Virtuelle HV schränkt Aktionärsrechte ein
Die Jahreshauptversammlung von Aktiengesellschaften ist eine der wenigen Möglichkeiten für Anteilseigner, das Management und den Aufsichtsrat persönlich zu erleben. Doch nicht alle Unternehmen kehren zur Präsenz-HV zurück.
von Henrik Pontzen, Gastautor von Euro am Sonntag
Die Erinnerung ist noch lebendig, aber sie droht zu verblassen. Was waren das doch für Jahre, in denen auf Hauptversammlungen großer Aktiengesellschaften bei Butterbrezeln gestritten und diskutiert wurde: über Personalfragen, über Vergütung, über den Kurs des Unternehmens.
Mittlerweile gehen wir in die dritte von Corona geprägte HV-Saison. Obwohl sich die pandemische Lage normalisiert, bleiben Aktionärstreffen im Präsenzformat wie unlängst bei der Deutschen Telekom die absolute Ausnahme. Die Regel: erhebliche Einschränkungen, etwa beim Rede- und Fragerecht. Es fehlt die Generaldebatte, es fehlen die Gespräche im Umfeld des Unternehmens, die den Investoren ein Gefühl für die Stimmung im Konzern vermitteln, es fehlen große Dispute.
Mit der Notstandsgesetzgebung im Zusammenhang mit Corona wurden die Rechte der Aktionäre drastisch eingeschränkt. Das ist grundsätzlich ärgerlich. Aber es ist umso ärgerlicher, als wir uns in einer Zeit befinden, in der in den Management-Etagen wegweisende Entscheidungen gefällt werden müssen. Das sollte nicht unter dem Ausschluss der Eigentümer, also der Aktionäre, geschehen.
Denn: Wer jetzt nicht handelt, der könnte buchstäblich aus der Zeit fallen. Die Transformation der Wirtschaft, der Weg in eine unabhängigere Energieversorgung, zunehmender Verzicht auf fossile Rohstoffe und der Kampf gegen die Folgen des Klimawandels erfordern von den Unternehmen ein erhebliches Maß an Flexibilität. Diese Transformation sollte nicht nur, aber auch in der Hauptversammlung eingefordert werden können. Das ist der Ort, an dem noch über Vergütungspläne und damit über die Anreize für das Management diskutiert wird, das Unternehmen entsprechend zu führen. Und das sollte nicht nur bei den ohnehin schon grünen Adressen und den Klassenbesten erfolgen. Sondern darüber sollte vor allem mit den Unternehmen mit Aufholpotenzial gesprochen werden, die noch nicht nachhaltig sind, es aber werden wollen. Aus einer ökologischen Perspektive schlummern dort die größten Potenziale. Wir grenzen die globale Erwärmung nicht ein, wenn wir die grünen Unternehmen optimieren, sondern wenn wir die braunen Unternehmen grün machen.
Aus der Sicht eines Investors stellt es sich kaum anders dar. Besonders interessant sind derzeit nicht unbedingt die Unternehmen, die heute schon sehr gut aufgestellt sind und ein hochwertiges, nachhaltiges und damit vergleichsweise krisenresistentes Geschäftsmodell haben. Sie sind oft schon so hoch bewertet, dass eine Neuanlage mitunter wenig abwirft. Spannend sind vielmehr diejenigen Unternehmen, die im Wandel begriffen sind und bereit für eine Transformation in Richtung Nachhaltigkeit.
Präsenz-HV als Forum für Dialoge mit dem Management
Es sind die, die sich verändern wollen und das auch können, und die möglicherweise schon erste Schritte unternommen haben. Denn der Kapitalmarkt belegt Unternehmen mit einem Abschlag, die nicht nachhaltig wirtschaften, die rückständig sind in Bezug auf ökologische, aber auch auf soziale Mängel oder problembehaftet in der Unternehmensführung. Dieser Abschlag wird sich auflösen, wenn der jeweilige Konzern sich schrittweise seinem nachhaltigen Ideal nähert.
Mit anderen Worten: Der Aktienkurs steigt nicht nur im Zusammenhang mit Unternehmensgewinnen, sondern auch dann, wenn der Abschlag für mangelnde Nachhaltigkeit aufgelöst wird. Aktive und nachhaltige Investoren sollten bei der Analyse von Investmentzielen auch den Aufholbedarf in Sachen ESG-Faktoren im Blick haben - vorausgesetzt, der Wille und die Mittel sind vorhanden, diese Lücke zu schließen.
Um das auszuloten, ist die Hauptversammlung ein idealer Ort. Klar, die meisten Informationen bekommt man auch über die Berichterstattung der Unternehmen und über die Dialoge mit dem Management, die über das Jahr verteilt stattfinden. Aber die Präsenz-HV als Forum bietet die Möglichkeit für vertiefte Einblicke, die sonst kaum zu gewinnen sind. Zudem können sich Aufsichtsrat und Vorstand in einer Halle voller Aktionäre kaum wegducken.
Im August endet die Corona-Notstandsgesetzgebung. Ein Entwurf für die künftige Ausgestaltung von HVs liegt bereits vor. Sollte dieser in der Form als Gesetz übernommen werden, dann hätten die Unternehmen letztendlich die Wahl, ob sie die HV weiterhin im virtuellen Raum veranstalten wollen. Sollten die Konzerne davon Gebrauch machen, dann wäre das für alle aktiven Investoren eine schlechte Nachricht.
Henrik Pontzen
Leiter ESG im Portfoliomanagement bei Union Investment
Pontzen studierte Philosophie, Wirtschaftswissenschaften und Geschichte, begann seine Berufslaufbahn als Unternehmensberater in der Finanzindustrie. Er ist Vorstand der DVFA (Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management) und leitet seit 2019 die Abteilung ESG im Portfoliomanagement von Union Investment.
Union Investment ist die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken. Mit aktuell rund 450 Milliarden Euro verwaltetem Vermögen ist sie einer der größten deutschen Vermögensverwalter für private und institutionelle Anleger.
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Bildquellen: kaleidomania.de, Axel Gaube/Union Investment