Kopf der Woche

Foodwatch-Gründer: "Das ist kein freier Markt mehr"

13.09.10 06:00 Uhr

Noch nie waren Lebensmittel so gut wie heute? Von wegen! Thilo Bode, Gründer der Organisation Foodwatch, seziert die ausgebufften Strategien der Lebensmittelkonzerne.

von Martin Blümel, Euro am Sonntag

Thilo Bode ist furchtbar in Eile. Sein neues Buch erscheint dieser Tage, und so hetzt der Chef der unabhängigen Verbraucherorganisation Foodwatch von Termin zu Termin. „Die Essensfälscher“ heißt das Werk. Am Pranger stehen die Lebensmittelmultis – Nestlé, Danone, Carlsberg und Co. „Wir werden beim Einkaufen nach Strich und Faden belogen“, sagt Bode. Im Konferenzzimmer im vierten Stock eines sanierten Industriegebäudes in Berlin-Mitte kommt der ehemalige Greenpeace-Chef in Fahrt.

€uro am Sonntag: Ich habe gerade eine Limo getrunken. 21 Prozent Fruchtanteil, Zitronensaftkonzen­trat, Zitronensäure und natürliches Aroma. Klingt ganz vernünftig.
Thilo Bode: Na ja. Generell ist es bei Lebensmitteln doch so, dass sich die Bezeichnung der Zutaten für den Verbraucher nicht unmittelbar erschließt. Natürliches Aroma – das kann mithilfe von Bakterien aus Holzabfällen hergestellt werden. Zitronensäure wird chemisch hergestellt und auch für Abflussreiniger verwendet. Die Limo ist ein typischer Fall: eine Kombination aus irreführender Information über vermeintlich natürliche Aromen und einen Zusatzstoff, der gesundheitlich zumindest höchst umstritten ist.

Und schon sind wir bei Ihrem neuen Buch. Sie schreiben, die Lebensmittelkonzerne betreiben Verbrauchertäuschung.
Ja, und zwar bewusst. In den Industrieländern hat die Lebensmittelindustrie im wahrsten Sinn des Wortes Sättigungsgrenzen erreicht. Mehr essen, als der Magen fasst, können wir alle nicht. Was macht also ein Lebensmittelkonzern, der wachsen muss, der kapitalmarktorientiert ist? Er erfindet neue Geschäftsfelder und beackert die mit immensem Werbeaufwand, um mehr Kundennachfrage zu schaffen. Etwa durch Functional Food, Produkte mit Gesundheitszusatznutzen, wie das so schön heißt. Oder durch das Biosegment, das regelrecht gekapert wird, um fragwürdige Produkte unter die Leute zu bringen.

Durchschaut der Verbraucher das nicht? Nach einer Nestlé-Studie sind 85 Prozent mit ­ihrer Ernährung unzufrieden.
Das geht ja noch weiter. Laut Allensbach fürchten mehr als die Hälfte der Befragten, sie bekämen beim Einkaufen nicht das, was sie zu kaufen glauben. Das steht im krassen Gegensatz zu den Aussagen der Industrie, dass die Konsumenten zufrieden sind. Im Vertrauen, nach dem dritten Glas Rotwein, da sagt ein Konzernchef schon mal, er möchte die Kinder ja nicht dick machen. Aber die öffentliche Debatte wird vermieden.


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Ich mach’ mich trotzdem mal zum Advokaten der Industrie. Unilever, Cadbury, Danone scheinen sich doch ändern zu wollen. Alle verstärken ihre Biosparten.
Na ja, Biosparte. Daimler verkauft ja auch einen Smart. Wo ist der Unterschied? Nestlé sponsert das „Lesefrühstück“ der Stiftung Lesen und wirbt gleichzeitig für Frühstücksflocken mit über 30 Prozent Zucker; Ferrero sponsert das Sportabzeichen für Kinder und verkauft gleichzeitig Nahrungsmittel, die durch den hohen Zuckeranteil eigentlich Körperverletzung sind. Bio und diese Kampagnen sind alles nur Ausweichstrategien. Die Industrie hat doch ganz bewusst die Einführung der Lebensmittelampel bekämpft, weil die Ampel entlarvt hätte, wie zuckrig oder salzig ihre wichtigsten Produkte wirklich sind. Actimel von Danone etwa ist dreimal so teuer wie normale Joghurts, dafür aber weit zuckriger. Das ist ein Milliarden-Umsatzbringer. Hier geht es nur ums Geschäft.

Ist Bio dann nur ein Deckmäntelchen?
Zumindest ist es ein Lockmittel, um Bioklientel zurück in den normalen Supermarkt zu locken. Gleichzeitig besetzt man eine lukrative Nische. Die Biolimonade Beo Heimat Apfel & Birne von Carlsberg, die weder einen Apfel noch eine Birne je gesehen hat, war eine absolute Verbrauchertäuschung, die aber legal war, weil die EU-Richtlinien eingehalten wurden. Ich sehe bei den Unternehmen keinerlei seriöse Transforma­tionsstrategien. Aber wer will sich schon zulasten des Profits freiwillig ändern? Das macht die Finanzin­dustrie genauso wenig wie die Nahrungsmittelbranche.

Nestlé ist einer der schlimmsten Täuscher
Wer sind die schlimmsten Täuscher?
Alle gleich schlimm. Ferrero ist bei Süßigkeiten absoluter Spitzenreiter. Aber auch Nestlé tut sich hervor. Wenn ich mir die Kalorienbombe Cini-Minis-Frühstücksflocken anschaue und weiß, dass Nestlé über ihre Leseförderung gleichzeitig richtiges Frühstücken fördern will, dann ist das zynisch. Kinder sollten doch besonders geschützt werden. Es geht nicht, dass sie durch Beigabe von Spielzeug oder das Sammeln von Bonuspunkten zum maßlosen Schokoladeessen verführt werden.

Was hilft da? Mehr staatliche Einmischung?
Der Staat hat sich mit der Rolle des Dienstleisters für die Industrie abgefunden. Das Staatsverständnis ist wohl, dass man die Wirtschaft im globalen Wettbewerb zu unterstützen hat. Die Industrie setzt auf allen politischen Ebenen zulasten des Allgemeinwohls ihre Interessen durch. Der Entwurf für das See­hofer’sche Verbraucherinformationsgesetz wur­de ja praktisch von der ­Lebensmittelindustrie geschrieben. Kein Wunder, dass das Gesetz nicht funktioniert. Es enthält keine effektive Verpflichtung der Behörden, die Auskunftswünsche der Bürger zu ­erfüllen. Die schwarzen Schafe der Branche dürfen sich weiter verstecken.

Haben wir ein Lobbyproblem?
Wir haben einen Staat, der nicht mehr in der Lage ist, den Industrieinteressen zugunsten der Rechte der Konsumenten Paroli zu bieten. Es geht darum, welches Leitbild wir wollen: den Verbraucher, der sich gefälligst selbst zu informieren hat, der selbst zu lernen hat, wie er mit irreführender Werbung umgehen soll – die Industrie geht ja so weit zu sagen, man müsse die Werbekompetenz der Kinder erhöhen. Oder wollen wir das andere Leitbild? Einen Verbraucher, der vertrauensvoll einkaufen kann, ohne Spezialist zu sein, und der vor Gesundheitsgefahren geschützt wird. Der Staat ist hier im Diskurs mit der Industrie viel zu schwach. Wir helfen ihm da gern. Nur hat der Staat das wohl noch nicht verstanden.

Kommt denn die Lebensmittelampel noch?
Langfristig gibt es keine Al­ternative zu einer für jeden verständlichen Nährwertkennzeichnung, und da ist die Ampel bisher das beste Modell. Das Problem bleibt ja: Wir haben ernährungsbedingt gravierende Gesundheitsprobleme – Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck. 70 Milliarden Euro Kosten jährlich. Durch eine vernünftige Kennzeichnung der Lebensmittel könnte man da schon eine ganze Menge machen.

Und was ist mit der Idee des Functional Food?
Die Nahrungsmittelindustrie würde ja allzu gern ihre Produkte auch als Medikamente verkaufen. So wie die Firma Danone das mit dem Drink Actimel macht, dessen Werbung suggeriert, Actimel schütze vor Erkältungen. Die EU-Lebensmittelbehörde prüft zurzeit rund 4000 Anträge auf die Zulassung spezifischer gesundheitsbezogener Werbeaussagen. Aber selbst wenn diese Prüfung streng ist und wirklich nur behauptet werden darf, was tatsächlich nachgewiesen wird, bleiben doch noch diese ganzen vagen Gesundheitsversprechen, zum Beispiel die Aussage, der Kinderquark Monsterbacke sei „so wichtig wie das tägliche Glas Milch“ oder im Ferrero-Kinderriegel stecke eine „Extra-Portion Milch“. Verschwiegen wird aber, dass ein Kind, um den täglichen Kalziumbedarf zu decken, so viele Kinderriegel essen müsste, dass es gleichzeitig das Äquivalent von 48 Stück Würfelzuckern zu sich nähme.

Ob’s hilft? Nestlé erwartet, dass Functional Food bald 50 Prozent des Lebensmittelmarkts ausmacht. Haben wir bald Lebensmittel mit Beipackzettel?
Die Entwicklung ist furchtbar. Sie führt weg von einem Essen, wie wir es uns vorstellen. Die Nahrungsmittel verändern sich ja auch schleichend, das merkt man kaum. Die Aromatisierung, Zusatzstoffe und Geschmacksverstärker, die teilweise nicht einmal deklarationspflichtig sind. Gar nicht zu reden vom Einsatz von Nanotechnologie bei der Herstellung von Nahrungsmitteln. Es gibt neue Nanopartikel, deren Wirkung noch gar nicht abzusehen ist. Die Lebensmittelindustrie ist immer einen Schritt voraus.

Einige kooperieren ja schon mit Pharmafirmen.
Ja. Nestlé hat einen Anteil an L’Oréal erworben, um gemeinsam nach Nahrungsergänzungsmitteln zu forschen. Kooperationen finden oft auch auf einer sehr praktischen Ebene statt. Danone legt Actimel-Gutscheine in Arztpraxen aus. Eine Entwicklung, die uns gar nicht gefällt. Die Gefahren von Functional Food sind doch offensichtlich: Wer legt die Dosierung von Margarine mit Zusatznutzen fest, wenn ich damit den hohen Cholesterinspiegel senken will?

Da vergeht einem fast die Lust am Essen.
Ich versuche es damit, mehr selbst zu kochen. Das ist ein guter Ansatz, wenn man denn die Zeit dafür hat. Ich lasse mir aber im Wirtshaus schon auch mal einen guten Schweinebraten schmecken.

Vita Thilo Bode
Essensretter
Thilo Bode (53) studierte Soziologie und Volkswirtschaft. 1989 wurde er Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, 1995 von Greenpeace International. 2002 gründete er in Berlin die Verbraucher­organisation Foodwatch, die er heute leitet. Thilo Bode ist Autor mehrerer Bücher. Dieser Tage erscheint „Die Essensfälscher. Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen“ (Fischer Verlag).