EZB-Vorsitz: Unerwartete Wendung
EU » IWF-Chefin Christine Lagarde soll EZB-Präsidentin werden. Investoren feiern die Nominierung, sie rechnen mit einer Fortsetzung der Nullzinspolitik.
von Julia Gross, €uro am Sonntag
Beobachter hatten ihr nur Außenseiterchancen eingeräumt. Doch am Mittwoch einigten sich die 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf die Nominierung Christine Lagardes für den Chefposten der Europäischen Zentralbank (EZB). Formell muss die Französin, bis dato Direktorin des Internationalen Währungsfonds, noch vom EZB-Rat und dem EU-Parlament angehört werden. Ob Lagarde den Posten in Frankfurt am 1. November wirklich antritt, dürfte jedoch auch davon abhängen, ob Ursula von der Leyen vom Parlament als Kommissionspräsidentin bestätigt wird.
Die Finanzmärkte feierten Lagardes Nominierung mit kräftigen Kursanstiegen bei Euro Stoxx 50 und DAX. Auch die Anleihekurse legten zu. Investoren spekulieren darauf, dass Lagarde im Wesentlichen die lockere Geldpolitik ihres scheidenden Vorgängers Mario Draghi fortsetzt. Sollte sich die Wirtschaftslage in Europa deutlich verschlechtern, trauen Ökonomen der 63-jährigen Juristin sogar einen deutlich offensiveren Kurs zu.
Proaktive Zentralbankpolitik
Das hebt sie insbesondere von Bundesbank-Chef Jens Weidmann ab, der lange als Favorit für die EZB-Führung galt. "Als IWF-Direktorin hatte sich Lagarde bereits sehr früh und nachdrücklich für das Instrument der quantitativen Lockerung (Anleihekaufprogramm) ausgesprochen", sagt DWS-Volkswirt Martin Moryson. "Vor dem Hintergrund ihrer ausgewiesenen fiskalpolitischen Expertise könnte sie unseres Erachtens hier den Druck auf die europäischen Staats- und Regierungschefs noch erhöhen."
Lagarde, die von 2007 bis 2011 in Frankreich Finanz- und Wirtschaftsministerin war, wäre nicht nur die erste Frau, sondern auch die erste EZB-Präsidentin, die weder Ökonomin ist noch eine Karrierestation in einer Notenbank absolviert hat. Beobachter gehen davon aus, dass dadurch der Einfluss des EZB-Chefvolkswirts Philip Lane wachsen dürfte. Auch er hat sich bisher für eine vergleichsweise aggressive, proaktive Zentralbankpolitik ausgesprochen.
Neben einigen kritischen Stimmen werten viele Experten diese Konstellation als positiv. "An dieser Stelle ist Christine Lagardes Fähigkeit, europäische Politik zu steuern, wahrscheinlich mehr wert als eine Promotion in Wirtschaftswissenschaften. Sie muss die EZB-Politik sowohl den Ländern der Eurozone als auch globalen Investoren verkaufen; darauf kommt es an der EZB-Spitze an", sagt David Lafferty, Chefstratege des Investmenthauses Natixis Investment Managers.
Der früheren Synchronschwimmerin Lagarde stehen mit dem Brexit und enttäuschenden Konjunkturdaten einige Herausforderungen bevor. Die bald erwartete Senkung des Einlagenzinses noch tiefer in den negativen Bereich bleibt jedoch noch Mario Draghi vorbehalten.
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