Streit um Termine in Deutschlands Arztpraxen
BERLIN (dpa-AFX) - Für die mehr als 70 Millionen gesetzlich Versicherten versprechen Parteien wie CDU und SPD zur Bundestagswahl schnellere Arzttermine. Die Spitze der Kassenärztinnen und -ärzte in Deutschland wehrt sich allerdings gegen entsprechende Vorschläge. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, sprach in der "Rheinischen Post" von "populistischem Blödsinn". Gassen musste dafür heftige Kritik einstecken.
Der KBV-Chef hatte sich bezogen auf das Bundestagswahl-Versprechen der SPD, eine garantierte Termingarantie einzuführen. Bei dem Streit geht es um die seit Jahren beklagten langen Wartezeiten gesetzlich Versicherter vor allem auf Facharzttermine und im Vergleich zu Privatversicherten.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz warf manchen Kassenärztinnen und -ärzten Rosinenpickerei und der KBV Untätigkeit vor. Manche Praxen benachteiligten Kassenpatienten, ohne dass dies aufgedeckt werde, sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch an die Adresse der KBV. "Rosinenpicker werden nicht identifiziert".
Verbesserungsvorschlägen der Parteien
Zur Bundestagswahl am 23. Februar versprechen Parteien wie etwa die SPD, CDU/CSU oder Grüne Verbesserungen. "Die Beschäftigten und ihre Familien brauchen Verlässlichkeit im Alltag, Erleichterungen wie zum Beispiel eine Termingarantie beim Arzt und eben einen Staat, der einfach funktioniert", heißt es im Programmentwurf der SPD. Auch SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte die Terminverteilung ungerecht genannt.
CDU/CSU versprechen: "Wir entwickeln die Haus- und Kinderarztpraxen innovativ weiter. Sie soll eine stärkere Steuerungsfunktion der Patienten übernehmen, um zu einer besseren Koordination der Behandlungsabläufe beizutragen und die Wartezeiten auf Arzttermine zu senken." Auch die Grünen wollen Missstände beheben: "Zu wenig Kitapersonal und
-plätze, die aufwendige Suche nach einem Arzttermin oder langwierige
Behördengänge machen das Leben anstrengend und kompliziert."
Selbstzahlende bei der Terminvergabe "bevorzugt"
Brysch sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Der KV-Vorsitzendende kann nicht davon ablenken, dass Selbstzahler bei der Terminvergabe klar bevorzugt werden." Medizinische Gründe gebe es nicht.
KBV-Chef Gassen argumentiert, Hausärzte hätten Akut-Sprechzeiten, bei Fachärzten müsse man die Kirche im Dorf lassen. Im internationalen Vergleich seien die Wartezeiten kurz. Patienten hätten freie Arztwahl. "Der Preis dafür ist, dass sie bei gefragten Ärzten Wartezeiten in Kauf nehmen", sagte Gassen. Notfälle würden sofort versorgt. Die SPD hätte die Praxen von Bürokratie befreien können, so Gassen weiter. "Jetzt mit einer Termingarantie, die niemals umsetzbar sein würde, vom eigenen Regierungsversagen ablenken zu wollen, ist durchschaubar und etwas armselig."
Kassen: Buchungsportale zeigen die Wahrheit
Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV), der auf die Situation aufmerksam gemacht hatte, reagierte knapp. "Beim Klicken auf Online-Buchungsportale kann jeder PKV oder GKV anklicken und so selbst überprüfen, ob die Terminvergabe fair und gleich ist oder nicht", sagte Verbandssprecher Florian Lanz.
Brysch bezeichnete das Problem als "noch größer". Nicht alle Praxen seien online überhaupt erreichbar. Die KBV stelle keine Transparenz her. Daten fehlten. Brysch: "Dabei hat sie den Sicherstellungsauftrag." Hierbei handelt es sich um den gesetzlichen Auftrag an die KBV, die Versorgung der gesetzlich Versicherten sicherzustellen.
Brysch sagte, die Kassenärztlichen Vereinigungen könnten ein Auseinanderklaffen zwischen privat und gesetzlich unterbinden. Die gängige Praxis schädige den Ruf vieler engagierter Ärztinnen und Ärzte. "Doch weder die Angebote der Notfallsprechstunden, die Erreichbarkeit noch die Präsenzzeiten der rund hunderttausend Praxen werden von der Lobby der Kassenärzte überprüft." Der Patientenschutz-Vorstand forderte deshalb eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Qualitätsüberprüfungen.
Was könnte ein Ausweg sein?
Auf einen möglichen Ausweg wies der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, hin. Heutige Schwächen des Systems bekämen zunehmend auch Privatpatientinnen und -patienten zu spüren, sagte Reinhardt dem Deutschlandfunk. Eines der Hauptprobleme sei, dass die Terminvergabe völlig unkoordiniert passiere. Dies könnte gelöst werden, wenn die Menschen sich zunächst an einen dauerhaft behandelnden Arzt wandten und dieser dann über die weitere Behandlung entscheide, so der Ärztepräsident.
Damit wies Reinhardt etwa auf Hausarzt-Modelle hin, wie sie Krankenkassen bereits seit Jahren praktizieren. Die AOK in Baden-Württemberg gilt hier als ein Vorreiter. Reinhardt forderte solche Strukturen als verbindlich.
Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, kritisierte im MDR, gesetzlich Versicherte würden häufig auf das nächste Quartal vertröstet. Das Budget der Praxen werde zum Teil zu schnell verbraucht. Privatversicherte seien von diesem Problem nicht betroffen. Bentele forderte eine "Krankenversicherung, in die alle einzahlen".
In Deutschland werden nach Angaben des Kassenverbands rund 73 Millionen Versicherte von einer gesetzlichen Kasse versorgt - rund 90 Prozent der Bevölkerung. Die privaten Krankenversicherungen hatten nach Angaben ihres Verbands (PKV) im Jahr 2023 insgesamt gut 8,7 Millionen Vollversicherungen./bw/vrb/DP/he