Das Dilemma der Notenbanken
Selten war das Risiko so groß wie heute, dass die Notenbanken die wirtschaftliche Entwicklung falsch einschätzen und gravierende Fehler machen. Die Corona-Pandemie und ihre Folgen sind ohne Beispiel, es gibt daher keine statistischen Vergleiche aus der Vergangenheit.
Die Strukturen der Wirtschaft haben sich seit Mitte 2020 rasant verändert. Tatsächlich ähnelt die heutige Situation der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Jom-Kippur-Krieg im Jahr 1973 und dem darauffolgenden Ölpreisschock. Die falschen Einschätzungen damals sorgten dafür, dass der Preisschub aus den Energiemärkten die generelle Inflationsdynamik erst richtig in Gang setzte.
Wie muss die Geldpolitik also jetzt gestaltet werden? Ein wissenschaftlich anerkannter Gradmesser für den angemessenen Leitzins ist der sogenannter Taylor Zins, benannt nach dem US Ökonomen John Taylor. Anfang der 90er Jahre war es ihm gelungen, mit einer einfachen Theorie die Geldpolitik der Notenbanker transparenter zu machen. Er wies nach, dass sich die Inflation nur dann wirksam bekämpfen lässt, wenn sich der Zins über der Inflationsrate bewegt. Einfach ausgedrückt: stiege die Inflation um einen Prozentpunkt, müsste dies mit einem Zinsanstieg von 1,5 Punkten beantwortet werden. In die von ihm entwickelte Formel fließen Inflationsrate, Wechselkurs und Bruttosozialprodukt der jeweiligen Volkswirtschaft mit ein. Im Gegenzug sollte der Leitzins sinken, wenn das tatsächliche Wirtschaftswachstum unterhalb Potenzialwachstums zu liegen droht. Soweit die Theorie.
Notenbankpolitik seit 2008 auf anderen Wegen
Leider jedoch sind die Notenbanken, seit der Bekämpfung der Finanzkrise 2008 in ein völlig anderes Fahrwasser geraten. Ihre Politik des billigen Geldes befeuerte die unterschiedlichsten Vermögenspreisblasen. Kaum jemandem bereitete diese Fehlsteuerung größere Sorgen - die Inflationsraten blieben ja niedrig. Verantwortlich dafür war vor allem der Wettbewerbsdruck in der globalisierten Wirtschaft. Die Notenbanken konnten ihre lockere Geldpolitik fortführen, obwohl es klar war, dass wir uns schon längere Zeit im roten Bereich befanden. Die jetzt erfolgten Zinserhöhungen werden ihre volle Wirkung erst nach zwei bis drei Quartalen entfalten. Ein Übersteuern würde die Wirtschaft in eine noch stärkere Rezession führen, als wir sie jetzt erwarten.
Inflationserwartung wird ausschlaggebend
Das vorerst wichtigste sind die Inflationserwartungen von Unternehmen und Haushalten. Erwarten sie steigende Preise, schrauben Arbeitskräfte ihre Lohnforderungen nach oben, was wiederum die Preise treibt. Eine Lohn-Preis Spirale droht. Umso wichtiger ist das psychologische Signal der EZB, dass sie die Zinsen weiter anhebt, die Inflation also konsequent bekämpfen wird, auch wenn es zu einer Rezession kommt. Wenn es der EZB gelingt, dass sich hohe Inflationserwartungen nicht verstetigen, wird es 2023 zu einem spürbaren Rückgang der Inflation kommen.
Fazit: Die Notenbanken sind mittlerweile in einem Paradigmenwechsel angekommen. Die Theorien, an denen bislang gearbeitet wurde, sind von der Marktentwicklung eingeholt worden. Speziell für die EZB gilt, sie muss durch deutlich verschärfte Worte den Märkten klar machen, dass die Währungsstabilität ihr wichtigstes Ziel ist. Ein moderat weiter steigender Zins ist der einzige Handlungsspielraum, um die Inflationserwartungen für 2023 in den Griff zu bekommen. Ein zögerliches Handeln wird das Dilemma nur verschärfen.
von Wolfgang Köbler, KSW Vermögensverwaltung AG, Nürnberg
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