Sputnik-Moment"

Russland lässt als weltweit erstes Land Corona-Impfstoff zu und nennt ihn 'Sputnik V' - Zweifel seitens Experten

11.08.20 17:02 Uhr

Russland lässt als weltweit erstes Land Corona-Impfstoff zu und nennt ihn 'Sputnik V' - Zweifel seitens Experten | finanzen.net

Russland hat als erstes Land der Welt einen Impfstoff gegen das Coronavirus für die breite Anwendung in der Bevölkerung zugelassen.

"Das russische Vakzin gegen das Coronavirus ist effektiv und bildet eine beständige Immunität", sagte Kremlchef Wladimir Putin am Dienstag im Staatsfernsehen. Es trägt den Namen "Sputnik-V" und soll an den ersten Satelliten im All erinnern, den die Sowjetunion 1957 vor den USA gestartet hatte. Die Registrierung des neuen Wirkstoffes sei am Dienstagmorgen erfolgt, hieß es. Doch wichtige Tests stehen noch aus, weder die Wirksamkeit noch die Nebenwirkungen lassen sich derzeit fundiert beurteilen.

Eine seiner beiden Töchter habe sich schon impfen lassen, sagte Putin. Bei ihr seien nach der ersten Injektion 38 Grad Fieber gemessen worden, das aber rasch wieder gesunken sei. "Sie fühlt sich gut." Der Impfstoff wurde vom staatlichen Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau entwickelt. Weltweit gibt es mittlerweile mehr als 170 Projekte, bei denen unter Hochdruck nach Corona-Impfstoffen gesucht wird.

Den russischen Wirkstoff haben erst wenige Menschen im Rahmen einer Studie erhalten. Eine Zulassung vor dem Vorliegen der Ergebnisse großer klinischer Studien widerspricht dem international üblichen Vorgehen. So stellte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Vorfeld klar: "Jeder Impfstoff muss natürlich alle Versuchsreihen und Tests durchlaufen, bevor er genehmigt und ausgeliefert wird." Es gebe klare Richtlinien für die Entwicklung von Impfstoffen.

Putin hatte im Frühjahr Druck gemacht, dass Russland schnell einen eigenen Impfstoff entwickele. Der Chef des russischen Investmentfonds sprach kürzlich von einem "Sputnik-Moment": "Die Amerikaner waren überrascht, als sie Sputniks Piepen hörten. Mit diesem Impfstoff ist es genauso. Russland wird ihn als erstes haben", sagte Kirill Dmitrijew dem US-Sender CNN. Sein vom Kreml gegründeter Fonds finanziert die Produktion und Entwicklung des Impfstoffs.

International warnen Experten vor zu großer Eile. "Auch in der aktuellen Pandemiesituation ist es zwingend erforderlich, dass alle Prüfungen und Bewertungen mit der gleichen Sorgfalt erfolgen wie bei anderen Impfstoffen", mahnte Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts im hessischen Langen. Zugelassen werden sollte ein Präparat nur dann, "wenn der gezeigte Nutzen mögliche Risiken deutlich überwiegt". Bei dem Impfstoff in Russland lässt sich dies bislang nicht bewerten.

Russland hatte im Frühjahr eine klinische Studie mit dem Impfstoff in einer internationalen Datenbank registrieren lassen, damals noch als "Gam-Covid-Vac Lyo" bezeichnet. Es handelt sich um einen sogenannten Vektorimpfstoff. Dabei transportieren harmlose Viren Teile des Erbguts von Erregern in den Körper. Dieser bildet im Idealfall dann Antikörper und setzt andere Abwehrmechanismen in Gang.

Der Impfstoff sei bislang an 50 Soldaten und Zivilisten getestet worden, die sich freiwillig gemeldet hätten, hieß es. Doch die viel entscheidendere Phase ist die nächste Etappe, bei der an weitaus größeren Probandengruppen überprüft wird, ob ein Wirkstoff tatsächlich vor einer Infektion schützt und welche Nebenwirkungen auftreten. Dem Gesundheitsministerium in Moskau zufolge soll eine solche Phase-III-Studie mit etwa 2000 Freiwilligen parallel mit der Zulassung des Präparats beginnen.

Die Bevölkerung soll unterdessen schon geimpft werden - zunächst Ärzte und Lehrer, nach Behördenangaben noch im August oder ab September. Die Genehmigung soll den Angaben nach vorläufig sein. Sie könne zurückgenommen werden, wenn der entwickelte Impfstoff am Ende nicht die gewünschte Wirkung hat.

"Eine reguläre Zulassung ohne die umfangreichen Daten aus einer Phase-III-Prüfung mit mindestens mehreren Tausend Probanden sollte mit Vorsicht betrachtet werden", sagte Cichutek der Deutschen Presse-Agentur. Bei den regulären Prüfungen könnten auch mögliche seltene Nebenwirkungen entdeckt werden. In Deutschland und der EU sei eine Zulassung erst nach Vorlage aussagekräftiger Sicherheits- und Wirksamkeitsdaten üblich.

Laut einer Liste der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Montag werden derzeit sechs Impfstoff-Kandidaten in einer Phase-III-Studie getestet - russische Präparate zählen nicht dazu. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erinnerte aber auch daran, dass Russland eine "ausgezeichnete Tradition" bei der Herstellung und Anwendung von Impfstoffen habe. Die WHO stehe in engem Kontakt mit den russischen Gesundheitsbehörden, sagte eine Sprecherin auf Anfrage. Es liefen Gespräche über eine mögliche "strenge Überprüfung" aller gesammelten Daten über den Wirkstoff.

"Ich denke nicht, dass dieser Impfstoff besser oder schlechter ist als die anderen Kandidaten", hatte Stephan Becker von der Universität in Marburg kürzlich der "Süddeutschen Zeitung" gesagt. Der Virologe geht demnach davon aus, dass die meisten der jetzt entwickelten Vakzine eine Wirkung haben werden - offen sei aber, wie stark sie sein wird. "Dass ein Impfstoff vollständig schützt, also eine Infektion verhindert, ist eher die Ausnahme." Es werde schon schwierig sein, einen Kandidaten zu finden, der einen schweren Verlauf von Covid-19 abwenden kann.

Nur ein gut wirksamer Impfstoff kann Experten zufolge letztlich eine rasche deutliche Wende in der Corona-Pandemie bringen, ohne dass strenge Lockdown-Regeln nötig sind. Die Zahl weltweit bekannter Corona-Infektionen stieg zuletzt innerhalb von weniger als drei Wochen von 15 Millionen auf über 20 Millionen. Das ging am Montag aus Daten der Universität Johns Hopkins in Baltimore hervor. Besonders betroffen sind neben den USA, Brasilien und Indien derzeit auch Länder wie Russland, Südafrika und Mexiko.

Virologe zu russischem Corona-Impfstoff: Daten für Beurteilung fehlen

Der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit hat sich angesichts der Zulassung eines ersten Impfstoffes gegen das Corona-Virus in Russland skeptisch gezeigt. "Ich sehe die Zulassung sehr, sehr zurückhaltend. Es gibt bislang keine publizierten Daten zu dem Impfstoff - das ist schon mal eine ganz große Schwierigkeit", sagte Schmidt-Chanasit am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. Bislang habe noch kein Wissenschaftler den Impfstoff unabhängig beurteilen können.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am Dienstag die weltweit erste staatliche Zulassung eines Impfstoffs zur breiten Verwendung gegen das Corona-Virus bekanntgegeben. Die Zulassung erfolgte vor dem Vorliegen der Ergebnisse großer klinischer Studien - ein Vorgehen, das dem international üblichen Ablauf widerspricht. Erst wenige Menschen haben den Impfstoff im Rahmen einer Studie erhalten.

Weltweit geltende Standards für Studien und Testungen von Impfstoffen nach Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) müssten unbedingt eingehalten werden, mahnte Schmidt-Chansit. Etwa werden in der sogenannten Phase III größere Tests zur Wirkung am Menschen mit mehreren Tausend Probanden gemacht. "Es ist ganz wichtig, dass man auf jeden Fall einen sicheren Impfstoff einsetzt und auch weiß, wo möglicherweise Nebenwirkungen liegen", sagte der Virologe vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin.

Sollte sich ein Impfstoff als weniger effektiv herausstellen, bestehe die Gefahr, dass es zu "gegenteiligen Effekten" komme - etwa einer Impfmüdigkeit in der Bevölkerung. Dies sei zuletzt etwa bei einem Impfstoff gegen das Dengue-Fieber auf den Philippinen der Fall gewesen. "Die Bevölkerung hatte da zu Recht kein Vertrauen mehr in den Impfstoff und sich wie Versuchskaninchen gefühlt", sagte Schmidt-Chanasit. Durch den Vertrauensverlust seien dann Impfungen insgesamt zurückgegangen - etwa gegen Polio oder Masern.

Früherer FDA-Chef in den USA stellt russischen Impfstoff in Frage

Renommierte Mediziner in den USA haben vor einem am Dienstag in Russland zugelassenen Corona-Impfstoff gewarnt. "Aktuell würde ich ihn nicht nehmen, ganz sicher nicht außerhalb einer klinischen Versuchsreihe", sagte Scott Gottlieb, der frühere Chef der Behörde für Lebensmittel und Arzneimittel-Sicherheit (FDA), am Dienstag im US-Fernsehen.

Anscheinend sei das Medikament in Russland bisher nur an einigen Hundert Patienten getestet worden, so Gottlieb. "Sie sind uns sicher nicht voraus und wir würden zum jetzigen Zeitpunkt keinen Impfstoff zur breiten Verteilung freigeben." Gottlieb ist ein konservativer TV-Kommentator und hatte die FDA von 2017 bis 2019 geleitet.

"Niemand weiß, ob es sicher ist oder ob es funktioniert. Sie bringen die Mitarbeiter im Gesundheitswesen und ihre Bevölkerung in Gefahr", schrieb Florian Krammer, ein Virologe am New Yorker Krankenhaus Mount Sinai, bei Twitter.

Russland hatte am Dienstag als erstes Land der Welt einen Impfstoff gegen das Coronavirus für die breite Anwendung in der Bevölkerung zugelassen. Wichtige Tests stehen noch aus, weder die Wirksamkeit noch die Nebenwirkungen lassen sich derzeit fundiert beurteilen.

Bundesministerium zurückhaltend bei russischem Impfstoff

Nach der von Russland bekanntgegebenen Zulassung eines Corona-Impfstoffes hat sich das Bundesgesundheitsministerium zurückhaltend geäußert. "Zur Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des russischen Impfstoffs sind hier keine Daten bekannt", sagte eine Sprecherin dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Mittwoch). "Die Zulassung eines Impfstoffs in Europa setzt neben dem Nachweis der pharmazeutischen Qualität hinreichende Erkenntnisse aus klinischen Prüfungen zum Beleg von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit voraus." Es müsse ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis des Stoffes nachgewiesen werden, bevor er in der Breite angewendet werden könne.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am Dienstag die weltweit erste staatliche Zulassung eines Impfstoffs bekanntgegeben. Er wurde vom Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau entwickelt. Erst wenige Menschen haben ihn im Rahmen einer Studie erhalten. Eine Zulassung vor Vorliegen der Ergebnisse großer klinischer Studien widerspricht dem international üblichen Vorgehen.

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MOSKAU (dpa-AFX)

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