Wirecard-Aktie hebt ab: Wirecard kündigt Vertrag mit Ex-Chef außerordentlich - Zahlungsdienste in Großbritannien wieder erlaubt - Weitere Klage gegen EY
Der von einem Bilanzskandal erschütterte Zahlungsdienstleister Wirecard darf sein Geschäft in Großbritannien wieder aufnehmen.
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Die Finanzmarktaufsicht FCA gab am späten Montagabend grünes Licht für den Münchener Konzern, elektronische Zahlungen in Großbritannien wieder abzuwickeln. Die Kunden könnten ihre Karten wie üblich nutzen, so die Behörde. Die FCA wolle die Geschäfte von Wirecard eigenen Angaben zufolge aber genau im Auge behalten.
Die Finanzmarktaufsicht hatte vergangenen Freitag der Wirecard Card Solutions Ltd mit sofortiger Wirkung alle regulierten Aktivitäten untersagt. Zudem hatte die FCA ein Verbot ausgesprochen, Gelder und Vermögenswerte zu verschieben. Der Wirecard-Mutterkonzern hatte am Donnerstag einen Insolvenzantrag gestellt.
Weitere Klage gegen Wirecard-Abschlussprüfer EY und Ex-Chef Braun
Die Anwaltskanzlei Tilp hat ihre Schadensersatzklage gegen Wirecard auf den Wirtschaftsprüfer Ernst & Young (EY) und frühere Vorstände des zusammengebrochenen Zahlungsabwicklers ausgeweitet.
"Vom zumindest bedingt vorsätzlichen Verhalten der neuen Beklagten sind wir überzeugt", erklärte Rechtsanwalt Andreas Tilp am Dienstag. Neben EY, die jahrelang die Bilanzen von Wirecard geprüft haben, verklagen die Anwälte Ex-Wirecard-Chef Markus Braun, den ehemaligen Vorstand Jan Marsalek sowie den noch amtierenden Finanzchef Alexander von Knoop.
Tilp hatte bereits Mitte Mai - lange vor der Insolvenz von Wirecard - am Landgericht München Klage eingereicht gegen den Konzern und ein Musterverfahren beantragt. Mehr als 30.000 Anleger hätten sich bereits an die Tübinger Anwaltskanzlei gewandt, die auch gegen den Autobauer VW wegen des Dieselskandals juristisch vorgeht. Bei einem Musterverfahren handelt es sich um eine Art Sammelklage, bei der einer im Namen von vielen klagt.
Wirecard hatte eingeräumt, dass in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro fehlen und wenige Tage später Insolvenz angemeldet. Die Abschlussprüfer von EY hatten den Ball ins Rollen gebracht, weil sie bei der Durchsicht von Dokumenten für die Bilanz 2019 auf Unregelmäßigkeiten gestoßen waren. Den Wirtschaftsprüfern wird aber vorgeworfen, nicht schon früher Alarm geschlagen zu haben - sie prüfen die Wirecard-Bilanzen seit vielen Jahren.
Wirecard wird wohl auch Fall für Wiener Staatsanwälte
Im Wirecard-Bilanzskandal haben die ehemaligen Vorstände des insolventen Zahlungsdienstleisters nun auch in Österreich eine Anzeige am Hals.
Bei der Wiener Staatsanwaltschaft wurde eine Anzeige wegen des Verdachts der Marktmanipulation und des schweren Betrugs eingebracht, sagte ein Sprecher der Behörde am Dienstag zur Nachrichtenagentur Reuters. Die Anzeige richte sich gegen Ex-Wirecard-Chef Markus Braun und das frühere Vorstandsmitglied Jan Marsalek, der Medienberichten zufolge derzeit per Haftbefehl gesucht wird. Beide Beschuldigten sind Österreicher. Die Kanzlei von Marsaleks Anwalt wolle sich nicht dazu äußern. Brauns Anwalt war zunächst für eine etellungnahme nicht zu erreichen.
Ob die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnehmen wird, steht derzeit noch nicht fest. Es sei aber davon auszugehen, dass der Fall an die Wirtschaft- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKSta) weitergegeben wird, sagte der Sprecher der Behörde.
Eingebracht wurde die Strafanzeige am Montag vom Wiener Anwalt Jörg Zarbl, der vor allem einen Aktienkauf von Braun als problematisch erachtet, wie er zu Reuters sagte. Braun hatte Mitte Mai Wirecard-Aktien für 2,5 Millionen Euro erworben und damit der Aktie zu einem Kurssprung verholfen. Laut Zarbl habe der frühere Wirecard-Chef etwa zeitgleich einen Kredit über 120 Millionen Euro aufgenommen sowie zwei österreichische Immobilien belehnt. Das hätten Recherchen in den Grundbüchern ergeben, sagte Zarbl. "Aus meiner Sicht wäre hier zur prüfen, ob man nicht mit Absicht positive Signale an den Markt setzen wollte".
Auch die deutsche Finanzaufsicht BaFin nimmt den Aktienkauf wegen eines möglichen Verstoßes gegen Insiderhandels-Vorschriften unter die Lupe. Brauns Investmentvehikel - die MB Beteiligungsgesellschaft - erklärte, die kapitalmarktrechtlichen Vorgaben seien uneingeschränkt eingehalten worden.
Berliner Solarisbank an Wirecard-Kunden interessiert
Die mit einer frischen Finanzierungsrunde gestärkte Berliner Solarisbank zeigt Interesse an Kunden des insolventen Zahlungsabwicklers Wirecard.
"Wir verstehen das Geschäft wahrscheinlich besser als jeder andere im Markt", sagte Solarisbank-Chef Roland Folz am Dienstag der Nachrichtenagentur Reuters. "Gern sprechen wir mit einigen der Kunden und vielleicht auch Angestellten und schauen, wie wir ihnen mit unserer Plattform helfen können." Zu der Frage, ob die Solarisbank auch Teile des insolventen DAX-Konzerns wie die Wirecard Bank AG übernehmen könnte, wollte sich Folz nicht konkret äußern. Er betonte in diesem Zusammenhang, man wolle sich auf das eigene Wachstum konzentrieren.
Für das laufende Jahr rechnet Folz, der lange für die Deutsche Bank arbeitete, mit einem Umsatzwachstum zwischen 60 und 80 Prozent. "Wachstum ist aktuell wichtiger als Gewinn", fasste Folz zusammen. Das 2016 gegründete Startup, das über eine eigene Banklizenz verfügt, hat eine Plattform aufgebaut, an die sich andere Unternehmen anbinden können, um selbst Anbieter von Finanzdienstleistungen zu werden. Inzwischen zählt die Firma mehr als 400.000 Endkundenkonten. In der Corona-Krise stemmten die Berliner eine neue Finanzierungsrunde.
"Die 60 Millionen Euro, die wir eingenommen haben, sind deutlich mehr als ursprünglich angepeilt", sagte Strategiechefin Layla Qassim und kündigte an, das Geld vor allem in die europäische Expansion zu stecken. Die Runde wurde von Finanzinvestor HV Holtzbrinck Ventures angeführt. Auch Bestandsinvestoren wie die spanische Großbank BBVA und das niederländische Geldhaus ABN Amro beteiligten sich. Inzwischen wird die Solarisbank mit 320 Millionen Euro bewertet.
Wirecard-Kollaps würde Handel nicht in größerem Ausmaß treffen
Ein Ende des Betriebs bei dem von einem Bilanzskandal erschütterten Zahldienstleister Wirecard würde den deutschen Einzelhandel wohl nicht in größerem Ausmaß treffen. Das seit Montag unter Regie des vorläufigen Insolvenzverwalters stehende Unternehmen hat nach Daten des Handelsforschungsinstituts EHI Retail Institute nur einen relativ geringen Marktanteil bei Kreditkartenzahlungen.
Für die Girocard als meist genutztes bargeldloses Zahlungsmittel habe Wirecard keine Netzbetreiberlizenz, sagte Horst Rüter, Leiter des Forschungsbereichs Zahlungssysteme und Mitglied der Geschäftsleitung. Auch bei elektronischen Lastschriftverfahren sei Wirecard nicht vertreten, sagte Rüter am Dienstag auf Anfrage.
Zahlungen per Kreditkarte dagegen laufen durchaus über Wirecard. Doch spielen Kreditkarten laut EHI bei den Zahlungsarten im Einzelhandel mit einem Anteil von 7,6 Prozent eine untergeordnete Rolle - und Wirecard hat in dieser Hinsicht ohnehin keine dominante Rolle.
"Wirecard ist nicht unter den größten Anbietern", sagte Rüter. "Der Anteil von Wirecard ist deutlich unter fünf Prozent." Mehrere Konkurrenten sind demnach deutlich größer, darunter Concardis, Payone und Wordline. Insolvenz beantragt hat bisher die Muttergesellschaft Wirecard AG, ausgenommen bleiben soll die Wirecard-Bank.
"Sowohl größere als auch kleinere Händler sind Kunden bei Wirecard", schrieb Birgit Janik, Leiterin Steuern, Finanzen und Controlling beim E-Commerce-Verband BEVH, in ihrer Antwort auf eine dpa-Anfrage. Demnach zieht der Insolvenzantrag von Wirecard im Handel Fragen und Herausforderungen nach sich - insbesondere für den Fall, dass der Insolvenzantrag mangels Masse abgelehnt werden sollte. "In diesem Fall haben die Händler keinen Vertragspartner mehr für den Zahlungsverkehr und die vereinbarten Zahlarten."
Im Gegensatz zum stationären Handel sei es im Onlinehandel häufiger üblich, mit mehreren Zahlungsdienstleistern zusammenzuarbeiten. "Auch die Umstellung auf einen anderen Dienstleister kann sehr kurzfristig erfolgen", schrieb Janik auf Anfrage.
Wirecard kündigt Vertrag mit Braun außerordentlich
Der Aufsichtsrat von Wirecard hat den Anstellungsvertrag des früheren Vorstandschefs Markus Braun außerordentlich gekündigt. Das teilte der in einen Bilanzskandal verwickelte Zahlungsabwicklungskonzern am Dienstag mit. Braun war wegen des Skandals am 19. Juni zurückgetreten. Wenige Tage später wurde er festgenommen, kam dann aber gegen Kaution wieder auf freien Fuß. I
Wirecard mit weiteren Kurskapriolen
Wild hin und her ging es auch am Dienstag für die Aktien von Wirecard. Die Papiere des in seiner Existenz bedrohten Zahlungsabwicklers kletterten im XETRA-Handel im Hoch bis auf 9,20 Euro. Zum Handelsende kosteten sie noch 5,73 Euro und damit 75,77 Prozent mehr als am Vortag. Die Anteile des von einem Bilanzskandal erschütterten Unternehmens werden immer mehr zu einem kurzfristigen Spekulationsobjekt. Am vergangenen Freitag hatten sie nur noch gut einen Euro gekostet.
Bereits am Montag konnten sie sich dann zwischenzeitlich mehr als verdreifachen - nach fast 99 Prozent Wertverlust binnen weniger Handelstage allerdings. Zum Vergleich: Vor gut zwei Monaten hatten die Aktien noch über 140 Euro gekostet und am Rekordhoch Anfang September 2018 kurz vor dem DAX-Aufstieg waren 199 Euro gezahlt worden.
Nach dem Insolvenzantrag des Konzerns in der Vorwoche stellte sich nun die Nordamerika-Tochter Wirecard North America selbst zum Verkauf und die britische Finanzaufsicht FCA will dem Unternehmen den Fortgang der Geschäfte erlauben. Am Freitag hatte die FCA die örtliche Tochter Wirecard Card Systems stillgelegt und jegliche Transfers von Geldern und Vermögenswerten verboten.
Der Rauswurf von Wirecard aus dem DAX dürfte nach dem Quasi-Totalverlust spätestens im September erfolgen zur nächsten regulären Index-Überprüfung durch die Deutsche Börse. Nicht wenige Marktexperten schütteln darüber den Kopf und fordern den "Fast Exit", also den schnellen Ausschluss aus dem Leitindex. "Absurd, kein gutes Zeichen für die Aktienkultur hierzulande", so der Tenor.
Die Deutsche Börse reagierte am Vortag und kündigte eine Überarbeitung ihres Regelwerks für eine DAX-Mitgliedschaft an. Schneller ging der Rauswurf für Wirecard aus dem gesamteuropäischen Stoxx Europe 600: Ab diesem Dienstag sind sie darin nicht mehr enthalten.
Die heftigen Kurskapriolen der Wirecard-Aktie haben kaum noch fundamentale Gründe, sondern sind vielmehr ein Beleg dafür, dass das Papier auf niedrigem Niveau vor allem von Spekulanten gekauft wird, die auf eine rasche Erholung setzen und dann ebenso schnell wieder Kasse machen.
Von Adria Calatayud
(Dow Jones / Reuters / dpa-AFX)
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