Auf der Suche nach dem verschwundenen Zins
Flucht in deutsche Staatsanleihen hält an.
Die allgemeine Flucht der Anleger in deutsche Staatsanleihen hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Suche nach einem „sicheren Hafen“ hat das Zinsniveau auf immer neue historische Tiefpunkte gedrückt. Die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen rentieren bei 1,24 % - dies entspricht einem Zinsrückgang im Vergleich zum Jahresbeginn 2011 von 60 %. Das Tempo der Bewegung ist dabei rekordverdächtig. Die Märkte scheinen zunehmend einen Zerfall des Euro zu simulieren, jedes Land wird dabei streng differenziert betrachtet. In der Folge ist der Spread deutscher Anleihen im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern erheblich gewachsen. Deutschland profitiert von dieser Entwicklung – nie war eine Neuverschuldung so günstig. Selbst Anleihen mit einer Laufzeit bis 2044 rentieren vor Steuern nur noch bei 1,67 %. Wie ist dieses Szenario nun einzuschätzen, und wo liegen Chancen und Risiken dieser Entwicklung, die Anfang des Jahres noch für utopisch gehalten wurde?
Vergleichbare Szenarien
Es liegt nahe, die gegenwärtige Situation durch „japanische Verhältnisse“ zu beschreiben. Tatsächlich sieht die Renditeentwicklung im kurz- und mittelfristigen Laufzeitenbereich sehr ähnlich aus. De facto erhält man für deutsche Anleihen mit Laufzeiten bis zu vier Jahren eine Nullverzinsung – nach Steuern sind die Renditen oft schon negativ. Die Parallele zu Japan hinkt jedoch an einigen Stellen. Deutschland hat seine Strukturreformen erfolgreich durchgeführt. Die tiefen Renditen sind als eine Art „Erfolgsbonus“ für Deutschland zu interpretieren, während die tiefen japanischen Renditen eher durch die extrem schwache Wirtschaft und den zusammenbrechenden Immobilienmarkt verursacht wurden. Deutschland ist derzeit dabei, zur „neuen Schweiz“ der Anleger zu werden – dieser Vergleich erscheint zumindest auf psychologischer Ebene passender.
Chancen und Risiken
Bei einer Anleihe mit einer Laufzeit bis 2044 und einer Nominalverzinsung von 2,5 % konnte der Kurswert seit Beginn des Jahres von 100 auf 121 gesteigert werden – ein äußerst lohnendes Investment, das zu Beginn des Jahres in den Medien noch belustigt kommentiert wurde. Wer allerdings zum jetzigen Zeitpunkt investiert, muss sich des erhöhten Zinsänderungsrisikos bewusst sein. Bewegt sich der langfristige Zins für Anleihen mit einer Laufzeit von 30 Jahren von rund 1,7 % lediglich wieder auf das Niveau von 2,5 % zurück, drohen Kursverluste im Bereich von rund 17 %. Insbesondere Banken und Versicherungen – die allein schon aus technischer Sicht auf den Kauf dieser Anleihen angewiesen sind – müssen dieses Risiko teuer absichern. Auf der Suche nach höheren Renditen fallen unweigerlich andere europäische Staatsanleihen ins Auge. Die Kernfrage ist hierbei, ob die derzeitige Überrendite das zusätzliche Risiko ausgleichen kann - angesichts des schwer einzuschätzenden, politisch getriebenen Bonitätsrisikos beileibe kein leichtes Unterfangen.
Grundsätzlich erschwert die extrem niedrige Verzinsung die Generierung laufender Erträge - selbst bei großen Vermögen. Strukturell bedeutet das somit eine Art „Vermögenssteuer durch die Hintertür“.
Fazit
Es ist sicherlich nicht ratsam, in der gegenwärtigen – sehr volatilen – Phase emotional zu reagieren und dem allgemeinen Fluchtimpuls zu erliegen. Auch der Anleihensektor birgt zahlreiche Risiken. Die globalen Aktienmärkte sind dagegen historisch unterbewertet – hier liegen die wahren langfristigen Chancen verborgen.
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Thomas Grüner ist Firmengründer und Geschäftsführer der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments GmbH. Seine oft dem allgemeinen Marktkonsens entgegen stehenden Prognosen sorgten schon mehrfach für großes Aufsehen. Weitere Informationen unter http://www.gruener-fisher.de.
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