Boris Johnson hält Einigung bis zum EU-Gipfel für möglich
Im Brexit-Streit betont der britische Premierminister Boris Johnson die Chancen für einen neuen Deal mit der Europäischen Union.
"Ich glaube leidenschaftlich, dass wir das schaffen können", meinte Johnson kurz vor seinem Treffen mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker am Montag in Luxemburg. Juncker sagte beim Hineingehen einem ZDF-Team zu seinen Erwartungen an das Gespräch: "Ich verliere nie die Geduld." Konkrete Lösungsansätze sieht die EU aber bisher nicht.
Johnson und Juncker trafen sich zu einem Arbeitsessen - das erste direkte Gespräch der beiden, seit Johnson im Juli Premierminister wurde. Der britische Brexit-Beauftragte Stephen Barclay und EU-Unterhändler Michel Barnier waren dabei. Johnson hat für 15.15 Uhr eine Pressekonferenz angekündigt.
Der Premier will bis zum EU-Gipfel am 17. Oktober Änderungen am fertigen EU-Austrittsabkommen durchsetzen, was die EU bislang ablehnt. Sollte keine Einigung gelingen, droht Johnson mit einem ungeregelten Brexit am 31. Oktober - und das, obwohl das britische Parlament keinen No Deal will. Ein jüngst verabschiedetes Gesetz verpflichtet den Premierminister, eine weitere Verschiebung zu beantragen, sollte nicht rechtzeitig ein Abkommen ratifiziert sein. Johnson will sich dem nicht beugen.
Auch die Wirtschaft dringt auf einen geordneten Ausstieg. Der europäische Unternehmerverband BusinessEurope warnte für den Fall eines ungeregelten Brexits vor einem Desaster und forderte dringend, ein solches Szenario auszuschließen.
Johnson schrieb in der britischen Zeitung "Telegraph", er glaube an eine Einigung: "Wenn wir in den nächsten Tagen genug Fortschritte erzielen, werde ich zu diesem entscheidenden Gipfel am 17. Oktober gehen und eine Vereinbarung abschließen, die die Interessen der Wirtschaft und der Bürger auf beiden Seiten des Ärmelkanals und auf beiden Seiten der Grenze in Irland schützt." Eine Verschiebung des Brexits lehnte er jedoch erneut ab.
Die EU-Seite ist viel skeptischer als Johnson und wartet immer noch auf konkrete Vorschläge aus London. "Ich glaube, wir haben alle Interesse an einer Einigung", sagte die französische Europa-Staatssekretärin Amélie de Montchalin am Rande eines EU-Treffens in Brüssel. "Wenn Großbritannien Vorschläge hat und sie vorträgt, dann sind wir bereit, sie uns anzuhören." Der belgische Außenminister Didier Reynders äußerte sich ähnlich.
Österreichs Europaminister Alexander Schallenberger meinte sogar: "Wenn Premierminister Johnson nicht mit etwas Neuem im Gepäck zum Gespräch und Besuch mit Juncker kommt, dann gibt es ehrlicherweise auf unserer Seite keinen Bedarf mehr, dann wird es einen Hard-Brexit geben. Die Briten müssen uns sagen, was sie brauchen, um das Parlament in London überzeugen zu können."
Vorteil für Bürger und Wirtschaft bei einem geregelten Austritt wäre die im Vertrag vorgesehene Übergangsfrist bis Ende 2020, in der sich zunächst praktisch nichts ändert. In der Zeit wollen beide Seiten ihre künftigen Beziehungen aushandeln. Doch obwohl die damalige Premierministerin Theresa May den Deal schon voriges Jahr mit der EU schloss, ist er vom britischen Parlament noch immer nicht ratifiziert. Er fiel drei Mal durch, unter anderem wegen des sogenannten Backstops für Irland.
Es geht um die Frage, wie trotz Brexits eine feste EU-Außengrenze zwischen Irland und dem britischen Nordirland vermieden werden kann. Denn eine erneute Teilung der Insel widerspräche dem Karfreitags-Friedensabkommen von 1998 und könnte auf der Insel Unruhen auslösen. Die EU verlangt, dass ganz Großbritannien notfalls in der EU-Zollunion bleiben soll, bis eine bessere Lösung gefunden wird. Johnson will diese Klausel streichen, weil Großbritannien sonst keine eigene Handelspolitik machen könnte. Er will alternative Lösungen. Wie sie aussehen sollen, ist unbekannt.
Viel Zeit bleibt Johnson nicht in Luxemburg, denn schon am Dienstag beschäftigt sich das oberste britische Gericht mit einem heiklen Brexit-Aspekt: Der Supreme Court beginnt dann mit der Anhörung zu der Frage, ob die von Johnson auferlegte fünfwöchige Zwangspause des Parlaments überhaupt rechtmäßig ist. Ein schottisches Gericht hatte die Schließung bis zum 14. Oktober für unrechtmäßig erklärt und Johnson vorgeworfen, die Abgeordneten kaltstellen zu wollen.
Angesichts der heftigen Brexit-Streitereien und auch Tricksereien haben viele Briten einer Umfrage zufolge kein großes Vertrauen mehr in ihr Parlament. 74 Prozent der Befragten glauben, dass dieses "nicht fit für das 21. Jahrhundert" ist. Etwa 80 Prozent halten der ComRes-Umfrage zufolge Reformen für dringend notwendig.
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LUXEMBURG/LONDON (dpa-AFX)
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