Kanzleramt hatte mehrfach Kontakte zu Wirecard
Der Betrugsskandal bei Wirecard droht für die Bundesregierung immer ungemütlicher zu werden.
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Am Mittwoch wurde bekannt, dass das Kanzleramt mehrmals Kontakt mit Wirecard-Managern und Beratern hatte - dazu gehörte auch der Ex-Geheimdienstkoordinator der Regierungszentrale. Neben den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Manager des insolventen DAX-Konzerns richtet sich der Blick auf die Frage: Was hat die Regierung wann gewusst - und was hat sie unternommen oder unterlassen? Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags rückt näher. Innerhalb der Koalition ist ein Streit über Verantwortlichkeiten ausgebrochen.
Wirecard hatte im vergangenen Monat zuerst Luftbuchungen in Höhe von mutmaßlich 1,9 Milliarden Euro eingeräumt und wenig später Insolvenz angemeldet. Am kommenden Mittwoch stellen sich Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) Fragen des Finanzausschusses. Ein Überblick:
KANZLERAMT
Am Mittwoch legte das Bundeskanzleramt Karten auf den Tisch. Die Regierungszentrale hatte seit Ende 2018 mehrmals Kontakt mit Wirecard-Managern und Beratern - überraschend tauchte dabei auch der Name Klaus-Dieter Fritsche auf. Fritsche war im Kanzleramt von 2014 bis zum Frühjahr 2018 Staatssekretär und zuständig für die Geheimdienste.
Fritsche wandte sich nach Angaben eines Regierungssprechers am 13. August 2019 an das Kanzleramt und bat um einen Gesprächstermin für die Wirecard AG bei Merkels Wirtschaftsberater Lars-Hendrik Röller am 11. September 2019. Zur Vorbereitung bat das Kanzleramt beim Finanzministerium um Informationen zum Unternehmen. Das Ressort von Scholz schickte dann "öffentlich verfügbare Informationen" ans Kanzleramt - darunter Antworten der Regierung auf Anfragen der Opposition, bei denen es um Vorwürfe gegen Wirecard ging, etwa zu Unregelmäßigkeiten bei der Rechnungslegung.
Fritsche sagte dem "Spiegel", im Sommer 2019 habe ihn ein Freund gefragt, ob er für Wirecard einen Kontakt zum Kanzleramt organisieren könne. "Da es eins von nur vier Dax-Unternehmen aus Bayern ist, habe ich zugesagt und einen Termin mit Herrn Röller angefragt." Weiter sagte er: "Wir haben ganz zivil geredet, es wurden keine Hilfe aus dem Kanzleramt oder gar der Kanzlerin selber eingefordert." Danach sei er nicht mehr für Wirecard tätig geworden.
Auch Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg machte Lobbyarbeit für Wirecard und hatte im Zusammenhang mit einer China-Reise von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Kontakt zum Kanzleramt. Auf der Reise im September 2019 sprach Merkel das Thema der geplanten Übernahme des chinesischen Unternehmens AllScore Financial durch Wirecard an. Merkel habe zum Zeitpunkt der Reise "keine Kenntnis von möglichen schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei Wirecard" gehabt, so der Sprecher. Die Regierung setze sich in ihren bilateralen Kontakten mit anderen Ländern regelmäßig auch für die wirtschaftlichen Interessen deutscher Firmen in diesen Ländern ein.
Weiter hieß es, in einem Telefonat mit Röller habe der inzwischen zurückgetretene Wirecard-Vorstandschef Markus Braun am 20. Mai 2020 den Vorwurf der Bilanzfälschung zurückgewiesen und vollständige Aufklärung zugesichert. Linke-Fraktionsvize Fabio De Masi sagte zu den neuen Details: "Die Affäre Wirecard wird immer undurchsichtiger."
FINANZMINISTERIUM:
Im Fokus steht auch das Finanzministerium. Einer Aufstellung zufolge traf sich Finanzstaatssekretär Jörg Kukies am 5. November 2019 mit dem Wirecard-Chef Braun zu einem persönlichen Gespräch - an Brauns Geburtstag. Kukies habe den Manipulationsverdacht angesprochen sowie die Sonderprüfung einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, so das Ministerium.
Finanzminister Scholz wurde am 19. Februar 2019 darüber unterrichtet, dass die Finanzaufsicht Bafin den Fall Wirecard wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Verbot der Marktmanipulation untersuche. Scholz sagte der "Zeit", er sei mit einer Vorlage über den Sachstand unterrichtet worden, der bereits weitgehend öffentlich bekannt gewesen sei. Es sei etwa darum gegangen, dass die Bafin von der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung eine Prüfung des Halbjahresabschlusses von Wirecard verlangt habe, um Vorwürfe gegen das Unternehmen aufzuklären. Wirecard sei seit fast zehn Jahren von einem großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen geprüft worden, ohne dass dabei Erkenntnisse über die Unregelmäßigkeiten zutage gefördert worden wären.
Der Finanzminister hat angekündigt, Versäumnisse aufzuklären, außerdem will er Reformen. Der "Zeit" sagte er, die Bafin solle mehr in Richtung der amerikanischen Finanzaufsicht SEC gehen, die umfassendere Befugnisse habe. Außerdem sollen Wirtschaftsprüfer bei Unternehmen häufiger wechseln.
Oppositionspolitiker hatte Scholz bereits aufgefordert spätestens bei der Sondersitzung des Finanzausschusses alle Fakten auf den Tisch zu legen, auch angesichts von vielen geschädigten Anlegern.
WIRTSCHAFTSMINISTERIUM:
Die SPD wirft Altmaier vor, zu wenig zur Aufklärung beizutragen - beim Wirtschaftsministerium aber sei die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer angesiedelt. Das kann als Versuch gewertet werden, Scholz zu schützen - der als möglicher Kanzlerkandidat der SPD gilt.
Eine Sprecherin Altmaiers hatte gesagt: "Alle beteiligten Stellen sind aufgefordert, die unsäglichen Vorfälle bei Wirecard aufzuklären, das gilt selbstverständlich auch für alle betroffenen Bundesressorts." Allerdings lägen Regelungen für die Wirtschaftsprüfer und die Anforderungen an die Prüfungen in der Zuständigkeit des Justizministeriums - das wiederum ist SPD-geführt. Die Abschlussprüferaufsichtsstelle APAS sei hingegen eine unabhängige berufsrechtliche Aufsicht über Wirtschaftsprüfer.
Regierungssprecherin: Vorgehen im Fall Wirecard "völlig üblich"
Die Bundesregierung hat das Verhalten von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Zusammenhang mit dem mittlerweile insolventen Zahlungsabwickler Wirecard verteidigt und eine "umfassende Aufklärung" zugesagt. Es sei ein "völlig übliches Vorgehen", dass Merkel im Rahmen einer China-Reise im September 2019 über Wirecard gesprochen habe, sagte Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer bei einer Pressekonferenz in Berlin. Merkel hatte damals laut Regierung keine Kenntnis von möglicherweise schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei Wirecard.
"Von dem Bilanzskandal ist die Kanzlerin Ende Juni informiert worden", sagte Demmer. Am 30. Juni habe es dazu eine Leitungsvorlage gegeben. Es habe "sicherlich Berichterstattung über Verdachtsmomente und Unregelmäßigkeiten" gegeben. "Die kommen ja vor, nicht nur bei einem Unternehmen, sondern hin und wieder auch bei anderen Unternehmen", sagte sie. "Verdacht kann kein Argument sein vorzuverurteilen, ganz generell", stellte sie aber klar. Die Kanzlerin sei im Juni "im Rahmen der Aufklärungsarbeit" informiert worden.
Ein Gespräch des Leiters der Wirtschaftsabteilung im Kanzleramt, Lars-Hendrik Röller, mit dem ehemaligen Beauftragen für die Nachrichtendienste des Bundes, Klaus-Dieter Fritsche, in der Funktion als Berater von Wirecard am 11. September 2019 wertete die Vize-Regierungssprecherin als "Teil des demokratischen Willensbildungsprozesses mit Interessenvertretern". Röller habe zur Vorbereitung auf das Gespräch mit drei Personen Informationen im Finanzministerium angefordert.
Hätte man den heutigen Kenntnisstand über den Bilanzbetrug gehabt, hätte Röller Merkel warnen müssen, räumte die Sprecherin ein. "Stand heute, wenn wir das gewusst hätten, was wir heute wissen, von einem Bilanzskandal, der zu einer Insolvenz eines Dax-Konzerns geführt hat, wäre das so", sagte Demmer. "Aber der Stand damals war ein anderer." So erkläre sich "das völlig übliche Vorgehen in diesem Fall".
Opposition übt scharfe Kritik
Das Kanzleramt sei am 23. August auf Arbeitsebene auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen worden, sagte der Sprecher des Finanzministeriums bei derselben Veranstaltung dazu. An der Stelle müsse man aber "zwei Ebenen" unterscheiden. "Es ging um Hinweise, denen wurde nachgegangen, und über diesen Stand wurde informiert", sagte Ministeriumssprecher Dennis Kolberg. "Was heute bekannt ist, das war nicht der damalige Erkenntnisstand", hob aber auch er hervor.
Die Opposition übte scharfe Kritik. "Der Wirecard-Skandal wirkt immer ominöser, mitunter geradezu surreal", sagte Grünen-Finanzsprecher Danyal Bayaz. Es seien Kanzleramt, Ministerien, Behörden, ehemalige Minister, hochrangige Berater des Kanzleramts und ein Geheimdienst-Koordinator involviert. "Die Bundesregierung steht in der Pflicht, diesen Fall schleunigst so aufzuklären, dass keine Frage offen bleibt." Dazu müssten auch Vertreter des Kanzleramtes in der Sondersitzung des Bundestags-Finanzauschusses am nächsten Mittwoch erscheinen.
"Die Affäre Wirecard wird immer undurchsichtiger", meinte auch Linke-Fraktionsvize Fabio De Masi. Sollte sich Fritsche vor der Chinareise der Kanzlerin an das Kanzleramt gewandt und das Finanzministerium Informationen zugeliefert haben, dann sei es "fragwürdig, dass die Arbeitsebene des Kanzleramtes die Bundeskanzlerin nicht zu Wirecard informiert haben soll".
Es sei bedauerlich dass die große Koalition den Antrag abgelehnt habe, dass zumindest die Leitung des Kanzleramtes in der Sondersitzung des Finanzausschusses zu Wirecard erscheine. "Dies bestätigt meine Auffassung, dass wir die Aufklärung über einen Untersuchungsausschuss erzwingen müssen", erklärte De Masi.
BERLIN (dpa-AFX)/BERLIN (Dow Jones)
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