Kapitalmarktanalyse - Krisen - oder: die schöpferische Kraft
Die EU-Schuldenkrise beherrscht die Schlagzeilen. Und sie wirdsie noch lange beherrschen.
Hans-Jörg Naumer, Leiter Kapitalmarktanalyse von Allianz Global Investors
Selbst wenn durch eine politische Lösung Vertrauen nachhaltig wiederhergestellt wird, sich die Kapitalmärkte beruhigen und die Zentralbanken wieder vom Anti-Krisenmodus in den normalen Gang schalten können, die aufgehäuften Schulden müssen über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte abgebaut werden.
Tragisch dabei: Die EU-Schuldenkrise ist nicht die einzige Krise, die wir in den letzten Jahrzehnten durchleiden mussten. Sie ist verknüpft mit einer ganzen Reihe anderer Krisen. Dabei schien die eine Krise die nächste vorzubereiten und die Krisenintensität sich nach oben zu schaukeln.
War es nicht das billige Geld der japanischen Zentralbank, welches in den 1990er Jahren um die Welt und vor allem nach Asien schwappte und dort die Asienkrise verursachte? Worauf die US-amerikanische Zentralbank als Antwort auf die Asienkrise die Märkte mit Liquidität weiter flutete („Greenspan-Put“), um damit den Grundstein für die Aktienmarktblase („TMT-Bubble“) zum Ende des letzten Jahrtausends zu legen. Fehlte nur noch das Clinton’sche Programm, welches die amerikanische Bevölkerung zu einem Volk von Hausbesitzern machen wollte. Es band letztlich die Hypothekenkredite an die Leitzinsen der US-Zentralbank – aber nur in eine Richtung. Sanken die Leitzinsen, konnten die Häuslebauer bessere Konditionen einloggen. Im umgekehrten Fall waren sie aber vor einem Zinsanstieg geschützt. Dazu kam: Sind die Zinsen niedrig, fällt der Konsum auf Pump leichter.
Es ist geradezu ein Hintertreppenwitz der Geschichte, dass nicht zuletzt die Chinesen durch die Käufe US-amerikanischer Staatsanleihen, in die sie ihre Exportüberschüsse investierten, das Rendite- und damit auch das Kreditzinsniveau niedrig hielten. Dadurch brachten sie die Kreditkarten der amerikanischen Konsumenten zum Glühen. Ergo: Die aktive chinesische Leistungsbilanz förderte die Ausweitung des amerikanischen Leistungsbilanzdefizits. Das Ungleichgewicht schaukelte sich selbst hoch.
Finanzprodukte, die versuchten schlechte Hypotheken zu bündeln, um die Ausfallrisiken zu strukturieren und handelbar zu machen („Mortgage-backed-Securities“), sorgten dann für einen Export der sich im US-amerikanischen Immobilienmarkt anbahnenden Blase in die halbe Welt, vor allem nach Europa. Banken nahmen die höherrentierlichen Anleihen gerne auf die Bücher. Das Rad drehte sich schneller: Der Engpassfaktor war plötzlich nicht mehr die Bonität der Hypothekenschuldner, sondern die Fähigkeit, Hypothekenkredite zu vergeben. Diese wurden in Anleihen verpackt, um sie auf dem Anleihenmarkt zu platzieren. Das Prinzip vorsichtiger Kreditvergabe war ausgehebelt.
Die nächste Blase ließ nicht lange auf sich warten. 2008 brach die Finanzmarktkrise aus. Dann kam die EU-Schuldenkrise. Ohnehin schon angespannte öffentliche Haushalte mussten sich gegen die Finanzmarktkrise stemmen. Die Folge: weiter ausufernde Staatsschulden, die in eine Vertrauenskrise führten, als Griechenland seine nach Brüssel gemeldeten Haushaltsdaten immer weiter nachbessern musste.
Die Antwort kam prompt. Die Liquiditätsspritzen wurden höher dosiert. Die Staaten ließen Konjunkturpakete vom Stapel, um die ökonomische Kernschmelze zu verhindern. Folge: Die ohnehin schon defizitären Haushalte rutschten weiter in die roten Zahlen. Die Schuldenberge wuchsen. Bei den Bonitätsnoten wurden die Daumen gesenkt.
Was bleibt, ist eine Welt im Ungleichgewicht: überschuldete Industriestaaten, häufig mit Leistungsbilanzdefiziten, die von den aufstrebenden Staaten (noch) finanziert werden.
Was sich zeigt, ist: Geld allein macht nicht glücklich, auch wenn es von den Zentralbanken kommt. Es verleitet zu Fehlinvestitionen und endet zumeist in Inflation – Inflation, wenn schon nicht des Warenkorbes, so doch der Vermögenswerte.
Dabei scheint aus der Retroperspektive – ökonomisches Lehrbuch hin oder her – unstrittig, dass Staaten und Zentralbanken reagieren mussten, wie sie reagierten. Die Frage ist jetzt nur: Welche tiefergehende Erkenntnis können wir aus den Krisen ziehen – neben den ordnungspolitischen Fragen, die sie aufwerfen?
Die schöpferische Kraft der Zerstörung
So sarkastisch es sich auch anhören mag, die wichtigste Erkenntnis ist: Krisen gehören zum Wohlstand dazu. Krise als Ausdruck des „Entdeckungsmechanismus“ (Friedrich August von Hayek), der Altes zerstört und Neues schafft. Das kann sich in kleinen Krisen äußern, die sich in Konjunkturschwankungen ausdrücken, aber auch in großen, die zu neuen Wachstumszyklen führen. Hier schließt sich der Kreis: Die Geschichte unseres Wohlstandes ist auch die Geschichte der Krisen. Jeder der seit Ende des 18. Jahrhunderts messbaren Kondratieff-Zyklen endete in einer Krise, auf die ein langer Aufschwung folgte. – Der russische Ökonom Nikolai Kondratieff wurde am Ende des dritten von ihm entdeckten und nach ihm benannten Zyklus von Stalin ermordet. – Der daraus über die letzten circa 200 Jahre resultierende Breitenwohlstand ist historisch einzigartig. Teil daran hat nur, wer in einer „offenen Gesellschaft“ (Karl Popper) lebt, die Krisen zulässt.
Fünf lange Wachstumszyklen lassen sich seit Ende des 18. Jahrhunderts feststellen: Die von der Dampfmaschine ausgelöste Welle, auf welche Stahl und Eisenbahn als neue Technologie folgten. Sie wurden von Chemie und Elektrifizierung abgelöst, bevor sich Petrochemie und das Automobil durchsetzten. Die bisher letzte Welle wurde von Informationstechnologie und Kommunikation geprägt. Alle diese neuen Wachstumswellen wurden von Krisen abgebrochen, bevor der neue Aufschwung aus ihnen hervorging: Sei es die Panik von 1837, die Gründerkrise des späten 19. Jahrhunderts, die große Depression der 1930er Jahre oder auch die beiden Ölpreiskrisen der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Die „schöpferische Zerstörung“, wie es der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter ausdrückte, stand immer am Beginn des Neuen.
Interessant dabei: Schon Nikolai Kondratieff stellte fest, dass ein langer Wachstumszyklus, der Wirtschaft und Gesellschaft durchdringt und verändert, eine Reifephase durchschreitet, an Kraft verliert und in der Krise endet. Mit dem Aufschwung des nächsten Zyklus wird diese Krise durchschritten und überlebt. Voraussetzung dafür sind neue Basisinnovationen, die durch eine wachsende Nachfrage nach diesen Schlüsseltechnologien in die Breite getragen werden.2 Die Nachfrage wiederum wird getrieben vom Engpassfaktor „Produktivität“. Erst wenn dieser Engpassfaktor überwunden ist, können neue Produktivitätsgewinne freigesetzt werden.
Das Finanzkapital förderte diese Umbrüche und führte am Ende zu Fehlinvestitionen. Es suchte nach Rendite, die es in den satten Industrien nicht mehr fand.3 Blasen waren und sind die Folge. So stand nach dem Platzen der Investitionsblase Kapital für die neuen Industrien bereit.
Kommt uns das nicht bekannt vor? Hat nicht auch die bisher letzte große Welle, die mit der Informationstechnologie einhergeht, ihren Scheitelpunkt erreicht und kollabierte – an den Kapitalmärkten besonders deutlich erkennbar – zum Jahrtausendwechsel als TMT-Blase (Telekommunikation, Medien, Technologie)? Eine Erschütterung mit Nachbeben. Aus der Retroperspektive müssen die ineinander verketteten Krisen der letzten Dekade als faktisch eine Krise gesehen werden.
Über den Tellerrand hinaus gedacht ist wohl auch die jetzige Krise die Geburtsstunde einer neuen Wachstumswelle. Sie birgt die schöpferische Kraft der Zerstörung.
Was mag die dann 6. Kondratieff-Welle prägen? Wie für eine Kondratieff-Welle typisch wird sie von den größten volkswirtschaftlichen Engpassfaktoren geprägt sein. Im Zeitalter knapper Rohstoffe und Energie und in einer Zeit, in der Umwelt selbst zum knappen Gut geworden ist, geht es um die Steigerung der Effizienz bei der Nutzung dieser knappen Güter. Es geht um die „Energieproduktivität“ (Ernst Ulrich von Weizsäcker) und die Rohstoffproduktivität. Das heißt in aller Konsequenz: Die Energieund Rohstoffpreise können steigen, ohne dass dies die Wirtschaft belastet, weil die Produktivität mit den Preisen steigt. Einen kleinen Vorgeschmack darauf gibt mir die LED-Glühbirne, die ich in diesen Tagen eingeschraubt habe. Energieersparnis: 90 Prozent. Effizienzsteigerung: Faktor 10.
Krisen – die schöpferische Kraft der Zerstörung
Keine Prognose für die Wertentwicklung einer Fondsanlage Quelle: Robert J. Shiller, Daten aus „Irrational Exuberance“ Princeton University Press, 2005; Datastream; Darstellung: Allianz GI Kapitalmarktanalyse
Knappes Gut „Umwelt“
Ja, die Umwelt selbst ist ein knappes Gut geworden. Sie kann nicht mehr kostenlos verbraucht werden – das hätte ohnehin nie geschehen dürfen. Das bedeutet, ihre Nutzung – zum Beispiel in Form des CO2-Ausstoßes – muss sich in den Kosten / Preisen niederschlagen. Ernst Ulrich von Weizsäcker hat Recht, wenn er fordert, dass Preise nicht nur die ökonomische, sondern auch die „ökologische Wahrheit“ sagen müssen.
Der Klimawandel ist der finale, unüberhörbare „Wake-up-Call“ für diese ökonomische Wahrheit. Der Handlungsdruck, der von ihm ausgeht, wird die Wirtschaft verändern und in eine neue Wachstumsphase führen. Dieses Wachstum wird anders sein als das bisherige. Gerade der Umstieg auf erneuerbare Energien zeigt, Wachstum wird weniger verbrauchend als vielmehr regenerierend. Stichwort: Nachhaltigkeit. Noch weiter über den Tellerrand hinaus geblickt: Mit Bezug auf unseren Planeten Erde verändert es sich vom parasitären Wachstum zum symbiotischen. Die Basistechnologien für diesen Wandel, wie sie Kondratieff einfordern würde, sind größtenteils bereits vorhanden. Die „offene Gesellschaft“ ist ein notwendiger Faktor, dass es dazu kommt.
Entscheidender Einblick:
Als Investoren mit längerfristiger Perspektive sollten wir die Welt durch die Augen Schumpeters und Kondratieffs sehen und über die Krise hinausblicken. Der neue Wachstumszyklus zeichnet sich bereits ab.
Entscheidende Einblicke für vorausschauende Anlagestrategien! Wir sind überzeugt: Nur wer heute schon versteht, wie sich unser Leben in Zukunft entwickelt, kann vorausschauend investieren. Allianz Global Investors ist mit fachübergreifenden Kompetenzteams und Spezialisten global vertreten. Ausführliche Informationen erhalten Sie unter www.allianzglobalinvestors.de.
Der obige Text spiegelt die Meinung des jeweiligen Kolumnisten wider. Die finanzen.net GmbH übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche Regressansprüche aus.