„Nicaragua hat sich zu einem terroristischen Staat entwickelt“

14.01.25 09:04 Uhr

Die Fragen stellte Lea Groß.Die Vereinten Nationen sind alarmiert, erst kürzlich kritisierten sie zuerst die Menschenrechtslage in Nicaragua und dann die Verfassungsreform, die Präsident Daniel Ortega quasi unbegrenzte Macht gibt. Wie ist die Situation im Land?Wendy Quintero Chávez: Die Lage in Nicaragua ist äußerst besorgniserregend. Seit 2018 befindet sich das Land in einer tiefen soziopolitischen Krise, die durch die jüngste Verfassungsreform einen neuen Tiefpunkt erreicht hat. Diese Reform untergräbt nicht nur den Geist der Verfassung, sondern sie verstärkt auch die bereits gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Daniel Ortega, der seit 2007 an der Macht ist und durch manipulierte Wahlen im Amt geblieben ist, hat eine erschreckende Bilanz: über 350 Tote, die Schließung von 3 500 zivilgesellschaftlichen Organisationen, das Verbot von 56 Medien und mehr als 900 Menschen, die seit 2018 ins Exil geflohen sind. Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit werden massiv eingeschränkt.Die Reformen zementieren die Straflosigkeit und sichern Ortega sowie seiner Frau Rosario Murillo, die nun durch eine Ko-Präsidentschaft offiziell an der Macht beteiligt ist, eine unbefristete Herrschaft. Die Gewaltenteilung – in Judikative, Exekutive und Legislative – wurde faktisch aufgehoben, was das Land endgültig in eine vollkommene Diktatur verwandelt hat. Die UN-Expertengruppe und weitere internationale Organisationen haben diese alarmierenden Entwicklungen ausführlich dokumentiert. Es handelt sich um systematische Verstöße gegen die Rechte der Bevölkerung. Die letzten Überreste von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten wurden nun endgültig zerstört.Das Regime verfügt über drei bewaffnete Kräfte – Militär, Polizei und Paramilitärs –, die die Machtherrschaft der Ortega-Familie sichern.Lucía Pineda Ubau: Nicaragua hat sich zu einem terroristischen Staat entwickelt. Ortega und Murillo ignorieren nicht nur die Kritik von Menschenrechtsorganisationen, sondern setzen ihre systematische Verfolgung der Bevölkerung unvermindert fort. Menschenrechtsabkommen, die Nicaragua einst unterzeichnet hat, werden vollständig missachtet. Ortega und Murillo entziehen sich jeder Verantwortung und verweigern die Rechenschaftspflicht, die von den Vereinten Nationen eingefordert wird. Mit der Verfassungsreform wird auch der Einsatz von Paramilitärs als „freiwillige Polizisten“ legitimiert; sie gewährt ihnen dieselben Rechte wie der regulären Polizei und dem Militär. Damit verfügt das Regime über drei bewaffnete Kräfte – Militär, Polizei und Paramilitärs –, die die Machtherrschaft der Ortega-Familie sichern.Angesichts der Repression gegen die Presse – ist unabhängige Berichterstattung überhaupt noch möglich?Wendy Quintero Chávez: Es ist äußerst schwierig, aber nicht unmöglich. Seit 2017 verfolgt die Regierung einen systematischen Plan zur „Säuberung“ der Medienlandschaft, wie Rosario Murillo es nannte. Unabhängige Medien werden zerstört, Journalistinnen und Journalisten werden zum Schweigen gebracht. Die Regierung plant derzeit, nahezu alle Radio- und Fernsehfrequenzen in staatliche Hände zu überführen, sodass kaum noch Raum für freie Meinungsäußerung bleibt. Viele Journalistinnen und Journalisten leben im Verborgenen, aus Angst vor Verfolgung oder Bedrohung ihrer Familien. Sie haben Angst, ihren Beruf auszuleben, und schreiben deshalb anonym. Einige sitzen im Gefängnis, andere sind verschwunden. Doch die Wahrheit kann nicht vollständig unterdrückt werden, und trotz der erschwerten Bedingungen finden wir Wege, weiterhin zu berichten. Im Exil haben wir 20 neue Medienprojekte gestartet, doch einige davon mussten aus finanziellen Gründen wieder schließen. Das Überleben im Exil ist eine große Herausforderung, und auch dort sind Journalistinnen und Journalisten nicht vor Drohungen und Gewalt sicher. Trotzdem geben wir nicht auf – wir kämpfen weiter für die Wahrheit und die freie Berichterstattung.Wie hat Ihre Erfahrung als politische Gefangene Ihre Sicht auf den Journalismus und Ihre Arbeit bei Periodistas y Comunicadores Independientes de Nicaragua (PCIN) verändert?Lucía Pineda Ubau: Meine Zeit als politische Gefangene hat mich zutiefst geprägt. Ich wurde isoliert und psychisch gefoltert und sollte Ortega um Verzeihung bitten. Doch für mich ist klar: Ortega muss sich beim nicaraguanischen Volk entschuldigen, nicht umgekehrt. Vor 2018 wollte ich als Journalistin eine Reportage über Gefängnisse machen, insbesondere über El Chipote in Managua, das während der Somoza-Diktatur ein Foltergefängnis gewesen war. Damals wurde mir der für die Berichterstattung notwendige Zugang verweigert. Als ich dann selbst als Gefangene dort war, erlebte ich die unmenschlichen Bedingungen hautnah: alte, dunkle, stinkende Kerker, in denen Leben kaum möglich ist. Die psychologische Belastung durch Verfolgung und Inhaftierung war enorm, aber mein Glaube hat mir geholfen, sie zu überwinden. Trotz Isolation und Folter blieb ich innerlich stark und entschlossen, meine Arbeit nach meiner Freilassung fortzusetzen. Diese Erfahrung und meine Freilassung nach sechs Monaten haben meinen Einsatz für Pressefreiheit nur bestärkt. Bei PCIN unterstützen wir verfolgte Journalistinnen und Journalisten mit psychosozialer Hilfe, um ihnen bei der Verarbeitung dieser Erfahrungen zu helfen und die Arbeit sowie den Kampf für die Pressefreiheit fortzusetzen. Im Exil zu leben, ist jedoch hart, vor allem wegen der wirtschaftlichen Herausforderungen – Costa Rica ist viel teurer als Nicaragua. Doch trotz aller Widrigkeiten und Repressionen hat der unabhängige Journalismus standgehalten – das Regime konnte uns nicht zum Schweigen bringen.In Nicaragua gibt es jedoch kaum noch Printmedien – allein 2023 wurden 56 geschlossen.Wendy Quintero Chávez: PCIN wurde 2018 gegründet, um Journalistinnen und Journalisten im Kampf gegen die wachsende Repression zu unterstützen. Wir bieten Hilfe in Bereichen wie Sicherheit, Schulungen und Rechtsberatung, um den unabhängigen Journalismus zu stärken. Unsere Organisation vereint nicht nur Medienschaffende, sondern sorgt auch dafür, den Informationsfluss aufrechtzuerhalten – trotz der Schließung zahlreicher Medien. Die Vielfalt an Stimmen ist essenziell für eine Demokratie. Seit 2018 sind über 20 neue digitale Medien entstanden, die den unabhängigen Journalismus weiter gestärkt haben. Auch traditionelle Medien wie Lucías 100% Noticias haben sich digitalisiert und nutzen Plattformen wie Facebook und YouTube, um zu informieren. In Nicaragua gibt es jedoch kaum noch Printmedien – allein 2023 wurden 56 geschlossen. Unsere digitale Präsenz ermöglicht es uns, die Bevölkerung weiterhin mit Nachrichten zu versorgen, und war entscheidend für unseren Neuanfang in Costa Rica. Obwohl das Regime uns als Opposition diffamiert, bleibt unser Ziel unverändert: Wir berichten objektiv über die Geschehnisse im Land. Trotz der Herausforderungen im Exil kämpfen wir unbeirrt für die Pressefreiheit – unterstützt durch die Solidarität von Organisationen und unserem Publikum.Die Pressefreiheit ist weltweit unter Druck. Arbeitet PCIN auch mit Journalistinnen und Journalisten aus anderen Ländern zusammen?Lucía Pineda Ubau: Ja, wir arbeiten eng mit Journalistinnen und Journalisten aus Venezuela, Kuba, anderen lateinamerikanischen Ländern und Spanien zusammen. Gemeinsam teilen wir Erfahrungen und kämpfen gegen autoritäre Tendenzen, die die Pressefreiheit bedrohen. Die Welt befindet sich leider in einer Phase, in der autoritäre Regime und radikale Strömungen zunehmend demokratische Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit sowie den Zugang zu unabhängigen Medien einschränken. PCIN kooperiert deshalb auch mit Menschenrechtsorganisationen, um Missstände aufzudecken und die Bedeutung freier Medien für demokratische Gesellschaften zu unterstreichen. Initiativen wie das zentralamerikanische Forum ForoCAP in Guatemala schaffen Plattformen, um zu zeigen, wie unabhängige Medien selbst unter schwierigen Bedingungen überleben können. Unsere Netzwerke und Kontakte bieten wichtige Unterstützung für Journalistinnen und Journalisten in Ländern, die ebenfalls von autoritären Tendenzen betroffen sind. Um gegen das repressive Regime in Nicaragua zu bestehen, ist Zusammenarbeit essenziell. Wir hoffen, dass unsere Stimmen weltweit gehört werden, denn wir sind überzeugt, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal