Euro am Sonntag-Standpunkt

Strategie-Überprüfung: Ist Lagarde für Überraschungen gut?

07.03.20 12:00 Uhr

Strategie-Überprüfung: Ist Lagarde für Überraschungen gut? | finanzen.net
EZB-Chefin Christine Lagarde

Die Europäische Zentralbank steht wegen ihrer anhaltenden Nullzinspolitik in der Kritik. Nun will sie bis Ende 2020 klären, ob sie ihre Strategie ändert - und beispielsweise im Klimaschutz eine größere Rolle spielen müsste.

von Jörg Zeuner, Gastautor für €uro am Sonntag

Die Zinsen normalisieren? Den Klimawandel und die Ungleichheit in der Gesellschaft bekämpfen? Ein besseres Inflationsziel ausgeben? Die Europäische Zentralbank (EZB) hat sich eine Menge für die Überprüfung ihrer geldpolitischen Strategie vorgenommen. Deshalb sind das europäische Parlament, die Wissenschaft sowie Vertreter der Zivilgesellschaft gefragt, wie denn die EZB künftig ihre Geldpolitik zum Wohle ­aller gestalten soll.

Bis Ende des Jahres sollen die Vorschläge vorliegen. Zu ihrem Inflationsziel möchte sich die EZB möglicherweise bereits im Sommer äußern. Das ist eine sehr kurze Zeit für die Klärung sehr vieler wichtiger, fundamentaler Fragen. Es ist zu erwarten, dass nicht viel dabei herumkommt und für Europa grundsätzliche Themen unbeantwortet bleiben.

Die Überprüfung der geldpolitischen Strategie sei keine große Sache, sagt die neue EZB-Chefin Christine Lagarde. Aber ist es damit getan? Die heutige Strategie ist 17 Jahre alt und wurde 2003 kaum geändert. Doch seither ist viel passiert. Es gab vor zehn Jahren eine Eurokrise, die fast zum Zerbrechen der Währungsunion geführt hätte. Haben wir wirklich alle Lektionen daraus gelernt? Die meisten Experten würden das verneinen. Die Währungsunion bleibt unvollendet, was sie in Krisenzeiten anfällig macht. Die Alternative ist eine enge abgestimmte Fiskalpolitik in der Eurozone. Es wäre sicher eine gute Idee, wenn Europa dieses anspruchsvolle Projekt endlich angehen würde.

Ohne eine stärkere Integration zwischen den einzelnen Staaten der Währungsunion wird die EZB gut daran tun, sich andere Möglichkeiten offenzuhalten. Wenn die Finanzstabilität gefährdet ist, wird sie nicht darum herumkommen, ihren Spielraum für Anleihekäufe zu erweitern. Der Praxistest für das Kaufprogramm wird bald kommen, wenn der Bestand an kaufbaren deutschen Bundesanleihen aufgebraucht ist. Dies liegt auch an der sparsamen Haushaltspolitik der Bundesrepublik.

Um die quantitative Lockerungspolitik (QE) in die Verlängerung zu bringen, könnte die EZB auch Anreize zur Finanzierung des "Green Deals" setzen. Die Klimapolitik spielt für die EZB-Chefin schon jetzt eine wichtige Rolle. In Europa einfach so weiterzumachen und fossile Energieträger als Garant für Wachstum zu sehen, wäre genauso falsch wie zu glauben, dass der Umbau der Energieversorgung hin zu erneuerbaren Energien oder eine größere Energieeffizienz zwangsläufig in eine wirtschaftliche Depression führen muss.

Die Realzinsen fallen weiter, die Investitionen steigen aber nicht


Die EZB ist nicht der schlechteste Ort, um diese Debatte mitzugestalten. Um den klimaverträglichen Umbau der Wirtschaft anzuschieben, könnte sie durch erweiterte Anleihekäufe die Finanzierung erleichtern. Wenn dadurch netto die Investitionen in Europa steigen und damit Wachstum und Inflation zunehmen, ist daran wenig auszusetzen. Allerdings würde dieses Vorgehen der EZB zu Debatten in den Nationalstaaten führen. So wurde das Anleihekaufprogramm vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe unter Auflagen gebilligt. EU-Mitgliedsstaaten könnten Sorgen haben, dass diese Erweiterung der Anleihekäufe mit einem finanzpolitischen Souveränitätsverlust einhergehen würde. Hier ist ein Umdenken gefragt.

Ein anderes Problem sind die niedrigen Zinsen. Die Realzinsen fallen in den großen Volkswirtschaften seit 50 Jahren. Die Investitionen sind trotzdem nicht gestiegen. Gleichzeitig haben wir Millionen Arbeitslose. Kann die Geld­politik überhaupt noch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und die Preise steuern, wenn eine Veränderung der Finanzierungskosten kaum noch sichtbare realwirtschaftlichen Folgen hat?

Höhere Zinsen bremsen Volkswirtschaften, so viel ist klar. Zur Stimulierung braucht es aber wohl deutlich mehr, vor allem den Staat mit wirtschaftspolitischen Zielen und Ausgaben. Hier braucht es Antworten, um Ziele und Instrumente richtig zu wählen, und damit letztlich auch ein glaubwürdiges Inflationsziel zu setzen.

Sie sei eine "Eule", die mit ihrer Weisheit zwischen den geldpolitischen Polen stehe, sagte Lagarde über sich selbst. Das lässt hoffen, dass die EZB-Chefin noch für einige, hoffentlich positive Überraschungen gut sein dürfte.

Kurzvita

Jörg Zeuner
Chefvolkswirt bei Union Investment
Zeuner ist seit Juni 2019 Chefvolkswirt und leitet den Bereich Research & Investment Strategy des Portfoliomanagements von Union Invest­ment. Zuvor war er ­unter anderem Chefvolkswirt der KfW und leitete die volkswirtschaftliche Abteilung der Bankengruppe. Union Investment ist die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken. Mit aktuell rund 350 Milliarden Euro verwaltetem Vermögen ist sie einer der größten deutschen Vermögensverwalter für private und institutionelle ­Anleger.









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Bildquellen: Jonathan Raa/Pacific Press via Getty Images, Union Asset Management Holding AG