfluss gemacht. Über die Energieabhängigkeit hinaus arbeitete Russland aktiv daran, seine Kontrolle zu festigen, indem es die politischen Eliten Moldaus korrumpierte – unabhängig davon, ob diese sich als pro-russisch oder pro-europäisch identifizieren. Moskau versorgte diese Eliten mit Ressourcen, um wichtige Infrastrukturprojekte wie die Diversifizierung der Gasversorgung oder den Aufbau alternativer und unabhängiger Stromverbindungen zu blockieren oder zu sabotieren. Investitionsprojekte wurden jahrzehntelang verzögert. Die Republik Moldau blieb auf Systeme aus der Sowjet-Ära angewiesen, und infolgedessen das Land stets in Reichweite des Kremls.Die historische Abhängigkeit der Republik Moldau von Gazprom hat das Land sehr anfällig für Moskaus Einfluss gemacht.Darüber hinaus veruntreuten moldauische Politiker und Beamte Gelder von MoldovaGaz, das über ein jährliches Investitionsbudget für Ausrüstung, Pipelines und Zähler verfügt. Die Beschaffungsprozesse wurden manipuliert und die Preise überhöht, wobei das gestohlene Geld oft zur persönlichen Bereicherung oder für den Wahlkampf verwendet wurde. Gazprom als Mehrheitsaktionär von MoldovaGaz hat bei diesen Machenschaften wissentlich ein Auge zugedrückt, da diese Missstände in Moldau den strategischen Interessen Russlands dienten. Im Laufe der Jahre wurden zwar Ermittlungen zu diesen Straftaten eingeleitet, die aber aufgrund politischer Einmischung und Korruption in der Justiz kaum vorankamen. Jedenfalls wurden keinerlei hochrangige Persönlichkeiten zur Rechenschaft gezogen. Man kann hier durchaus von einer Kultur der Straflosigkeit sprechen.Welche geopolitischen Ziele verfolgt Russland mit seiner Energiestrategie in der Region Transnistrien und Moldau?Da gibt es diverse Ziele. Erstens soll die Region Transnistrien eng an Russland gebunden bleiben, indem sie vollständig vom kostenlosen russischen Gas abhängig gemacht wird. Zweitens soll die Abhängigkeit der Republik Moldau von der in Transnistrien erzeugten Elektrizität aufrechterhalten werden – die wie gesagt vollständig von diesem kostenlosen Gas abhängt. Letztlich geht es also darum, die Republik Moldau an Moskau zu binden und sie in ihren geopolitischen Entscheidungen einzuschränken, ob diese nun die EU- oder NATO-Mitgliedschaft betreffen oder mehr Energieunabhängigkeit.Wie hätte sich die moldauische Regierung besser auf die aktuelle Situation vorbereiten können?Die moldauische Regierung hat es schlicht versäumt, ein solches Szenario vorauszuahnen und sich entsprechend darauf vorzubereiten. Seit über einem Jahr gibt es Pläne, in denen die Kosten und notwendigen Aktionen für die Wiedereingliederung Transnistriens skizziert sind, die aber ignoriert wurden. Zuvor hatte ich ein nicht öffentliches Konzeptpapier ausgearbeitet, in dem die für die Wiedereingliederung erforderlichen Kosten und Maßnahmen veranschlagt wurden. Gespräche mit der Regierung, darunter auch mit Präsidentin Sandu, wurden wegen Zeitmangels, fehlender Ressourcen und mangelnder Sachkenntnis abgebrochen. Aber: Durch reines Ignorieren des Themas ist das grundlegende Problem natürlich nicht verschwunden.Dieses unorganisierte Vorgehen der Regierung untergräbt die Fähigkeit der Republik Moldau, wirksam zu reagieren.Internationale Diplomatinnen und Diplomaten fragen häufig, warum die moldauische Regierung offensichtlich nicht vorbereitet ist und es der Zivilgesellschaft überlässt, die Lücken zu füllen. Dieses unorganisierte Vorgehen der Regierung ist tatsächlich inakzeptabel, und es untergräbt die Fähigkeit der Republik Moldau, wirksam zu reagieren.Das gilt allerdings auch für die Region Transnistrien: Kiew hat seit Längerem betont, man werde den Gastransit-Vertrag nicht verlängern. Warum hat man sich in Tiraspol nicht auf dieses Szenario vorbereitet?Vor allem, weil man davon ausging, dass die kostenlosen Gaslieferungen aus Russland ununterbrochen fortgesetzt würden. Offenbar glaubte man in Tiraspol, die Führung in Moskau würde Gazprom anweisen, das Gas durch die Türkei umzuleiten. Die technischen Kapazitäten dafür sind vorhanden. Diese Route ist jedoch teurer und hat weniger Kapazitäten, und Putin müsste über denselben Korridor auch Gas an seine Partner in der Slowakei oder Österreich liefern. Stattdessen zieht er die billigere und kürzere Route durch die Ukraine vor, ohne die er jährlich sechs Milliarden US-Dollar verlieren würde. Deshalb setzt er Kiew unter Druck: Er möchte Spannungen in der Republik Moldau erzeugen und eine humanitäre Krise in Transnistrien auslösen. Sein Ziel ist dabei, die Ukraine für diese Krise und ihre Folgen verantwortlich zu machen.Die abtrünnige Region hätte sich darauf vorbereiten können, indem sie beispielsweise Energieeffizienzmaßnahmen zur Senkung des Gas-, Wärme- und Stromverbrauchs durchführt. Doch solche Maßnahmen erfordern Vorabinvestitionen, und bei den künstlich niedrig gehaltenen Gaspreisen wäre die Amortisationszeit für diese Investitionen praktisch unbegrenzt. Man hätte auch in erneuerbare Energien investieren können – aber solche Investitionen sind ebenfalls nicht rentabel, wenn der aus kostenlosem russischem Gas erzeugte Strom offensichtlich viel billiger ist.Das ist das Kernproblem: Transnistrien erhält kostenloses Gas aus Russland. Die Region zahlt weder dafür noch für die aufgelaufenen Schulden. Stattdessen wird das Gas im Inland weiterverkauft – in erster Linie an das Kraftwerk Moldawskaja GRES, das die Republik Moldau mit Strom versorgt, und an das örtliche Stahlwerk, dessen Erzeugnisse zu normalen Marktpreisen verkauft werden. Die Einnahmen aus dem Weiterverkauf des Gases werden auf ein „Gassonderkonto“ eingezahlt, aus dem bis zu einem Drittel der Haushaltsausgaben der Region Transnistrien finanziert wird. Im Grunde genommen stützt das kostenlose russische Gas das gesamte separatistische Regime. Ohne dieses Gas würde die sogenannte Unabhängigkeit Transnistriens zusammenbrechen.Was sind die möglichen langfristigen Auswirkungen der derzeitigen Situation für Transnistrien und Moldau? Könnte es angesichts der Krise zu einer Annäherung kommen?Ja, es könnte sich tatsächlich die Gelegenheit für Moldau ergeben, den Transnistrien-Konflikt zu lösen. Kurzfristig sind die Separatistenführer in Tiraspol optimistisch, dass Gazprom die Gaslieferungen wieder aufnehmen wird, wenn auch in reduzierten Mengen. Dies würde jedoch wahrscheinlich nicht ausreichen, um das Kraftwerk Moldawskaja GRES zu versorgen, das die Republik Moldau mit Strom beliefert. In der Zwischenzeit muss die Republik Moldau weiterhin teuren Strom aus Rumänien importieren, und zwar zu höheren Preisen – eine Situation, die wiederum Putin ausnutzen könnte.Putin wird sich wahrscheinlich darauf konzentrieren, dieses letzte Jahr noch zu nutzen, um die politische Agenda der Republik Moldau zu beeinflussen.Doch auch ihm läuft die Zeit davon: Bis zum Jahresende 2025 soll die Republik Moldau über eine neue Stromleitung verfügen, die die Region Transnistrien umgeht, so dass Moskau uns nicht mehr so leicht erpressen kann. Und der derzeitige Vertrag zwischen MoldovaGaz und Gazprom läuft im September 2026 aus. Unabhängig von kurzfristigen Überbrückungslösungen wird das kostenlose Gas irgendwann nicht mehr kommen und es muss abgerechnet werden. Putin wird sich wahrscheinlich darauf konzentrieren, dieses letzte Jahr noch zu nutzen, um die politische Agenda der Republik Moldau zu beeinflussen, insbesondere mit Blick auf die Parlamentswahlen. Und vor allem will er Druck auf Kiew ausüben, um den Gastransit aufrechtzuerhalten und die moldauische Bevölkerung mit hohen Stromrechnungen zu demoralisieren. So sollen Stimmen für kremlnahe Parteien gewonnen werden.Gleichzeitig strebt Putin eine größere Loyalität des transnistrischen Regimes an. Interessanterweise schweigen die Medien in Tiraspol seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine über russische militärische Ziele und konzentrieren sich stattdessen auf humanitäre Themen, wie die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter. Dies könnte auf den Einfluss der Sheriff Holding zurückzuführen sein, dem oligarchischen Unternehmenskonglomerat, das Transnistrien faktisch kontrolliert. Der Eigentümer von Sheriff, Viktor Guschan, betrachtet die russischen Truppen wahrscheinlich als Bedrohung für sein Vermögen, möglicherweise unterstützt er sogar im Stillen die Ukraine.Welche weiteren Hürden würde es für eine Reintegration Transnistriens geben?Aus moldauischer Sicht stellt die Reintegration vor allem eine finanzielle Herausforderung dar. Die Energiepreise in der Region Transnistrien müssten drastisch erhöht werden – die Gaspreise um das 15-Fache und die Strompreise um das Acht- bis Zehnfache. Ohne Subventionen könnten die Menschen in der Region ihre Rechnungen nicht bezahlen. Da bestünde die Gefahr, dass den Leuten massenhaft der Strom abgestellt wird. Allein eine solche Subventionierung der Haushalte würde die Republik Moldau jährlich rund 300 Millionen Euro kosten – etwa zwei Prozent des BIP. Die höheren Kosten für die Unternehmen könnten darüber hinaus die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen.Mittelfristig muss die Republik Moldau in Energieeffizienz und erneuerbare Energien investieren, um bestehende Subventionen zu reduzieren. Mit ausländischer Unterstützung würde die Reintegration darüber hinaus den Abzug der russischen Truppen und die Beilegung des 32-jährigen Konflikts beinhalten.Was genau meinen Sie mit „ausländischer Unterstützung“?Ausländische Unterstützung sollte von der EU, den USA, dem Vereinigten Königreich und anderen Partnern kommen, die auch die Ukraine unterstützen. Die Stabilität an der Grenze zwischen Moldau und der Ukraine ist von entscheidender Bedeutung. Niemand möchte, dass Moldau in den Orbit des Kremls gerät. Und die Ukraine kann keine russischen Truppen in ihrem Hinterhof dulden.Die moldauische Regierung sollte dies allerdings nicht als eine Art „Antrag auf Unterstützung und Subventionen“ darstellen, sondern in erster Linie als Reintegrationsplan. Westliche Entscheidungsträger dürften eher bereit sein, ein Projekt zu unterstützen, das die Lösung eines jahrzehntealten Konflikts zum Ziel hat. Aus politischer Sicht wäre das natürlich ein Erfolg, eine Chance für die politische Führung, sich mit Lorbeeren zu schmücken, da man ja für regionale Stabilität und Reintegration gesorgt hat.Die Republik Moldau muss einen klaren Plan mit Budgets und Aktivitäten ausarbeiten, um diesem Vorhaben die nötige Glaubwürdigkeit zu verleihen.Aus dem Englischen von Tim SteinsWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal