Mehr als 65 Milliarden Euro: Koalition beschließt drittes Entlastungspaket - Reaktionen auf Entlastung weit auseinander
Zur Abfederung steigender Lebenshaltungskosten stockt die Bundesregierung die Finanzmittel erheblich auf.
Die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat sich auf ein drittes Entlastungspaket im Umfang von etwa 65 Milliarden Euro geeinigt. Es ist damit mehr als doppelt so groß wie die ersten beiden Pakete mit ihren zusammen rund 30 Milliarden Euro. "Deutschland steht zusammen in einer schwierigen Zeit", erklärte Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag bei der Vorstellung der Ergebnisse im Berliner Kanzleramt. "Wir werden als Land durch diese schwierige Zeit kommen."
Die Spitzen von SPD, Grünen und FDP hatten etwa 18 Stunden lang bis zum Sonntagmorgen über Details verhandelt. Neben Scholz nahmen unter anderem Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) an den Beratungen teil.
Eine durchverhandelte Nacht später steht ein Paket, "von dem man durchaus sagen kann, dass es wuchtig ist", wie Lindner zufrieden anmerkt - denn das hatte er vorher ebenso wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich gefordert. Grünen-Chef Omid Nouripour lobt das Werk als "substanziell und rund". Die Grünen können insbesondere auf Geld für den Nahverkehr und Unterstützung für Menschen mit wenig Geld verweisen. Der SPD sind die gezielten Entlastungen für Rentner und Studierende wichtig. Die FDP wiederum verbucht Unterstützung für Lindners neueste Steuerpläne auf der Haben-Seite.
Die Reaktionen auf das Paket fielen kontrovers aus. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger kritisierte es etwa als enttäuschend: "Die Ausweitung des Sozialstaates kann keine Antwort auf eine Kosten-Steigerung der Energiepreise auf dem Weltmarkt sein." DGB-Chefin Yasmin Fahimi bezeichnete das Paket dagegen als "insgesamt beeindruckend".
Nahverkehr soll günstig bleiben
Das 9-Euro-Ticket soll einen bundesweit gültigen Nachfolger bekommen, und zwar in der Preisspanne von 49 bis 69 Euro pro Monat. Der Bund will 1,5 Milliarden Euro dafür zuschießen, wenn die Länder mindestens ebenso viel zahlen.
Rentner und Studierende bekommen Unterstützung
Beim letzten Paket gab es viel Kritik daran, dass Rentnerinnen und Rentner sowie Studierende zu kurz gekommen seien. Rentner sollen nun zum 1. Dezember eine einmalige Energiepreispauschale von 300 Euro erhalten. Studierende und Berufsfachschülerinnen und -schüler sollen eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro erhalten.
Gegenmittel zu steigenden Energiepreisen
Privathaushalte sollen die Strommenge für einen Basisverbrauch zu einem vergünstigten Preis erhalten. Für kleine und mittlere Unternehmen mit Versorgertarif soll dies auch gelten. Auch die für den Strompreis relevanten Netzentgelte sollen bezuschusst werden. Der CO2-Preis, der Heizen und Tanken im Sinne des Klimaschutzes teurer macht, soll im nächsten Jahr nicht wie geplant um fünf Euro auf 35 Euro pro Tonne steigen, sondern erst 2024.
Hilfen für Wohngeldbezieher und Geringverdiener
Wer Wohngeld bekommt, soll im Herbst einen einmaligen Heizkostenzuschuss erhalten, für einen Ein-Personen-Haushalt sind es 415 Euro. Bei der zum Jahresbeginn geplanten Wohngeldreform soll der Zuschuss zur dauerhaften Komponente werden, zudem der Kreis der Wohngeldberechtigten erweitert werden. Bedürftige sollen mit der für 1. Januar geplanten Weiterentwicklung des heutigen Hartz-IV-Systems zu einem Bürgergeld um 50 Euro höhere Regelsätze erhalten - etwa 500 Euro monatlich. Die Berechnung der Sätze soll außerdem künftig nicht mehr der Preissteigerung hinterherhinken, sondern die erwartete Inflation vorwegnehmen.
Beschäftigung knapp über der Mini-Job-Schwelle mit geringeren Sozialbeiträgen soll erleichtert werden. Die sogenannten Midi-Jobs sollen künftig monatlich bei bis zu einem Verdienst von 2000 Euro liegen können.
Steuerentlastungen
48 Millionen Bürgerinnen und Bürger sollen bei der Steuer entlasten werden. Dazu soll an Stellschrauben des Einkommensteuertarifs gedreht werden. Steuererhöhungen infolge der Inflation sollen verhindert werden. Denn durch die sogenannte kalte Progression droht vielen Menschen unter anderem, dass ihre Kaufkraft trotz Gehaltserhöhungen sinkt.
Familien profitieren
Das Kindergeld soll zum 1. Januar um 18 Euro monatlich für das erste und zweite Kind angehoben werden. Die Erhöhung soll für 2023/2024 gelten. Heute beträgt das Kindergeld 219 Euro für das erste und zweite Kind. Beim Kinderzuschlag für Familien mit niedrigem Einkommen soll der Höchstbetrag ab 1. Januar auf 250 Euro monatlich steigen.
Hilfen für Unternehmen
Energieintensive Unternehmen, die Kostensteigerungen nicht weitergeben können, sollen mit einem neuen Programm unterstützt werden. Bestehende Unternehmenshilfen unter anderem mit zinsgünstigen Krediten und erweiterten Bürgschaften sollen bis 31. Dezember verlängert werden. Geprüft werden Schritte für Unternehmen, die aufgrund von Gasmangel und hoher Energiepreise die Produktion zeitweise einstellen müssen.
Wo das Geld herkommen soll
Ungefähr die Hälfte, nämlich 32 Milliarden Euro, kommt laut Finanzminister Lindner aus den Bundeshaushalten des laufenden und des kommenden Jahres. Und zwar, wie er betont, ohne dass ein Nachtragshaushalt für 2022 oder die Aufweichung der Schuldenbremse, die der Neuverschuldung des Bundes enge Grenzen setzt, im kommenden Jahr nötig sei. Auch die Einnahmen aus der Abschöpfung von "Zufallsgewinnen" von Energieeinnahmen durch extrem hohe Strompreise sollen in Entlastungen fließen. Hinzu kommen laut Lindner höhere Steuereinnahmen sowie Vorsorge, die schon im Haushalt getroffen worden sei.
So zufrieden sich die Ampel-Vertreter mit den Ergebnissen zeigten, so mühsam war wohl der Weg mit etwa 18 Stunden Verhandlungen, die Grünen-Chef Nouripour als "zeitweilig aufreibend" beschrieb. "Alle mussten einen weiten Weg gehen für einen großen Sprung." Der Weg führte wie auch schon beim ersten Entlastungspaket durch eine lange Nacht, in der keine Details den Weg in die Öffentlichkeit fanden. Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) twitterte am Sonntagmorgen: "Schlaf wird überbewertet...".
Bund-Länder-Gipfel soll Kosten des dritten Entlastungspakets klären
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will mit den Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer über die Finanzierung des neuen Entlastungspaketes sprechen. Scholz sei "in die Terminfindung" für eine Sonder-Ministerpräsidentenkonferenz eingestiegen, um möglichst schnell ins Gespräch mit den Ländern zu kommen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin. Aus Bundesländern wurde vor massiven Kosten gewarnt. Der Bund der Steuerzahler (BdSt) forderte vor den am Dienstag beginnenden Beratungen zum Bundeshaushalt ein Bekenntnis zur Schuldenbremse und gab zu bedenken, es könne eine "wuchtige Rechnung" folgen.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagte mehreren Medien: "Wenn die Länder mit bezahlen sollen, müssen sie auch mit entscheiden können." Dieses Paket müsse "endlich mal sitzen und Rentnerinnen und Rentner, Studierende und Sozialleistungsempfänger und kleine und mittlere Einkommen sowie energieintensive Wirtschaft effektiv entlasten." SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sprach von einer "gesamtstaatlichen Verantwortung". Er sagte vor einer Fraktionssitzung im Bundestag: "Das kann nur eine Kraftanstrengung von allen sein."
Die Ampel-Koalition hatte am Vortag ein drittes Maßnahmenpaket als Ausgleich für die rasant steigenden Preise vorgestellt. Die Bundesregierung schätzt den Umfang auf etwa 65 Milliarden Euro. Es umfasst unter anderem Direktzahlungen für Rentner und Studenten, Steuererleichterungen und eine Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung sowie des Kindergelds. Geplant ist auch eine Strompreisbremse für einen gewissen Basisverbrauch. Zudem strebt die Ampel einen bundesweit gültigen Nachfolger für das 9-Euro-Ticket im Nahverkehr an, und zwar in der Preisspanne von 49 bis 69 Euro pro Monat. Der Bund will 1,5 Milliarden Euro dafür zuschießen, wenn die Länder mindestens ebenso viel zahlen.
Auf Twitter schrieb Finanzminister Christian Lindner (FDP), man arbeite an Schätzungen zu den Entlastungen: Eine vierköpfige Familie mit 31 000 Euro Jahreseinkommen werde um 1500 Euro entlastet, bei 66 000 Euro Einkommen seien es 1000 Euro. "Das zeigt: Die Maßnahmen wirken nicht nur z.B. bei der Grundsicherung, sondern auch in der "arbeitenden Mitte"", so Lindner.
Der Bund der Steuerzahler erklärte, nach den bisher vorliegenden und noch unvollständigen Angaben würde eine Doppelverdienerfamilie mit 60 000 Euro Jahreseinkommen im kommenden Jahr 432 Euro mehr Kindergeld erhalten und 342 Euro weniger Einkommensteuer als derzeit zahlen. Zu berücksichtigen sei jedoch, dass eine Kindergelderhöhung im Zuge der verfassungsrechtlich gebotenen Anhebung des Kinderfreibetrags ohnehin anstehe. Ähnlich geboten seien steuerliche Entlastungen im Zuge des Abbaus der kalten Progression. Die geplanten Eckpunkte würden der tatsächlichen Inflation nicht annähernd gerecht. Zudem: "Die Ampel hat eine Großbestellung auf Rechnung aufgegeben. Doch sie verliert kein Wort darüber, wann und wie die wuchtige Rechnung bezahlt wird", teilte BdSt-Präsident Reiner Holznagel mit.
Die CDU kritisierte die geplanten Entlastungsschritte als unzureichend. Das Paket werde der Krise nicht gerecht, sagte CDU-Generalsekretär Mario Czaja. Eine Entlastung von Normalverdienern der gesellschaftlichen Mitte sei nicht erreicht worden, auch nicht für mittelständische Betriebe. Angesichts eines drohenden Energiemangels fehlten außerdem Aussagen zum Angebot wie etwa zu einer Verlängerung der Atomkraftnutzung.
Heftige Kritik an den Beschlüssen kam von Linken und AfD. Linke-Chef Martin Schirdewan kritisierte die geplanten Einmalzahlungen als Stückwerk. Nötig seien kontinuierliche Zuschüsse für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen. Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte mit Blick auf die anstehenden Beratungen des Bundeshaushalts im Parlament: "Wir werden sowohl in der anstehenden Haushaltswoche hier im Deutschen Bundestag, aber auch auf den Straßen und Plätzen gegen diese Entscheidung der Ampel protestieren." Er sei der festen Überzeugung, dass Druck von der Straße helfen könne. Die Partei- und Fraktionschefs der AfD, Alice Weidel und Tino Chrupalla, kritisierten das verabredete Entlastungspaket scharf. Chrupalla sagte, die Politik der Bundesregierung werde scheitern und nicht über den Winter führen.
Der Bundestag beginnt am Dienstag seine Beratungen über den Haushalt für das kommende Jahr. In der Haushaltswoche werden bis Freitag die Etats der einzelnen Ministerien diskutiert. Am Mittwoch kommt es bei der Beratung des Etats des Kanzleramts zur sogenannten Generaldebatte mit Kanzler Olaf Scholz (SPD). Der Etat sieht Ausgaben von 445,2 Milliarden Euro vor - deutlich weniger als in den vergangenen Jahren, als die Haushalte noch stärker von Wirtschaftshilfen in der Corona-Pandemie geprägt waren.
Reaktionen auf Entlastung weit auseinander
Zahlreiche Expertinnen und Experten sowie Verbände haben das geplante dritte Entlastungspaket der Ampel-Koalition grundsätzlich gelobt. An Kritik mangelt es aber trotzdem nicht: Industrie und Handwerk zeigten sich enttäuscht darüber, dass es in dem Paket vor allem um die Entlastung privater Haushalte geht. Manchen Sozialverbänden gehen diese Entlastungen dagegen nicht weit genug. Klimaschützer bezeichnen das Paket als "fatales Signal"
Von Ökonomen wie der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm gab es zwar auch Kritik, aber eher an Einzelmaßnahmen - und auch dann oft nur daran, dass es noch an konkreten Plänen mangelt. Die gezielte Unterstützung für besonders belastete Gruppen sei aber richtig, sagte Grimm der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Ifo-Präsident Clemens Fuest sprach in der "Bild" von "Licht und Schatten" in dem Paket. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW),?Marcel Fratzscher, lobte in der "Augsburger Allgemeinen" einzelne Elemente, übte aber vor allem Kritik. "Die Bundesregierung bleibt bei der wichtigsten Herausforderung, der Begrenzung von Strom- und Gaspreisen, eine Lösung schuldig", so der DIW-Chef. Die geplante Strompreispreisbremse sei "völlig unausgegoren", werde erst in Monaten umgesetzt werden können und folge dem Prinzip Hoffnung.
Deutliche Kritik kam auch von Arbeitgeberverbänden: Das Paket sei "enttäuschend", sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Es sei zwar richtig, dass die Bundesregierung soziale Härten auffange. Der Regierung fehle jedoch offensichtlich der Mut für eine neue Energiepolitik. "Die Ausweitung des Sozialstaates kann keine Antwort auf eine Kosten-Steigerung der Energiepreise auf dem Weltmarkt sein."
Industrie und Handwerk kritisierten derweil vor allem, dass es in dem Paket nur wenige Hilfen für Unternehmen gebe. Die Unterstützung privater Haushalte sei gesamtwirtschaftlich sicherlich richtig, sagte Peter Adrian, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), der "Rheinischen Post". "Die Ausführungen zu den unternehmensbezogenen Maßnahmen bleiben hingegen weitgehend unkonkret - und sind daher nicht der angekündigte "wuchtige" Wurf."
Enttäuscht zeigte sich auch Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer. Es sei nicht nachzuvollziehen, dass mögliche Entlastungen für Handwerksbetriebe erst zeitverzögert angegangen werden, sagte er. "Denn Zeit haben wir nicht: Uns erreichen inzwischen mehr und mehr existenzielle Notrufe von Betrieben, die unmittelbar Hilfe brauchen." Hier hätte es deutlich stärkere, direkte und schnellere Unterstützung gebraucht.
Positiver ist das Echo der großen Gewerkschaften. Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi bezeichnete das Paket als "insgesamt beeindruckend". "Die guten Absichten jetzt schnell in konkrete und überzeugende Gesetzgebung zu überführen, bleibt nun die zentrale Aufgabe." Nur dann werde es gelingen, Menschen Sicherheit zu geben. Verdi-Chef Frank Werneke kritisierte das Fehlen weiterer direkter Zahlungen für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. "Hochverdiener werden durch die Steuerpläne stattdessen mit bis zu 1000 Euro entlastet."
Ähnlich lautet auch die Kritik der Sozialverbände: Der SoVD bezeichnete die Unterstützung für Rentnerinnen und Rentner als "überfällig" - es fehle aber an Unterstützung für Menschen mit kleinem Einkommen, die kein Wohngeld erhalten. "Da reichen die 300 Euro Energiepauschale nicht. Wir brauchen ein Inflationsgeld", sagte die SoVD-Vorsitzende Michaela Engelmeier. Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, sagte, mit dem Paket würden vor allem Fehler des vergangenen Entlastungspakets korrigiert. Es würden aber keinerlei zusätzliche zielgerichteten Hilfen für die Ärmsten in der Grundsicherung auf den Weg gebracht.
Heftige Kritik kam auch von der Umweltschutzorganisation WWF. Das Paket sei kontraproduktiv für die Einhaltung der Klimaziele", sagte Viviane Raddatz, Bereichsleitern für Klima- und Energiepolitik beim WWF. "Preisdeckel wie die angekündigte Strompreisbremse setzen keine Einsparanreize und senden ein fatales Signal für die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung beim Klimaschutz. Ebenso wie die ausgesetzte CO2-Preisanhebung."
BERLIN (dpa-AFX) / Dow Jones Newswires
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