Brasilien: Warten auf die Wende
Am Sonntag geht in Südamerikas größtem Staat die Präsidentschaftswahl in die erste Runde. Bisher überzeugt jedoch keiner der Kandidaten die Investoren.
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von Jörg Billina, Euro am Sonntag
Rutscht die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas tiefer in die Krise? Oder schafft das Land sein Comeback und entwickelt sich noch einmal zum Schwellenländerstar? Klarheit, ob und wie Brasilien genesen kann, erhoffen sich Anleger vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen. Die erste Runde findet an diesem Sonntag statt. Aller Wahrscheinlichkeit nach steht jedoch erst nach der Stichwahl am 28. Oktober fest, wer in den Präsidentenpalast Palácio da Alvorada einziehen darf. Mit Spannung warten Investoren auch das Ergebnis der Parlamentswahlen ab. Von der Zusammensetzung des Kongresses hängt es ab, ob der neue Präsident Zustimmung für seine Politik findet und dringend notwendige Veränderungen auf den Weg bringen kann.
Viel steht auf dem Spiel. "Brazil takes off" - "Brasilien hebt ab" titelte noch vor ein paar Jahren das Wirtschaftsmagazin "Economist". Marktwirtschaftliche Reformen und anziehende Rohstoffpreise hatten seinerzeit einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung ausgelöst. Um mehr als sieben Prozent legte das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2010 zu. Der Boom ermöglichte Millionen Menschen den Aufstieg in die Mittelschicht und bescherte Anlegern hohe Gewinne.
Von der einstigen Euphorie ist in der weltweit neuntgrößten Wirtschaftsnation nichts mehr zu spüren. Konsumenten- und Unternehmervertrauen sind auf niedrige Niveaus gerutscht. Gerade mal 1,3 Prozent wird die wirtschaftliche Gesamtleistung in diesem Jahr zunehmen. Zu wenig, um die Arbeitslosenrate zu drücken. Zu wenig, um den erneuten Anstieg der extremen Armut zu verhindern. Zu wenig auch, um die rapide steigende Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen. Die beträgt mittlerweile 77 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Die Skepsis internationaler Investoren ist daher groß. Rund zehn Prozent hat Brasiliens Börsenbarometer Bovespa auf Eurobasis seit Anfang des Jahres verloren. Die kritische ökonomische Lage des Landes lässt sich ebenso am Kurs der Landeswährung ablesen. Gegenüber dem Dollar gab der Real seit Jahresanfang 18 Prozent ab.
Nicht zuletzt mahnen die massiven politischen Probleme Brasiliens Anleger zur Vorsicht. Der Glaube der Bürger an ihre Eliten ist durch milliardenschwere Korruptionsskandale erschüttert. Viele Politiker sind darin verstrickt. Auch wenn hochrangige Mandatsträger zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden: 81 Prozent der Brasilianer zweifeln an der Handlungsfähigkeit der Justiz, 87 Prozent misstrauen den Parteien.
Starke Sprüche
Allzu große Hoffnungen auf kurssteigernde Weichenstellungen machen sich Investoren zunächst einmal nicht. Moderate oder wirtschaftsfreundliche Kandidaten haben keine Chance auf einen Sieg. Mit zuletzt 28 bis 31 Prozent führt dagegen der rechtsnationale Politiker Jair Bolsonaro von der Partido Social Liberal die Umfragen an. Der frühere Offizier der Fallschirmjäger glänzt jedoch nicht durch wirtschaftliche Kompetenz. Davon verstehe er nichts, gesteht der 63-Jährige. Bolsonaro inszeniert sich dagegen als hart durchgreifender Politiker. Er werde Brasilien aus dem Sumpf von Korruption und Gewalt führen sowie die staatliche Ordnung schnell wiederherstellen, verspricht er den Wählern.
Damit gewinnt er Zustimmung - insbesondere bei wohlhabenden Bürgern. Das Land versinkt derzeit in Gewaltexzessen. Brasiliens Städte zählen zu den gefährlichsten der Welt. 64.000 Menschen wurden im vergangenen Jahr umgebracht. Im internationalen Maßstab ist das ein Rekordwert. Die hohe Verbrechensrate hat wiederum fatale Folgen für die Wirtschaft. Ausländische Direktinvestitionen gehen zurück, die Ausgaben für öffentliche Sicherheit belasten den Staatshaushalt. Der ist tief in den Miesen, die Neuverschuldung beträgt 7,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Eine kluge Wirtschaftspolitik ist unabdingbar, um die sozialen Probleme zu lösen und Defizite abzubauen. Bolsonaro selbst hat da keinen Plan, sondern verlässt sich auf seinen Wirtschaftsberater Paulo Guedes. Der neoliberale Investmentbanker will staatliche Unternehmen wie Banco do Brasil und Petrobras privatisieren und mit den Erlösen das Haushaltsdefizit bis 2020 gänzlich abbauen. Das kommt bei Investoren gut an, zumal Guedes Bolsonaro auch überzeugen konnte, die Unabhängigkeit der Zentralbank nicht anzutasten. Fraglich nur, ob die Maßnahmen ausreichen, um die Misere des Landes nachhaltig zu beenden.
Fraglich auch, ob Hardliner Bolsonaro die Stichwahl gewinnen kann. Seine Lobgesänge auf die Militärdiktatur in Brasilien von 1964 bis 1985 schaden ihm. 42 Prozent der Wähler wollen ihm auf keinen Fall ihre Stimmen geben. Zu seinen härtesten Kritikern zählen weibliche Wähler. Bolsonaro hatte Frauen unter anderem als "Vagabunden" verunglimpft.
Nicht auszuschließen, dass der in Umfragen an zweiter Stelle liegende Linkspolitiker Fernando Haddad von der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores die Stichwahl für sich entscheidet. Der 54-Jährige ist Ersatzkandidat für Lula da Silva. Der frühere Staatspräsident wollte eigentlich noch einmal antreten, doch vor einigen Monaten wurde er zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Haddad, erst seit vier Wochen Kandidat, hofft von der weiterhin hohen Popularität Lulas zu profitieren.
Steigende Schulden
Sein Konzept: Der Staat soll es richten. "Ohne staatliche Investitionen und ohne staatliche Hilfe für Familien wird das Land nicht gesunden", analysiert der Ökonomieprofessor und frühere Bürgermeister von São Paulo. Zudem will er die Steuern für Reiche erhöhen und für Arme senken.
Die damit aufkeimenden Ängste der Investoren versucht Haddad zu relativieren. In den kommenden zwei Jahren werde die Verschuldung zwar ansteigen, dann aber wieder sinken, verspricht er den Anlegern. Auch werde er die dringend notwendige Pensionsreform auf den Weg bringen. Schon im Alter von 58 Jahren können Brasilianer in Rente gehen. Änderungen sind dringend notwendig, sonst steigt der Schuldenberg weiter an. Doch Haddads Pläne sind schon in seiner eigenen Partei heftig umstritten. Und für eine Rentenreform bedarf es einer verfassungsändernden Mehrheit von zwei Drittel der Stimmen im Kongress.
Auch wenn ein Teil der Unsicherheit über Brasiliens Zukunft schon in den Aktienkursen eingepreist sein dürfte: Für einen Einstieg ist es noch zu früh. An Warnungen fehlt es nicht. UBS will einen weiteren Kursrückgang um 15 Prozent nicht ausschließen. Auch Franklin Templeton rät trotz günstiger Bewertungen zur Zurückhaltung. Ein Engagement könne sich als echte Value-Falle erweisen. "Brasilien hebt ab" - auf diese Schlagzeile wird man wohl noch lange warten müssen.
Investor-Info
Entscheidung in Brasilien
Stichwahl wahrscheinlich
145 Millionen Brasilianer sind an diesem Sonntag - und mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut am 28. Oktober - aufgerufen, ihren neuen Staatspräsidenten zu wählen. Die Bürger entscheiden auch über die Zusammensetzung des Kongresses. Gewählt werden die 513 Mitglieder des Abgeordnetenhauses sowie 54 der insgesamt 81 Senatoren.
iShares MSCI Brazil ETF
Zu früh zum Einstieg
Der ETF bildet die Wertentwicklung von rund 50 brasilianischen Unternehmen wie Vale, Petrobras oder Itau Unibanco ab. Auf Sicht von einem Jahr verlor das Indexpapier 15 Prozent. Zuletzt haben sich die Kurse wieder erholt. Das Rückschlagsrisiko ist jedoch hoch. Kluge Schwellenländer-Investoren warten vor dem Einstieg den Wahlausgang ab.
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